Montag, Oktober 7

Rutschende Hänge, eingestürzte Brücken, überschwemmte Strassen: Die Bilder des Unwetter-Sommers 2024 schockieren. Doch die Bündner verfallen nicht in Panik. Stattdessen sind sie Meister in der Katastrophenabwehr. Von ihnen wird die Schweiz lernen müssen.

An der Grenze zu Italien klafft ein Loch wie eine Schnittwunde. Vom Malojapass kommend, führen Serpentinen tiefer und tiefer in ein Schattenreich namens Bergell. Hier, im Osten der Schweizer Alpen, blicken die Dreitausender wie Gefängniswärter auf das schmale Tal. Mitten in der Talenge rattert eine Grossbaustelle am Flussbett. Am Rande duckt sich eine Gruppe Schieferdächer im Schatten der Felswände. Das ist Bondo.

Am 23. August 2017 um 9 Uhr 30 lösten sich von einem Berggipfel oberhalb dieses Dorfes Felsbrocken und donnerten talwärts. Auf verwackelten Videos von Wanderern, die den Bergsturz von einer Berghütte aus filmten, sieht man, wie sich 3 Millionen Kubikmeter Felsmaterial ins Tal stürzen, als würde sich ein Ozean über den Horizont ausleeren. Das Volumen des Bergsturzes fasste etwa 3000 Einfamilienhäuser. Die Gesteinsmassen trafen mit aller Wucht auf den darunterliegenden Gletscher.

Die Mischung aus Eis, Wasser und Fels ergoss sich in Form eines Murgangs von mehreren hunderttausend Kubikmetern über das Tal und begrub zwölf Häuser und acht Bergsteiger für immer unter sich.

Doch wenn ein Unglück nicht gerade die Grössenordnung eines Kriegs oder eines verheerenden Terroranschlags erreicht, verschwindet die Erinnerung daran bei den meisten Menschen innerhalb von sieben Jahren. Von diesem Wert geht die Sozialpsychologie aus.

Starkregen, Hochwasser, Murgänge, evakuierte Ortschaften, abgeschnittene Bergtäler, eingestürzte Autobahnbrücken: All dies wird langsam in Vergessenheit geraten. Der Unwetter-Sommer 2024 wird aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden – wie die Katastrophe von Bondo vor sieben Jahren.

Wer die Katastrophe aber mit eigenen Augen gesehen hat, wird sie so schnell nicht vergessen. So wie Reto Müller. Der pensionierte Lehrer hört nicht mehr gut, auch seine Sehkraft hat nachgelassen, aber sein Geist ist wach wie damals, als er ein Jahr vor dem Bergsturz die Gemeinde anrief und sagte: Ich will eine Schutzmauer für mein Haus bauen.

Heute steht er blinzelnd im grellen Licht vor einem Steinwall, mehrere Meter höher und dicker, als er selbst ihn damals plante. Müller hatte sich schon immer vor dem Berggipfel namens Piz Cengalo gefürchtet, man wusste schon vor dem Unglück, dass der Granit brüchig war und irgendwann abbrechen würde. So eine Mauer, wie sie jetzt, nach der Katastrophe, von den Behörden aufgestellt wurde, wollte Müller selbst bauen, um sich vor einem Murgang oder der Flutung der Bondasca zu schützen. Er hatte schon die Pläne parat und die Finanzierung aus seinen Ersparnissen war auch gesichert. Doch die Kantonsvertreter, die zu Besuch kamen, um sich die Situation selbst anzusehen, sagten: Das geht nicht, dass hier einer seine Privatmauer baut. Und überhaupt ist der Ort nicht in einer Bauzone. Das war 2016.

Vermutlich haben sie damals gelacht über ihn in Bondo, das weiss man ja nie so richtig, weil nach aussen hin sind die Leute hier äusserst freundlich, sehr zugänglich und sicher auch hilfsbereit. Und darum ist nicht klar, was die Nachbarn dachten, als das Ehepaar Müller im Frühsommer 2017 vorsorglich ihren Haushalt zusammenpackte und ins höher gelegene Bergdorf Soglio zog.

Die Oberengadiner sprechen manchmal verächtlich vom «Schattenloch» Bondo. Doch am Tag des Unglücks leuchtete ein schmaler Fetzen blauen Himmels über Bondo, und die Sonne wärmte die Dächer des historischen Dorfkerns.

