Dienstag, Oktober 8

Peter Marlow / Magnum Photos

Die Suche nach dem Sinn treibt uns an. Einige verlassen dazu das sichere Land und begeben sich auf die hohe See. Nicht alle kehren zurück, aber sie finden ihr Glück. Vier Geschichten über Freiheit, Hoffnung, Überleben und Liebe.

«Ich lebe nur mit dem Notwendigsten. Das befreit den Geist»

Angus Honey, 52, Australien

«Seit drei Jahren lebe ich auf meinem selbstgebauten Boot. Es ist etwa sechs Meter lang. Seit ich darauf lebe, weiss ich, dass Ordnung das A und O ist. Das habe ich von den Japanern gelernt, als ich in Australien auf einer Thunfischfarm arbeitete. Regelmässig brachten wir den Fisch zu den Transportschiffen, wo ich sah, wie die japanischen Seeleute leben: eine kleine Koje, ein Foto der Familie an der Wand, sonst nichts. Absoluter Minimalismus. Das war wie eine Offenbarung.

Ich bin auf einem Bauernhof im Südwesten von Melbourne aufgewachsen. Die Scheunen waren voller Gerümpel. Meine Vorfahren sind Generationen von Sammlern. Wenn aber alles zugemüllt ist, verwirrt das Auge und Geist, und dann ist es schwierig, einen klaren Gedanken zu fassen, deshalb mache ich es wie die Japaner: Ich besitze wenig, und alles hat seinen Platz. Das befreit den Geist.

Für ein gutes Leben sind nahrhaftes Essen und ausreichend Schlaf entscheidend. Wenn das gegeben ist, wirst du mit allen Problemen fertig.

Mein Boot ist so schmal, dass ich eingeklemmt bin wie in einem Sandwich, wenn ich mich hinlege. Das ist gut, so liege ich sicher und stabil, selbst bei Wellengang. Wenn ich mich aufsetze, erreiche ich mit einem Handgriff meinen kleinen Gaskocher, den ich auf das Brett vor mir stelle. Das ist meine Küche.

Was trocken bleiben muss, bewahre ich in wasserdichten Boxen auf: Kompass, Handy, Musikbox, Reis, Gewürze, Balsamico. Für ein gutes Leben sind nahrhaftes Essen und ausreichend Schlaf entscheidend. Wenn das gegeben ist, wirst du mit allen Problemen fertig.

In den letzten sechs Monaten hatte ich keinen Zugang zu meinem Konto, weil die Bank keine Adresse hatte, an die sie meine Karte schicken konnte. Ich ernährte mich von dem, was ich im Dschungel fand: Kokosnüsse, Bananen – von denen esse ich alles, auch die Haut und die Blätter.

Manchmal wurde ich von den Indigenen auf den San-Blas-Inseln, den Kuna, mit Fisch beschenkt. Wenn ich den Strand entlangging, suchte ich nach Treibgut. Ich entwirrte und säuberte Leinen und brachte sie den Frachtschiffen, wo ich sie gegen Reis tauschte. Ich weiss, was Seeleute brauchen, ich kenne ihre Welt.

Einsamkeit empfinde ich dabei nicht, denn stets bin ich umgeben von der Natur und ihrer Schönheit.

Die Seefahrt liegt mir im Blut, da einer meiner Vorfahren bei der norwegischen Handelsmarine war. Ich würde sogar sagen: Das Meer steckt in den Genen von uns allen. Es hat mich gerufen. Ich begann als Kind zu surfen. Es faszinierte mich, dass ich auf eine Welle, diese bewegende, fliessende Masse, aufspringen kann und sie mich trägt.

Wenn ich surfe, steht die Zeit still, dann denke ich nichts mehr, bin im Fluss. Das ist Freiheit, losgelöst von der Welt und gleichzeitig eins mit ihr zu sein.

Freiheit ist das Wichtigste in meinem Leben. Um wirklich frei sein zu können, ist es hilfreich, allein zu sein, dich nicht zu belasten mit Zeug. Einsamkeit empfinde ich dabei nicht, denn stets bin ich umgeben von der Natur und ihrer Schönheit. Sich einsam zu fühlen, ist meiner Ansicht nach eine Art Selbstmitleid.

