In der ukrainischen Hauptstadt wird erst auf den zweiten Blick klar: Der Krieg ist überall. Wie eine müde Bevölkerung weiterlebt, sich auf das Schlimmste vorbereitet und Zukunftspläne schmiedet.
Die Nacht ist laut in Kiew. Irgendwann, meist frühmorgens, holen uns die Sirenen immer aus dem Schlaf. Dann kommen die Kamikazedrohnen. Meist sehen wir sie nicht, aber wir hören sie. Der Motor der Shaheds klingt wie ein Töffli – ein Töffli am Himmel, was es noch unheimlicher macht. Dann rattert und knallt es, wenn die Flak-Panzer und die Maschinengewehre der Flugabwehr zu feuern beginnen. Sie schiessen viele Drohnen ab. Aber die Trümmer schlagen trotzdem irgendwo ein, verursachen Schäden.
Zehn Tage verbrachten wir im Kiewer Spätherbst. Wir erlebten eine Stadt, die nach über tausend Tagen Krieg müde ist von den ständigen Angriffen. Die Menschen sind dünnhäutig geworden, unruhiger, leichter genervt. Das ist der psychologische Effekt, den die Russen erreichen wollen. Und das war noch vor den massiven Bombardierungen von Mitte November, als sie nach Monaten erstmals wieder Raketen und Marschflugkörper einsetzten.
Wir haben uns gefragt, wie Männer, Frauen und Kinder unter ständiger Bedrohung in den Fabriken weiterarbeiten oder die Schule besuchen. «Alles ist normal. Ausser, dass gar nichts normal ist», sagt ein befreundeter Journalist, der mit seiner Familie in der Hauptstadt wohnt. Aber was heisst das im Alltag? Haben sich die Kiewerinnen und Kiewer mit dem Krieg arrangiert, oder ignorieren sie ihn? Wovor haben sie am meisten Angst? Sind sie mittlerweile sogar der Aufgabe nahe?
Hauptstadt im Krieg
Beim Kiewer Wahrzeichen, der Mutter-Heimat-Statue, ist der Krieg weit weg. Sie hat einen neuen, patriotischen Schild mit dem ukrainischen Dreizack bekommen, in den wir erstmals seit 2022 wieder hochklettern können. Offensichtlich macht sich auf 91 Metern über der Stadt niemand Sorgen um russische Luftangriffe. Hoch führt ein Lift, das letzte Drittel legen wir über eine schmale Leiter im Arm der Siegesgöttin zurück.
Unten, weit unten, stauen sich die Autos auf den breiten Strassen. Auch die Metro ist voll. Die Menschen hetzen durch die Station am Unabhängigkeitsplatz, eine Szene wie in jeder anderen Grossstadt. Dann kehrt der Krieg völlig unvermittelt zurück. Eine Frau beginnt oben an der Rolltreppe zu schreien: «Rettet eure Kinder, beendet den Kampf, bevor es zu spät ist! Er zerstört eure Seele!» Einige vorbeieilende Kiewerinnen und Kiewer schauen kurz auf, schütteln den Kopf. Dann blicken sie wieder auf ihre Mobiltelefone.
Die ausgeprägte Handy-Obsession der Ukrainer hat auch mit dem Krieg zu tun. Die Leute verfolgen auf dem Messenger-Dienst Telegram ständig die Warnungen vor Luftangriffen. Kanäle wie «Monitor» informieren in Echtzeit darüber, wie viele Drohnen und Raketen von wo auf Kiew zufliegen und wie viel Zeit bleibt, um sich in Sicherheit zu bringen. Vor dem Schlafengehen kann das überlebenswichtig sein – wenn die Gefahr, selbst gerade am falschen Ort zu stehen, in einer Drei-Millionen-Stadt auch gering bleibt.
Vor allem Frauen haben nach fast drei Jahren eine zuweilen fanatische Disziplin entwickelt. Das kann zu Streit in Beziehungen führen, weil die Männer eher dazu tendieren, Warnungen zu ignorieren und weiterzuschlafen.