Reto Müller erinnert sich deutlich an einen Gemeindemitarbeiter, der mit seinem Auto hupend durch die Strassen gefahren ist, um die verbliebenen Bewohner im letzten Moment vor der tödlichen Schlammlawine zu warnen. Seine deutlichste Erinnerung aber ist der erste Anblick seines Hauses nach der Katastrophe: Windschief steckte es zwei Meter tief im Schlamm. Müller hatte es erst ein paar Jahre zuvor gekauft. Jetzt war es abbruchreif. Aber sein Verlust ist nicht das, was ihn heute noch bewegt. Es ist das Schicksal, das es im letzten Moment gut meinte mit der Gemeinde, die immer etwas im Schatten des Touristenlieblings Oberengadin gestanden war: Kein Dorfbewohner verlor sein Leben. «Auf wundersame Weise sind nicht mehr Menschen gestorben», sagt Müller. Und für dieses Wunder sei er dankbar.

Der Berg kommt wieder, es ist nur eine Frage der Zeit: Reto Müller und seine Frau Annemieke Müller-Buob.

Dort, wo einmal Müllers Haus stand, knattert jetzt eine Grossbaustelle. Aus den Granitblöcken, die ins Tal stürzten, wird hier eine mächtige Schutzmauer gebaut. Sie ist Teil eines der grössten Schutzbauprojekte, die das Land je gesehen hat. Nicht nur die Einwohner der Gemeinde Bondo, sondern auch die durch das Tal verlaufende Kantonsstrasse Richtung Italien soll damit gesichert werden. Der Wiederaufbau der Infrastrukturen, die Erstellung des Auffangbeckens, der Dämme, Brücke und Strassen dauerten all die Jahre an und sollen im September 2025 abgeschlossen werden.

Wenn Müller in diesen Tagen Nachrichten schaut und von Überschwemmungen und Murgängen in anderen Berggebieten erfährt, wird ihm unbehaglich zumute. Es beschleicht ihn das Gefühl, das ihm seit Jahren vertraut ist: Die Vorahnung, das Schlimmste noch nicht gesehen zu haben.

Wahrscheinlich stimmt Müllers Bauchgefühl.

«4 Millionen Kubikmeter sind noch da oben», sagt Fernando Giovanoli, Präsident der Gemeinde Bregaglia, zu der Bondo gehört. Er steht etwa drei Kilometer entfernt von Müllers Haus, etwa dort, wo 2017 sich die Mure stockwerkhoch auf einer Breite von über 100 Metern aufbäumte. Heute schwingt sich hier eine nigelnagelneue Brücke in einem eleganten Bogen über die Bondasca. Giovanoli lehnt an die Brüstung und schaut in die Tiefe. Das neue, grössere Auffangbecken hat vor kurzem ein erstes Mal seinen Zweck erfüllt, als sich erneut 50 000 Kubikmeter Geröll und Schlamm das Bondasca-Tal herunterwälzten. Nach dem Murgang waren Gemeindearbeiter tagelang mit der Räumung des Beckens beschäftigt – trotzdem hätten nicht einmal die Regionalmedien darüber berichtet, sagt Giovanoli. Verglichen mit dem epochalen Bergsturz von 2017 sah dieser Zwischenfall wie ein umgekipptes Glas Wasser aus.

Als sich die Katastrophe ereignete, war Giovanoli zwar noch nicht Gemeindepräsident, aber der ausgebildete Architekt arbeitete in der Nachbargemeinde. Er hat die monatelangen Aufräumarbeiten und schliesslich die Entstehung der neuen Schutzbauten und Brücken aus nächster Nähe beobachtet. Bei jedem grossen Gewitter, sagt er, komme ihm in den Sinn, dass die Gefahr nicht gebannt sei. «Ein erneuter Bergsturz wird wieder auf den Gletscher treffen, und was danach passiert ist, hat man 2017 gesehen.»

Die 4 Millionen Kubikmeter instabiler Fels, die noch oben am Piz Cengalo hängen, werden mit einem Radarmessgerät überwacht, das Bilder nach Chur liefert. Dort werden sie jeden Tag von Spezialisten ausgewertet. Bereits Verschiebungen von wenigen Millimetern im Gestein können frühzeitig erkannt werden. Eins ist sicher, das hat die Forschung gezeigt: Wenn der Piz Cengalo wieder kommt, dann nicht Stein für Stein, sondern ruckartig, in einem riesigen, gnadenlosen Sturz.

Bondo hat sich für die nächsten dreihundert Jahre abgesichert: Der Gemeindepräsident Giovanoli im neuen Auffangbecken.