Meine Lebensweise war stets geprägt von Unabhängigkeit. Ich wollte mich nie an etwas oder jemanden binden, keine Freundin, keine Arbeit, keine Wohnung. In meinen Zwanzigern lebte ich in meinem Auto und habe in einer Surfbrettfabrik, einer Fischfarm, als Schleppbootfahrer gearbeitet. Alles saisonale Jobs, so hatte ich Zeit, um zwischendurch an alle Strände Australiens zu fahren, um zu surfen.

Eine meiner liebsten Arbeiten ist das Schleppbootfahren. Wenn ich die riesigen Containerschiffe in die Häfen manövriere, ist das wie Kontaktsport. Ein Schleppboot hat mehrere tausend PS. Es ist ein wildes Tier, das du fühlen musst. Es kann tanzen, wenden, springen, doch du kannst es nicht beherrschen. Wenn du beginnst zu denken, auf deine Hände schaust, hast du verloren.

Wenn du eine falsche Bewegung machst, kann eine Leine reissen und jemandem den Kopf abschlagen, oder du wirst von den Turbulenzen in die Nähe der Schiffsschraube gesogen – dann bist du in grossen Schwierigkeiten. Um ein Schleppboot zu fahren, benötigt es eine brutale Geschicklichkeit. Und du musst auf den Wind, die Strömungen das Wasser achten, musst die Gezeiten verstehen. Das erfordert eine geschärfte Wahrnehmung.

So ist das auch, wenn ich mit meinem kleinen Boot unterwegs bin, auch wenn das nur einen Motor mit ein paar wenigen PS hat. Als ich die Küste von Kolumbien entlangsegelte, hörte ich auf einmal dieses dumpfe Geräusch, brrrrrr, brrrrr, als ob ein Güterzug von hinten heranrollte. Dann sah ich die Welle, eine Wand aus Wasser und Gischt.

Mein natürlicher Reflex bestand darin, nach dem Ruder zu greifen, das Boot zu kontrollieren. Diesem Impuls muss man widerstehen. Ich hatte ein Boot gebaut, das surfen kann, jetzt würde es sich beweisen müssen. Ich harrte aus, spürte die Welle, wurde hin und her geschüttelt und umhüllt von der Gischt. Dann kehrte Ruhe ein, Stille herrschte. Mein Boot war unversehrt, die Segel bauschten sich im Wind, sogar der Kurs war unverändert. Von da an vertraute ich meinem Boot. Bislang hatte ich mich nur in Küstennähe gewagt. Mein nächstes Ziel führt mich von Panama zu den Cayman Islands, hinaus auf das offene Meer.»

«Jeder hilft jedem, und alle sind ein wenig schräg»

Susan Richter, 82, USA

Frau Richter, haben Sie bereits Ihre Kindheit am Meer verbracht?

Nein. Ich bin im Mittleren Westen aufgewachsen und habe das Meer und seine Geschichten immer geliebt. Den Ozean jedoch habe ich erst gesehen, nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte.

Und dann haben Sie gleich beschlossen, auf ein Boot zu ziehen?

Nicht ganz. Es vergingen noch einige Jahrzehnte. Zuerst lernte ich segeln auf dem Michigansee, einem der fünf grossen Seen Nordamerikas. An unserem ersten Segeltag liess mein Mann unser Kind über Bord fallen. Glücklicherweise trug es eine Schwimmweste und überlebte. Das war unsere erste Lektion in Rettungsmanövern. 1972 kaufte ich dann ein kleines Segelboot ohne Motor.

Das Leben auf dem Meer lag Ihnen also zunächst fern.

Ja, ich war häuslich, zweimal verheiratet und hatte zwei Kinder von jedem Mann. Ich war Konzertcellistin und habe immer in grossen Orchestern gespielt.

Man muss jeden Tag etwas für sein Boot tun, es anfassen, mit ihm kommunizieren, als wäre es ein Mensch. Wenn du zum Boot schaust, schaut es auch zu dir.

Wie kam es, dass Sie aufs Meer zogen?