Olha Perepelizina hat ein klares System. Sie schaut jeden Abend auf Telegram, was kommt: «Wenn es nur Drohnen sind, bleibe ich in der Wohnung. Sonst packe ich mir eine Notfalltasche und schlafe im Keller», erzählt uns die 29-Jährige.
Perepelizina weiss, dass Drohnen weniger Schaden anrichten und sie bei einem solchen Angriff vergleichsweise sicher ist. Sie schläft dann im Korridor ihrer Wohnung, weil sie dort immerhin zwei Wände gegen aussen schützen. Das ist eine Grundregel der Sicherheit, die in der Ukraine viele anwenden, besonders, wenn sie Kinder haben. Sie hoffen, dass keine der Drohnen mit einer Druckluftbombe ausgerüstet ist, die Russland seit Sommer vermehrt anwendet. Dann würden auch zwei Wände nicht helfen.
Wenn es draussen knallt, zündet die Marketingspezialistin eine Kerze an und trinkt ein Glas Prosecco. Das beruhigt die Nerven. Manchmal hört sie Musik oder organisiert eine spontane Party mit ihren engsten Freunden. An Schlaf ist in solchen Nächten kaum zu denken. «Ich bin immer sehr angespannt, wenn es Explosionen gibt», sagt sie. «Die Psyche erholt sich nach ein paar ruhigen Nächten.» Diese sind in Kiew momentan aber mehr als rar.
Seit Olha Perepelizina 2017 in die Hauptstadt gezogen ist, hat sich ihr Blick auf diese stark verändert. Sie wohnte vor Russlands Invasion in einer Dachwohnung, damals für sie der Gipfel des Luxus. Während der letzten drei Jahre ist sie mehrfach umgezogen, in Häuser mit einem Schutzbunker in unmittelbarer Nähe und einer geschützten Garage. Ihre grösste Angst ist, dass sie lebendig begraben werden könnte.
An den russischen Angriffen kann sie nichts ändern. Aber Perepelizina macht sich Gedanken darüber, wie ihr Land weniger verwundbar wird. Sie hat sich als Beraterin auf alternative Energien spezialisiert und setzt sich für die Verbreitung von Sonnenkollektoren ein. So werden die Haushalte unabhängiger vom nationalen Stromnetz, das während der Attacken der letzten drei Jahre immer wieder zusammengebrochen ist.
«Das Auf und Ab der Attacken ist wie eine Welle, auf der du reiten musst», sagt Perepelizina. Momentan wächst sie, nach einer eher ruhigen Zeit. Als absoluten Höhepunkt und als Zeit der tiefen Depression erlebte sie das Blackout von Dezember 2022. Damals ging mehrere Tage lang nichts mehr. Der Staat müsse alles tun, um den Kiewern eine solche Erfahrung zu ersparen.
Gleichzeitig weiss die junge Ukrainerin, dass die Luftverteidigung nicht stark genug ist, um alles zu schützen. Das Militär müsse die zentrale Infrastruktur bewahren, zur Not auch auf Kosten von Schäden an Wohnhäusern. «Die Behörden müssen die Bevölkerung dann aber warnen, das ist ihre Pflicht. Unsere Pflicht ist es, uns in Sicherheit zu bringen.»
Notfalltraining in der Brotfabrik
Wenn die Ukrainer über jene Dinge nachdenken, die für das Überleben unabdingbar sind, kommt Brot an erster Stelle. Für die Kornkammer Europas, die in ihrer Geschichte Hungersnöte mit Millionen von Toten erlebt hat, besitzt es eine ganz besondere symbolische Bedeutung. Die Kiewer Brotfabrik geniesst deshalb speziellen Schutz.
Das ausgedehnte Werksgelände liegt etwas ausserhalb der Stadt an einer unscheinbaren Seitenstrasse. Mehr als 300 Tonnen Brot produzieren die Angestellten hier jeden Tag an industriellen Teigmaschinen. Verpackt in Plastik, der in den Nationalfarben Gelb und Blau bedruckt ist, geht das Grundnahrungsmittel ins ganze Land. Weil das so wichtig ist, sind die meisten Arbeiter vom Militärdienst ausgenommen – ein Privileg, das in der Ukraine nur ganz wenige geniessen.