Wer sich angesichts der verheerenden Unwetter der letzten Tage und Wochen fragt, wie Menschen auch in Zukunft in abgelegenen Orten wie dem Misox oder dem Bavonatal im Tessin wohnen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen können, findet eine mögliche Antwort in Bondo. An keinem anderen Ort in den Bergregionen schützt eine derart gigantische Vorrichtung so wenige Einwohner vor den Verheerungen einer Naturkatastrophe.

Für Diskussionen über die Verhältnismässigkeit hat Giovanoli nicht viel übrig. «Nicht nur das Dorf hier wird geschützt, sondern Infrastrukturen, die für die ganze Schweiz relevant sind», sagt Giovanoli. Die Kantonsstrasse etwa ist eine wichtige Nord-Süd-Achse, nicht nur für Grenzgänger aus Italien, die in der Schweiz arbeiten, sondern auch für Touristen, die im Engadin Ferien machen. Ausserdem stünden auf dem Gebiet grosse Kraftwerke der Elektrizitätswerke der Stadt Zürich. Bis zu 20 Prozent des aus Wasserkraft produzierten Stroms für die Stadt Zürich stammten aus dem Bergell, sagt Giovanoli.

Bondo hat sich für die nächsten dreihundert Jahre gegen die Katastrophe abgesichert. Mit diesem Wert rechneten die Ingenieure, als sie die Schutzbauten planten. Die Brücken wurden höher gebaut, das Auffangbecken auf 300 000 Kubikmeter vergrössert, was dem Volumen von etwa 300 Olympia-Schwimmbecken entspricht. Aus den Felsbrocken, die vom Piz Cengalo abbrechen, wurden ein 4 Meter hoher Damm und Schutzmauern für die Siedlungen gebaut.

50 Millionen Franken kostete das Bollwerk – 12 Millionen mehr als ursprünglich budgetiert. Es schützt um die zweihundert Einwohner in der Gefahrenzone von Bondo und der umliegenden Dörfer. Das meiste davon haben Bund und Kantone bezahlt. Doch bewältigen konnte Bondo die Kosten auch dank 15 Millionen Franken Spendengeldern der Glückskette. «Ohne dieses Geld hätten wir das nicht geschafft», sagt Giovanoli.

Welchen Anteil der Klimawandel am Bergsturz in Bondo hatte, wird wohl nie eindeutig geklärt sein. Das Gebiet des Piz Cengalo ist Teil einer Verwerfungszone und besteht aus eher jungem Bergeller Granit – Felsstürze gehören seit Menschengedenken zu dieser Gegend. Andererseits ist laut Geologen sicher, dass der Rückgang des Permafrosts in den letzten Jahren zur Instabilität des darunterliegenden Gesteins geführt hat.

Ganz generell sagen Experten für Naturgefahren, dass sich Ereignisse wie Hangrutsche, Murgänge und Hochwasser aufgrund des Klimawandels in Zukunft mehren werden. Dass es zu weiteren Katastrophen mit Toten kommen wird, ist alleine deshalb wahrscheinlich, weil der Alpenraum noch nie so dicht bebaut war wie heute und weil fast Tag und Nacht irgendwer in den Bergen seine Freizeit verbringt: Mountainbike fährt, den Berg erklimmt, den Bergbächen entlang wandert oder mit dem Auto auf exponierten Strassen unterwegs ist.

50 Millionen Franken für den Schutz eines einzigen Bergtals, das schon bald von der nächsten Katastrophe heimgesucht werden könnte: Sieht so die Zukunft der Schweizer Bergregionen aus? Wird die Gesellschaft diesen Aufwand auf sich nehmen, um auch in Zukunft in so entlegenen Regionen wie dem Bavonatal im Tessin zu wohnen, arbeiten oder Ferien zu machen? Oder muss man ernsthaft über einen kontrollierten Rückzug aus den Berggebieten nachdenken?

Das klingt nach Geschwätz überreizter Städter – jedenfalls in den Ohren von eingefleischten Berglern. Sie geraten nicht so leicht in Panik beim Anblick von kollabierten Brücken und im Hochwasser treibenden Autos. «Naturereignisse passieren, sie sind unvermeidlich, aber letztlich sind sie ein kalkulierbares Risiko», sagt Fabian Dolf, der die Schutzbau-Projekte im Kantone Graubünden überwacht. Die Rede vom Rückzug der Menschen aus den Bergtälern ist für ihn eine theoretische Debatte, die nicht weiter von seinem Arbeitsalltag entfernt sein könnte. Klar komme es in äusserst seltenen Fällen zu Umsiedlungen, weil die Menschen an Orten gebaut hatten, wo die Risiken hoch und die Nutzen-Kosten-Abwägungen für den Bau von Schutzbauwerken sehr schlecht seien. Aber nicht immer, sagt Dolf, sei Umsiedlung die beste Massnahme gegen Naturgefahren – und schon gar nicht immer die kostengünstigste.