Eigentlich war es die Idee meiner Schwester. Sie sagte: Lass uns auf ein Segelboot ziehen, dann müssen wir keine Grundstücksteuer zahlen. So kauften wir 1998 in San Diego das Segelboot «Wooden Shoe».

Und Ihr Mann?

Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits von ihm geschieden. Ich hatte also zwei Männer, zwei Scheidungen, vier Kinder. Mein zweiter Mann fürchtete sich vor Wasser, das war mir ganz recht, so blieb er meinem Boot fern. Meine Schwester erkannte nach sechs Monaten, dass das Leben auf dem Meer nichts für sie ist, also blieb ich allein auf «Wooden Shoe». Es ist das Zuhause, in dem ich am längsten gelebt habe.

Auf einem Boot muss man handwerklich geschickt sein, wenn man überleben will. Waren Sie das?

Am Anfang hatte ich keine Ahnung, aber ich habe gelernt. Am meisten habe ich von anderen Seglern profitiert, sie gefragt: «Wie macht ihr das?» Dann habe ich es ausprobiert. Ich habe das Boot neu verkabelt und den Boiler entfernt. In den Tropen benötige ich kein warmes Wasser. Man muss jeden Tag etwas für sein Boot tun, es anfassen, mit ihm kommunizieren, als wäre es ein Mensch. Wenn du zum Boot schaust, schaut es auch zu dir.

Hat das Boot Sie mal im Stich gelassen?

Eigentlich nicht, obwohl ich viele dumme Sachen gemacht habe. Doch Dummheiten sind Lebenserfahrungen, aus denen man jedes Mal lernt. Zum Beispiel bin ich ohne Rettungsboot zu den Galapagosinseln gesegelt. Das war ziemlich dumm, aber auch grossartig. Ich bin direkt über den Äquator gesegelt, durch die Doldrums, wo oft kein Wind weht, aber ich segelte. Später habe ich dann meinen Mast verloren, aber das war meine Schuld.

Was ist passiert?

Ich hatte einen Holzmast, doch da ich eine schlechte Malerin bin, hatte ich nicht bemerkt, dass der Mast bereits morsch war. Als ich dann an der Küste Ecuadors war, auf dem Rückweg von den Galapagosinseln, stellte ich fest, dass etwas mit dem Mast nicht stimmte. Ich schaffte es dann noch bis zu einem Ankerplatz. Am Morgen knarzte und knackte es, der Mast brach ab. Ein anderer Segler hat mir dann geholfen, einen neuen Mast zu stellen. Das ist typisch für die Seglergemeinschaft: Jeder hilft jedem, und alle sind ein wenig schräg.

Früher navigierte ich mit Papierkarten, heute benutze ich einen elektronischen Chartplotter.

2007 sind Sie durch den Panamakanal in die Karibik gekommen. Danach blieben Sie mit Ihrem Boot auf den San-Blas-Inseln, dem autonomen Gebiet der Kuna, hängen. Hat es Sie nie gereizt, weiterzusegeln?

Nein. Es gibt Segler, die segeln einmal um die Welt, und dann kommen sie hierher und sagen: Hier ist es so schön wie nirgendwo sonst. Ich bin pensioniert und muss nichts und nirgendwo mehr hin. Sollen jüngere Leute losziehen, um ferne Welten zu entdecken. Ich und mein Boot sind im Karibischen Meer zufrieden. Ich erlebe hier das pure Glück.

Sie sind seit 17 Jahren auf den San-Blas-Inseln, was hat sich in dieser Zeit verändert?

Früher bezahlten die indigenen Kuna mit Kokosnüssen und paddelten die gesamte Inselkette ab. Heute haben sie Aussenbordmotoren und Smartphones. Früher navigierte ich mit Papierkarten, heute benutze ich einen elektronischen Chartplotter. Heutzutage ist alles digital. Als ich auf die San-Blas-Inseln kam, trafen wir Langfahrtensegler uns jeden Montag beim «Swimmingpool», einem Loch in einem Riff, und tauschten Bücher aus. Heute hat jeder seine Bibliothek auf dem Smartphone. Die Welt verändert sich, und wir müssen uns anpassen.

Sie sind jetzt 82 Jahre alt. Andere Leute in Ihrem Alter ziehen ins Altersheim. Haben Sie nie daran gedacht, wieder an Land zu ziehen?