Doch die Fabrik ist gefährdet. Vor wenigen Monaten schlug eine russische Rakete ganz in der Nähe ein. 2022 legte eine Attacke auf das Unterwerk gar die Produktion kurzzeitig lahm. «Jeden Tag sterben in der Ukraine Leute. Darum müssen wir vorbereitet sein», sagt Hennadi Tschernischow. An diesem Novembertag übt der für Arbeitssicherheit Zuständige bei Kijiwchlib mit den Angestellten für den Notfall.
Tschernischow ist ein gedrungener ehemaliger Berufssoldat mit einem weissen Schnurrbart. Nun hat sich der 59-Jährige in blauer Arbeitskleidung und einem schwarzen Lederhut vor dem Werkstor aufgestellt und rapportiert uns zackig den Ablauf der Übung. «Das Szenario ist der Einschlag einer Drohne», sagt Tschernischow. «Am Morgen haben wir Brände gelöscht und Verletzte gerettet. Nun geht es um taktische Medizin.»
Vor einem mit Beton verstärkten Abgang im Hof haben sich dreissig Männer und Frauen versammelt. Sie kommen von der Mittagspause, einige rauchen ihre Zigarette fertig, bevor sie in den unterirdischen Bunker steigen. Hektik herrscht keine. Eine schwere Tür führt in einen grossen Raum mit grün und weiss gestrichenen Wänden. Auch Kajütenbetten, WC und einen Notfalltank mit Wasser gibt es.
Zwei Veteranen der Dritten Sturmbrigade erklären den Zivilisten, wie sie Verwundete versorgen müssen. Der Mann mit dem Kampfnamen Irlandjez führt durch die fünf Schritte und demonstriert diese gleich an seinem Kameraden Bili. Die Checkliste umfasst starke Blutungen, Luftröhre, Atmung, Kreislauf und Unterkühlung. Beide wissen, wovon sie reden: Sie waren an der Front, wurden schwer verwundet. Nun geben sie ihr Wissen weiter, weil sie nicht mehr kämpfen können.
Die Angestellten der Brotfabrik hören konzentriert zu. In der Hand halten sie eine Aderpresse. Aber sie drehen lediglich daran herum, während Irlandjez zeigt, wie er damit Bilis Bein abbinden würde, um den Blutfluss zu stoppen. Frontalunterricht statt angewandte Praxis: Das passt zu dem tiefen Graben, der die Realität der Front vom Leben im Hinterland von Kiew trennt.
Auch der Sicherheitsverantwortliche Tschernischow gibt zu, dass hier eine Schnellbleiche stattfindet: «Wir können bei der Produktion schlicht nicht länger auf die Leute verzichten.» Es ist ein Kompromiss, den die Verantwortlichen machen zwischen wirtschaftlichem Überleben und Sicherheit. Wer mehr wissen will, kann gratis längere Kurse besuchen. Dort lernen die Kiewerinnen und Kiewer auch schiessen und Drohnen fliegen.
Die Arbeiter der Brotfabrik scheint der Krieg aber eher aus der Ferne zu interessieren. Fragen stellen sie erst, als Bili seine Verwundung erwähnt. Er schildert detailliert, wie er bei voller Geschwindigkeit aus dem Auto springen musste, weil es von einem russischen Geschoss getroffen wurde. «In dem Moment fühlte ich mich wie ein Rambo», erinnert sich der Hüne.
Doch statt eine Heldengeschichte zu erzählen, warnt er das Publikum vor der Gefahr, bei einer Verwundung vor lauter Adrenalin völlig die Orientierung zu verlieren. «Ich irrte eine Stunde lang über das Schlachtfeld, bevor mich meine Kameraden fanden.» Sein Fuss ist bis heute verbunden. Ganz wie früher werde der nicht mehr. Aber es gehe schon besser, sagt Bili. Dann ist die Lektion fertig.