Nullrisiko gibt es nicht: Fabian Dolf, Produktleiter Schutzbauten, (links) und der Regionalförster Peter Ebneter (rechts).

Mit seinem Kollegen, dem Regionalforstingenieur Peter Ebneter, steht er am Fusse eines 4 Meter hohen Damms, der das darunterliegende Tal der Gemeinde Klosters vor Stein- und Blockschlag schützt. Sie beide sind ausgebildete Fachleute für Naturgefahren im Kanton Graubünden. Heute treffen sie sich, um am Beispiel eines laufenden Projekts zu erklären, wie so eine Kosten-Nutzen-Abwägung aussehen kann: Wie jede Scheune, jede Bahnstrecke und jedes Menschenleben ein Preisetikett erhält. Die beiden Männer reden von «individuellen Todesfallrisiken», von «Gefahrenkarten» und «Handlungsbedarf». Es ist ein Spiel mit Variablen der Risikotoleranz: Wie häufig nehmen wir Zerstörungen in Kauf? Wie wahrscheinlich sind Todesfälle?

Die Frage, ob sich ein solches Projekt im Wert von insgesamt 4,6 Millionen Franken lohnt, war Gegenstand eines langwierigen Prozesses. Bis die Bagger auffahren, vergehen meistens eher Jahre als Monate – vor allem, wenn neben Kanton und Gemeinde auch noch der Bahnbetreiber und der Bund involviert sind. Und dann gibt es ja noch die Anwohner, deren Interessen man berücksichtigen muss. Der Besitzer der Schreinerei hatte Bedenken. Was, wenn der schwere Schutzdamm so stark auf den Boden drückt, dass die Rückwand seines Hauses Risse bekommt? Ein Geologe wurde hinzugezogen, um den Baugrund zu untersuchen und bestätigte die Befürchtungen des Handwerkers. Die Rückwand der Schreinerei wurde mit einem Betonriegel verstärkt.

Ausgelöst wurde das Projekt in Klosters im Jahr 2013, als klar wurde, dass der bestehende Schutzwald zu schwach geworden war, um die darunterliegende Infrastruktur – eine Schreinerei und mehrere Häuser, die Nationalstrasse und die Bahnlinie – vor Steinschlag zu schützen. Von welcher Gefahr man ausgehen sollte (also der Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit und Heftigkeit es zu einem Unglück kommen könnte), darüber waren sich die vier Interessenvertreter lange uneinig. Die Regel lautet: Wer mehr Risiko bringt, muss auch mehr bezahlen.

Die Daten für diese Diskussion bereitzustellen, das war Aufgabe von Fabian Dolf und Peter Ebneter. Als Hilfestellung diente ihnen eine Gefahrenkarte, die zeigt, welche Infrastruktur in einem Ereignisfall zerstört werden könnte. Vor über hundert Jahren, davon erzählt eine Datenbank, die sich Ereigniskataster nennt, wurde hier einmal eine Postkutsche von einem Felsbrocken zerstört. Ein Mensch kam dabei ums Leben. Danach kam es immer wieder zu Steinschlägen und zuletzt fiel ein Baumstamm auf die Fahrbahn der Nationalstrasse – zu Schaden kam niemand.

Um Felsstürzen ihre zerstörerische Wucht zu nehmen, wurden hier in den letzten zwei Jahren Steinschlagschutznetze und flexible Barrieren, die von Seilen zurückgehalten werden, gebaut. Die Barrieren müssen die tödliche Energie von steil fallenden Felsbrocken vernichten können. Auf dem neu erstellten Damm wachsen inzwischen Mohnblumen und weisses Leimkraut. Vom Tal aus betrachtet sieht alles so aus, als hätte die Natur den Hang fest im Griff. Es ist die perfekte Illusion einer natürlichen Landschaft – ein Stück Natur, von dem keine Gefahr mehr ausgeht. Oder fast keine, denn Nullrisiko, das stellen die beiden Gefahren-Experten klar, gibt es nicht.

Die kollektive Vergesslichkeit begünstigt Katastrophen: Bilder aus dem Bergell.