Nein. Solange ich Wasser um mich herum sehe, geht es mir gut. Auf dem Meer fühle ich mich sicherer als an Land. Mir ist auf dem Schiff noch nie etwas Schlimmes widerfahren. Ich habe mein Boot noch nie abgeschlossen, und wir Segler achten aufeinander. Ich schlafe auch besser auf dem Boot als an Land. Seekrank war ich nie, nur landkrank. Zudem hält mich das Leben auf dem Boot fit. Jeden Tag gehe ich schnorcheln oder repariere etwas am Boot. Ständig bin ich in Bewegung. Würde ich an Land ziehen, müssten mich meine Kinder wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit ins Pflegeheim bringen und dann ins Grab. Oft fragen sie mich: Mutter, brauchst du etwas? Brauchst du Geld? Dann sage: Ich brauche nichts. Ich habe das Meer.

Was ist die wichtigste Lektion, die Ihnen das Meer beigebracht hat?

Mit der Natur zu leben, sie nicht zu bekämpfen. Wenn der Wind pfeifend weht, dann such einen geschützten Platz, bleib vor Anker. Sei geduldig, und nimm keine Abkürzungen. Die Natur ist eine gute Lehrerin, wenn man lernt, mit ihr zu arbeiten.

«Wir sind ein starkes Team, geben nicht so schnell auf»

Viktoria Björnberg, 34, und Kim Silfving, 42, und ihre zwei Töchter Juni, 10, und Nora-Li, 6, Schweden

Die Pistole ist silbern mit Goldverzierungen. Eine Gangsterwaffe. Als die zehnjährige Juni sie unter dem Fahrersitz des Mietwagens findet, ist sie zuerst einmal wütend. Wieso haben ihr ihre Eltern nichts gesagt? Was verbergen sie vor ihr? Wieso besitzen sie eine Waffe?

«Juni kam ins Hotelzimmer gestürmt und schrie uns an, und wir hatten keine Ahnung, von was sie sprach», sagt Viktoria, Junis Mutter. Sie erinnert sich an den Vorfall im April 2023. Das schwedische Paar Viktoria und Kim lebt seit einem Jahr mit seinen beiden Töchtern auf dem Segelboot «Alexandra». Sie waren von Europa über den Atlantik gesegelt, haben vor karibischen Inseln Anker geworfen und sind nun in der Dominikanischen Republik angekommen. Während ihr Boot in einer Marina liegt, mieten sie ein Auto und fahren damit in den Samaná-Nationalpark. Dort findet Juni unter dem Fahrersitz die Waffe.

Kim, der Vater, erzählt: «Wir haben sofort die schwedische Botschaft angerufen, und diese sagte uns: ‹Redet mit niemandem darüber. Geht nicht zur Polizei, wir schauen, dass wir einen Anwalt finden.›» Korruption ist in der Dominikanischen Republik weit verbreitet, Polizisten mischen oft selbst im organisierten Verbrechen mit. Wollte sie jemand mit einer Waffe in eine Falle locken? Was, wenn sie damit erwischt würden?

Im schlimmsten Fall könnten die Polizisten Kim und Viktoria verhaften und ihnen ein Delikt anhängen, warnt die schwedische Botschaft.

Was würde dann mit den Kindern geschehen? «Kim und ich sind ein starkes Team. Wir spannen zusammen, geben nicht so schnell auf. Die Geschichte mit der Waffe aber hat uns an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht.» Sie schliessen sich im Hotelzimmer ein und warten. «Zum ersten Mal seit wir auf dem Boot leben, sagte ich zu Viktoria: Lass uns nach Europa zurücksegeln, in die Sicherheit», sagt Kim. Und Viktoria sagt: «Ich habe Kim noch nie so gesehen. Auf einmal war er der Beschützer der Familie.»

Dabei war es nicht die erste Krise. Wenn Viktoria und Kim etwas können, dann Wege aus Krisen finden.

Als ihre Tochter Nora-Li vier Monate alt war, erkrankte Viktoria an Krebs. «Ich war 28 Jahre alt und hatte eine Überlebenschance von 40 Prozent. Die Krankheit war wie ein Erdbeben. Sie rüttelte uns wach.»