Tschernischow überreicht den beiden Veteranen zum Dank je eine Tasche mit Brot aus eigener Produktion. Es fühlt sich an wie ein altes ukrainisches Ritual.
Ein Gepard an der Stadtgrenze
Für die Einheiten der Kiewer Luftverteidigung sind die russischen Angriffe Alltag. Sie halten Nacht für Nacht Ausschau nach Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern. Am späten Nachmittag fahren wir durch ein Aussenquartier, passieren eine Industrieanlage und einen Checkpoint. Als wir in einem Wäldchen um die Ecke biegen, steht ein Gepard vor uns. So heisst der sogenannte Flugabwehrkanonenpanzer aus Deutschland, der für die Ukrainer grosse Bedeutung hat.
Vor dem Gepard haben sich drei Soldaten mit verhüllten Gesichtern aufgestellt. Der Kommandant heisst Hrihori, aus Sicherheitsgründen nennt er nur seinen Vornamen. Vor 2022 war der 42-Jährige Bauarbeiter. Über Luftverteidigung wusste er nichts. Dann bildete ihn die Bundeswehr in Deutschland aus. Eigentlich sei der Panzer recht leicht zu bedienen, findet er. «Aber wir Ukrainer lernen auch besonders schnell.»
Der Gepard ist für die Verteidigung so wichtig, weil er treffsicher, vergleichsweise modern und doch billig im Einsatz ist. Hrihori und seine beiden Kameraden im Flak-Panzer stellen dabei nur eine Einheit von Hunderten, die Kiew schützen: Je nach Bedrohungslage kommen das Patriot-System, Iris-T-Flugabwehrraketen, Gepard-Panzer oder Pick-up-Trucks mit schweren Browning-Maschinengewehren und Leuchtscheinwerfern zum Einsatz.
Alle haben Vor- und Nachteile. Der Vorteil der Geländewagen ist, dass es viele von ihnen gibt und Maschinengewehre mit Munition leicht zu besorgen sind. Sie brauchen im Schnitt aber 50 Schuss, um auch nur eine langsam fliegende Drohne zu zerstören. Westliche Verteidigungssysteme wie die amerikanischen Patriots haben dagegen wenig Mühe, selbst die modernsten russischen Flugkörper abzuschiessen. Aber sie sind selten, und jede Abwehrrakete kostet mehrere hunderttausend Franken. Der Nachschub bleibt stets prekär.
«Unser Gepard holt ausser ballistischen Raketen alles vom Himmel», sagt aber Hrihori, der Kommandant des Flak-Panzers. Sein Team hat seit 2022 Dutzende von russischen Drohnen und Raketen abgeschossen. Wenn der Luftalarm beginnt, verlassen die drei Soldaten den Unterstand im Wäldchen, wo sie sitzen und sich an einem kleinen Feuer wärmen. Sie hüpfen in den Gepard, schalten die elektronischen Systeme ein.
Hinter der Dachluke beginnt sich ein Radargerät zu drehen. Wenn ein feindlicher Flugkörper am Himmel auftaucht, leuchtet ein grüner Punkt auf dem Display auf. Dann macht Leontitsch die beiden 35-Millimeter-Kanonen links und rechts vom Turm bereit. «Ich erfasse das Ziel und beginne zu schiessen», sagt der 31-Jährige. Er bewegt die Kanonenrohre ruckartig nach links, nach rechts, dann senkrecht in Richtung Himmel.
Hrihori zeigt ein Video, auf dem seine Crew einen Marschflugkörper vom Himmel holt. Dieser landet mit einer lauten Explosion im Fluss Dnipro. Aufgenommen hat es ein Kamerad Anfang Juli, als russische Angriffe in Kiew 33 Menschen töteten, unter ihnen auch mehrere Personen im Kinderspital Ochmatdit. Die Heftigkeit der Attacke überwältigte die Luftverteidigung. Wenigstens der Gepard, so scheint uns Hrihori sagen zu wollen, tat etwas dagegen.