Im Vergleich sind die Bündner immer ein wenig schneller und agiler bei der Behebung von Schäden durch Naturereignisse. Graubünden hat anderen Gebirgskantonen einiges voraus, wenn es um die Planung und Durchführung von Schutzmassnahmen geht. 30 bis 40 solcher Projekte entstehen hier jedes Jahr. Zeitgleich laufen jeweils Arbeiten zur Behebung von Schäden oder Mängeln an weiteren 30 Schutzbauten.

Weil in bewohnten Gebieten Hänge immer häufiger nach extremen Wetterereignissen rutschen und Gestein unter dem auftauenden Permafrost instabil wird, werden in Zukunft mehr solcher Schutzbauten nötig sein.

«Die Kombination aus wachsenden Naturgefahren und steigender Bevölkerungszahl im Alpenraum erhöht die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen», sagt Christoph Graf. Der Wissenschafter forscht an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft und ist Präsident der Schweizer Fachleute Naturgefahren. Graf geht davon aus, dass der Bedarf an qualifiziertem Personal, das Risiken der sich verändernden Umwelt richtig abschätzen kann, künftig steigen wird.

Um vorauszusagen, wo wann etwas passieren könnte, müsse man sich die Geschichte eines Ortes genau ansehen. Allerdings reiche da der Ereigniskataster nicht aus. «Wir sind leider immer noch nicht so gut bei der systematischen Erfassung von Naturereignissen», sagt Graf. Darum schaue man sich auch die sogenannten stummen Zeugen einer Landschaft an: die Geländeform etwa, Orte, wo ein Fluss oder Bergbach abgelenkt wurde durch ein vergangenes Ereignis, in der Landschaft herumliegende Sturzblöcke oder Abbruchstellen am Fels, die wie alte Narben den Berg kennzeichnen.

Ja, es könne der Eindruck entstehen, dass sich gerade besonders viel Schlimmes in den Schweizer Alpen ereigne, sagt Graf. Doch dieser Eindruck habe viel damit zu tun, dass die Bevölkerung Ereignisse vergessen habe, die früher zum Lebensalltag in den Bergen gehört hätten.

Auf eine regelrechte Schönwetterperiode weist etwa der Alpenforscher Werner Bätzing hin. In seinem Buch «Die Alpen» beschreibt er, wie zwischen dem Beginn des 20. Jahrhunderts und Ende der 1980er Jahre grosse Naturereignisse fast ganz ausgeblieben seien. Diese «Schönwetterperiode», schreibt Bätzing, würde heute fälschlicherweise als Massstab für Debatten über Risiken in den Bergen genommen. Zum selben Befund kommt auch der Berner Klimahistoriker Christian Pfister, der den Zeitraum «Katastrophenlücke» nannte und einen Zusammenhang herstellte zwischen dieser Lücke und dem verlorenen Risikobewusstsein der ansässigen Bevölkerung. Mit anderen Worten: Die kollektive Vergesslichkeit begünstigt Katastrophen.

Die Schweiz wird mit ihren Gefahrenzonen wieder leben lernen müssen, sagen Experten wie Bätzing. Diese Gesellschaft hat den Siedlungsraum im letzten Jahrhundert immer weiter ausgedehnt in die unberechenbare Wildnis von Gebieten, die man früher nur mit grösster Vorsicht betreten hätte. Nun muss sie die Konsequenzen daraus ziehen.

Dazu gehört, dass man sich aus sehr abgelegenen Gebieten, wo die Kosten für den Schutz der Bevölkerung den Nutzen bei weitem übersteigen, zurückzieht.

Doch das wird der Ausnahmefall bleiben, davon ist Naturgefahren-Fachmann Christoph Graf überzeugt. Zum Schluss weist er auf einen Irrtum hin, dem Bewohner des Schweizer Mittellandes oft aufsitzen, wenn sie auf die Bergwelt schauen: «Die wahren Risiken stecken in grossen Siedlungsräumen wie etwa Zürich.» Würde die Sihl nach dem Bruch der Staumauer des Sihlsees geflutet, sagt Graf, hätte das verheerende Folgen für die dortige Infrastruktur. Zum Glück aber, schiebt er sogleich nach, hätte man im Mittelland in den letzten knapp zwanzig Jahren besonders viel in den Hochwasserschutz investiert. Und ein Bergler würde ja nie behaupten, dass sich diese Kosten für den Schutz Zürichs nicht lohnen würden.

Was darf der Schutz kosten? Bilder durch ein Auffangnetz oberhalb der Kantonsstrasse in Klosters.

Exit mobile version