Das Leben auf dem Meer war keine Verschnaufpause, sondern eine permanente Herausforderung.

Viele Menschen träumen davon, irgendwann segeln zu gehen. Sie pflegen ihren Traum wie eine Topfpflanze. Irgendwann verdorrt ihr Traum oder sie sterben. Mit ihren Kindern auf einem Segelboot die Welt zu bereisen, war auch für Kim und Viktoria schon lange ein Traum, schliesslich hat das Paar durchs Segeln zusammengefunden.

Die beiden Schweden hatten sich beim Regatta-Segeln kennengelernt. Sie wurden zum Team und zum Liebespaar. Als Juni zur Welt kam und vier Jahre später Nora-Li, blieb nur noch der gemeinsame Traum, aber keine Zeit mehr für Regatten.

Dann kam der Krebs. «Ich überlebte. Die Entscheidung, unsere Jobs zu kündigen und auf ein Boot zu ziehen, fiel uns plötzlich einfach. Der Krebs hatte uns gelehrt, Träume nicht mehr aufzuschieben.»

Im Sommer 2021 kauften sie in Portugal die 51 Fuss lange Segeljacht SV «Alexandra». Das Leben auf dem Meer war keine Verschnaufpause, sondern eine permanente Herausforderung. Im Golf von Biskaya wurden sie von Orcas angegriffen. «Die Schwertwale rammten das Boot mehrfach, verbogen die Welle, aber zum Glück machten sie das Ruder nicht kaputt», sagt Kim.

Unabhängiger, selbstbewusster und realistischer seien sie alle geworden. Auch ihre Mädchen wissen, dass der Tod auf dem Meer immer nur eine Schiffslänge entfernt ist.

Auf der Überfahrt nach Schweden brach die Dichtung des Wellenlagers, und Wasser drang ins Boot ein. «Wir schauten alle fünf Minuten nach, um sicherzustellen, dass die Pumpen noch arbeiten und das Boot nicht vollläuft und sinkt.»

Auf der Atlantiküberquerung im November 2022 verloren sie fast das Steuerrad. «Wer auf einem Boot lebt, muss ständig Probleme lösen und mit Stress umgehen können. Würden wir den Mast verlieren, würde uns das heute wahrscheinlich auch nicht mehr aus der Fassung bringen», sagt Viktoria.

Unabhängiger, selbstbewusster und realistischer seien sie alle geworden. Auch ihre Mädchen wissen, dass der Tod auf dem Meer immer nur eine Schiffslänge entfernt ist. Was würden sie tun, wenn Viktoria mitten auf dem Meer vom Mast fallen oder Kim an einem Herzinfarkt sterben würde? Die Mädchen antworten: «Zuerst musst du jemanden anrufen und die Situation erklären. Dann musst du Fotos vom Toten machen, mit und ohne Kleider, als Beweis, dass niemand den anderen umgebracht hat. Dann musst du eine Seebestattung machen. Ein Toter sollte nicht länger als 24 Stunden an Bord bleiben.»

Es sei eigenartig, mit seinen Töchtern über ein solches Horrorszenario zu sprechen, sagt Kim, aber: «Es ist wie bei einer Feuerwehrübung in der Schule. Du hoffst, dass die Schule nie brennen wird. Wenn sie aber trotzdem in Flammen steht, müssen die Kinder wissen, wie sie reagieren müssen.»

All das haben Kim und Viktoria in einem mehrwöchigen Vorbereitungskurs für Langfahrtensegler gelernt. Was zu tun ist, wenn man eine Gangsterwaffe in einem Mietauto findet, lernten sie nicht.

Als der Anwalt endlich anruft, tun sie, was er sagt.

Sie lassen das Mietauto im Hotel zurück, warten auf den Wagen, der sie abholt und mitten in der Nacht in die Marina zurückbringt. In der Frühe füllen sie ihre Dieselkanister, kaufen Essen, klarieren sich und ihr Boot aus dem Land aus. Sie sollen so schnell wie möglich aus der Marina und der Dominikanischen Republik verschwinden.