Lieber erzählen die Männer von ihren Erfolgen. So berichtet der Kanonier stolz, wie er eine Shahed-Drohne abschoss, nur 150 Meter vor dem Gepard. Das Wrack hat Leontitsch bei sich im Auto. Kriegsbeute. Am Schluss des Besuchs nimmt er uns zur Seite. «Wollt ihr es kaufen?», fragt er uns verschwörerisch. «Kostet 1000 Dollar.» Unser Übersetzer schreibt seine Nummer auf. Er kennt einen Sammler.
Trotz ihrer Bravade wirken die Männer besorgt. Sie erleben seit Wochen, wie die Russen ihre Angriffe ständig verstärken. Im Oktober fliegen die Drohnen nicht nur praktisch jede Nacht gegen Kiew. Moskau probiert auch ständig neue Taktiken aus. Die unbemannten Flugobjekte bleiben ungewöhnlich tief, kommen aus verschiedenen Richtungen, manche ohne Gefechtsköpfe, um die Verteidiger abzulenken.
Hrihori und seinen Kameraden ist klar, was das bedeutet: Russland will Schwachstellen entdecken und Informationen darüber sammeln, was die ukrainischen Radare sehen. Einige Stunden nach unserem Treffen fliegen Dutzende von Drohnen in Richtung Kiew. Eine fällt auf ein Wohnhaus. In anderen Quartieren schlagen Trümmer in eine Autowerkstatt und ein Hochhaus ein. Eine Person wird verletzt. Eine gewöhnliche Nacht in Kiew nach tausend Tagen Krieg.
Auch für Hrihori sind solche mittelschweren Angriffe Alltag. Doch er glaubt nicht, dass es so ruhig bleibt. «Wir erwarten bald den grossen Schlag.» Er vermutet, dass die Russen ihre Raketen und Marschflugkörper für den Winter aufsparen, um die Ukraine umso härter zu attackieren. Er wird recht behalten. Mitte November, eine Woche nach unserem Gespräch, beschiessen sie mit 210 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen das ganze Land.
Luftalarm im Gymnasium
Nicht nur bei solchen Grossangriffen sind die Hauptstädter gezwungen, stundenlang in ihren Wohnungen auszuharren. Jeder Luftalarm bedeutet Verspätungen, Wartezeiten, Staus. Für das Lyzeum Nummer 241 im Stadtteil Holosijiw heisst dies, dass nur ein Teil der Schüler morgens pünktlich kommt. Kurz nach neun hasten immer noch Gruppen durch die Eingangstür. Die erste Stunde haben sie verpasst.
Das Gymnasium ist eines der besten in Kiew, die Jugendlichen kommen aus allen Ecken der Stadt. Das Gebäude ist frisch renoviert, in den Gängen stehen Pingpongtische. Statt einer Glocke erklingt sanfte Gitarrenmusik, wenn die Lektion zu Ende ist. Gerade sind wir im Büro der Direktorin abgesessen, als plötzlich die Sirene des Luftalarms ins Gebäude dringt und die angenehme Morgenstimmung zerstört.
Lehrer und Schüler gehen in Richtung Schutzkeller, zunächst ohne Hast. Doch als kurz nacheinander mehrere Explosionen zu hören sind, werden ihre Bewegungen hektischer. «Schneller, lauft!», ruft eine Lehrerin. Auf der Treppe in den Bunker kommt es zu einem Stau. Dann sind alle unten. Elf Minuten dauert das im Ganzen.
Es sind über tausend Menschen, die sich nun im Schutzkeller drängen. Die Kinder reden laut vor Aufregung, einige schreien. Es dauert eine Weile, bis Ruhe einkehrt. Im Schutzraum setzen sie sich nach Klassen auf niedrige Bänke. Daneben gibt es Klassenzimmer für die Älteren. Dort geht der Unterricht weiter. Die Elftklässler müssen sich auch im Bunker auf die Mathe-Abschlussprüfungen vorbereiten.
«Das ist stressig», sagt Polina Mohilko. Sie müssten viel lernen und würden ständig gestört. «Wir sind jedes Mal hier, wenn es Luftalarm gibt», sagt die 16-Jährige. Dabei tut die Schule viel, um den Keller lebendiger wirken zu lassen: Der Klassenraum gleicht einem traditionellen ukrainischen Bauernhaus. Der Schrank mit den Lehrbüchern ist farbig bemalt, an den Wänden hängen Ostereier aus Holz unter gestickten Stoffbildern.
Nach über tausend Tagen Krieg haben sich die Lehrerinnen und die Schüler auf das Leben unter der Erde eingestellt. Einige beachten den Trubel überhaupt nicht und lösen konzentriert ihre Gleichungen. Andere hören unserem Gespräch zu und nicken, als Mohilko sagt: «Ich bin erschöpft.» Sie schlafe nachts schlecht. Ablenken vom Krieg könne sie sich am besten, wenn sie im Wald spazieren gehe.
Der Krieg ist im Lyzeum Nummer 241 allgegenwärtig und doch weit weg. Alle Schülerinnen und Schüler sind von ihm betroffen, manche von ihnen stammen aus besetzten Gebieten, die meisten haben Väter in der Armee. Doch ihre Zukunftspläne sind die gleichen wie jene von Jugendlichen in Westeuropa.
Polina Mohilko will Jus studieren. Doch während die Jugendliche die Ukraine verbessern, die Gesellschaft stärker und demokratischer machen will, sehen die jungen Männer ihre Zukunft im Ausland. Sie wollen eine Ausbildung in englischer Sprache machen, damit sie reisen, in Europa oder Amerika arbeiten können. Ob sie später zurückkehren wollen, lassen sie offen. In der Armee gegen Russland kämpfen wollen sie jedenfalls nicht.
Inzwischen ist der Luftalarm vorbei, die Schule geht in den normalen Zimmern weiter. Doch auch dort geht es um Krieg: In den Handwerksräumen stanzen die Schüler Tarnnetze für die Armee, im Fach «Verteidigung der Ukraine» lernen sie den Umgang mit Blindgängern und Techniken der Selbstverteidigung. Der Lehrer ist ein ehemaliger Marinesoldat. Wasil Petrunjenko hat einst auf der Krim gedient und wurde kürzlich in der Schule angestellt.
Der 74-Jährige, sehnig und topfit, gibt während seines Kurses in der Turnhalle gern Tipps, auch an uns Journalisten. Sein Lebensgeheimnis? «Gutes Essen, viel Sport, nicht rauchen, nur Homöopathie.» Obschon er in der Armee eher politisch als militärisch aktiv war, präsentiert er sich als Killer. «Ich kann einen Menschen mit blossen Händen töten», sagt Petrunjenko. «Aber den jungen Leuten hier bringe ich nur einen kleinen Teil von dem bei, was ich weiss.»
Ganz ernst scheinen die Mädchen und Buben sein Selbstverteidigungstraining nicht zu nehmen. Sie tragen Jeans und grosse Ohrringe, nicht die beste Kleidung für den Kampf. Petrunjenko zeigt ihnen, wie man einen Gegner auf die Matte wirft. Sie machen es nach, etwas steif und mit wenig Schwung. Der ältere Herr lässt sie gewähren, sehr streng ist die Disziplin nicht. Nur seine patriotische Losung «Ruhm der Ukraine!» beantworten die Jungen pflichtbewusst mit einem schallenden «Ruhm den Helden!».
Das zerstörte Haus
Der Krieg in Kiew bleibt selbst für die Bewohner oft schwer fassbar. Sie hören Explosionen, doch die Schäden sehen sie meist nur auf den Bildschirmen ihrer Handys oder Fernsehgeräte. Dort, wo die Drohnen und Raketen einschlagen, riecht die Luft aber schon von weit her nach Rauch und Plastik.
Wir kommen an einem sonnigen Herbstnachmittag nach Tschokoliwka, etwas ausserhalb des Stadtkerns. In den sechziger Jahren galt das Quartier als ein Zentrum ukrainischer Dissidenten. Heute fällt das viele Grün zwischen den neunstöckigen Plattenbauten auf. Eine davon hat in der Nacht vor unserem Besuch eine Drohne getroffen. Es gab mehrere Verletzte, aber niemand kam ums Leben.
Drei Wohnungen sind komplett ausgebrannt. Hinter den Balkonen klafft ein schwarzes Loch. Angestellte der Stadtverwaltung wischen den Schutt herunter in den Hof. Holzstücke, Isolationsmaterial, Scherben und eine Badewanne. Mit Spanplatten haben sie die zerstörten Fenster und Glastüren für den Moment abgedichtet. Unten werfen zwei Dutzend Arbeiter und Freiwillige alles auf einen Haufen.
Die Leute aus dem Quartier schauen zu, fragen, was passiert sei. Ganz genau weiss es niemand. Ist die Drohne knapp über dem Boden ins Haus geflogen? Oder waren es Trümmer von ihr, nachdem die Flugabwehr sie abgeschossen hatte? Was wollten die Russen hier überhaupt beschiessen? Vielleicht war es die Gasverteilstation, die 100 Meter entfernt das Quartier mit Wärme beliefert. Vielleicht.
Die Ungewissheit lastet auf den Leuten. Müde sind alle, einige auch richtig wütend: auf Russland, aber auch auf die eigene Regierung. Walentina Jahodinska wohnt im selben Quartier, nur ein paar Strassen weiter. Sie sagt, sie habe die Nase voll. Kürzlich hätten die Russen in der Nähe ein Geschäft bombardiert und völlig zerstört. «Zum Glück war es geschlossen.» So könne das nicht weitergehen.
Die pensionierte Kolchosenarbeiterin beginnt sich in Rage zu reden. «Wieso schiessen die das Zeugs denn nicht einfach ab?», fragt Jahodinska. Es gebe doch so viele Verteidigungsstellungen, und die Ukrainer machten jetzt seit tausend Tagen alles für ihr Land. «Wenn die Oligarchen und die Politiker nicht ständig stehlen würden, hätten wir doch viel mehr Raketen.» Den Einwand eines Nachbarn, es lohne sich nicht, teure Raketen gegen Billigdrohnen einzusetzen, ignoriert sie. «Die sind korrupt und profitieren vom Krieg.»
Einfache Leute wie sie hätten es immer härter. Die Pension der 64-Jährigen ist niedrig, und sie weiss von Bekannten, deren Haus zerstört wurde. Sie warten immer noch auf Ersatz. Selenski ordne alles dem Krieg unter. «Dabei ist doch klar, dass die Russen die besetzten Gebiete nicht mehr zurückgeben werden.» Irgendwann müsse man aufhören zu kämpfen. «Ständig sagen sie, der Krieg ende bald. Aber er endet einfach nicht.»
Zwei Buben haben ihr zugehört. Doch der Schutthaufen, in dem sie mit einem Stecken herumstochern, interessiert sie mehr. «Wir wollten helfen», sagt der 12-jährige Nikita, der mit seinem Freund Kirilo hier ist. «Aber sie sagten, es gebe genug Leute und wir sollten Abstand halten.» Nun reden die beiden über Fussball und fragen sich, was das für Teile sind, die da herumliegen. Eines sehe wie eine Handorgel aus, findet Nikita. Er bewegt das Stück Isolationsmaterial hin und her.
Gegenüber uns, den ausländischen Journalisten, geben sich die beiden abgeklärt. «In Kiew gibt es doch fast keinen Krieg mehr», sagt Nikita. Er wurde in Mariupol geboren, dort sei das etwas anderes. Haben sie Angst, wenn es mitten in der Nacht knallt? «Nein, daran haben wir uns voll gewöhnt.»
Dann erzählt Nikita, dass er sich eine kleine Höhle gebaut habe in der Wohnung. «Die Wände sind aus Kissen und Decken, mittendrin steht meine Playstation», sagt er. «Wenn es knallt, höre ich gar nichts, und es ist gemütlich dadrin.»