Dazu warten sie nicht auf eine hohe Tide, stattdessen pflügen sie mit dem Kiel durch den Schlamm in der Bucht ins offene Meer. Dort setzen sie Segel und nehmen Kurs auf Kuba.

Als die Küste bereits ausser Sichtweite ist, ruft der Anwalt an. Die Waffe gehört dem Autovermieter. Er hatte sie unter dem Sitz vergessen.

Kim und Viktoria atmen auf.

Kurz darauf merken sie, dass ihr Wassermacher nicht mehr funktioniert. Sie haben zwanzig Liter Wasser an Bord. Die Überfahrt nach Kuba dauert mindestens drei Tage und drei Nächte.

Eine Krise.

Zurück in die Marina aber wollen sie nicht.

«Es war so kalt, dass wir zusammenkleben mussten, um uns warm zu halten»

Fiona Lewis, 60, und Iain Lewis, 48, Grossbritannien

Sie: Als wir 2012 zu unserer ersten Langfahrt aufbrachen, war ich die Kapitänin und Iain die Crew.

Er: Stimmt, Fiona hatte viel mehr Erfahrung mit Langfahrten.

Sie: Iain ist ein hervorragender Segler. Er hatte viele Regatten gewonnen, aber ich war bereits als Kind mit meinem Vater auf dem Segelboot unterwegs gewesen. Mit ihm bin ich die schottischen Küste entlang gesegelt, und an Land hatten wir Fish und Chips gegessen. Das sind Kindheitserinnerungen, an die ich gerne zurückdenke. Obwohl ich in den letzten Jahren viele wunderbare Segelgebiete gesehen habe, ist Schottland mein Favorit.

Sie sagt:
«Du hast einfach nicht gemerkt, dass ich mit dir flirte!»

Er sagt:
«Hattest du das?»

Er: Ich begann zu segeln, als ich zehn Jahre alt war. In der Schule konnten wir wählen, ob wir eine Woche lang Segeln lernen oder in die Schule gehen wollen. Da brauchte ich nicht lange zu überlegen. Danach verbrachte ich jedes Wochenende auf dem Segelboot. Segeln war mein Hobby, war Sport und Wettkampf.

Sie: So haben wir uns auch kennengelernt. Wir traten bei Regatten gegeneinander an, irgendwann begannen wir miteinander zu segeln.

Er: Viele Jahre lang waren wir ein Wettkampfteam, kein Liebespaar.

Sie: Du hast einfach nicht gemerkt, dass ich mit dir flirte!

Er: Hattest du das?

Sie: Selbst als ich bei dir zur Untermiete einzog, hast du nichts gemerkt.

Er: Nachdem wir geheiratet hatten, versprachen wir uns, innerhalb von fünf Jahren auf ein Boot zu ziehen und segeln zu gehen. Es ging dann nur acht Monate, und wir kauften ein kleines, neuneinhalb Meter langes Boot mit minimaler Ausstattung.

Sie: Ein grossartiges Boot! Ohne Solarpanels, Wassermacher und dem ganzen Schnickschnack. Wir duschten mit Meerwasser.

Er: 2012 kündigten wir unsere Jobs in der IT-Industrie und segelten zuerst an die Westküste Schottlands. Es war so kalt, dass wir nicht anders konnten, als zusammenzukleben, um uns warm zu halten.

Sie: Eigentlich wollten wir nach Griechenland, aber andere Segler sagten uns: «Griechenland ist was für Pensionäre. Kommt mit über den Atlantik.» So segelten wir über den Atlantik, obwohl wir und unser Boot überhaupt nicht darauf vorbereitet waren.

Sie sagt:
«Niemand macht jemals dem anderen Vorwürfe, weil wir alles zusammen besprechen und beide volle Verantwortung übernehmen.»

Er: Ich erinnere mich an diesen wunderschönen Tag mitten auf dem Atlantik. 15 Knoten Wind, Welle von hinten, perfekt. Plötzlich: Bang!

Sie: Als ob wir in eine Wand gefahren wären.

Er: Wir waren tausend Seemeilen von Kap Verde und tausend Seemeilen von Barbados entfernt.

Sie: Da sahen wir den Wal hinter dem Boot auftauchen. Das Wasser verfärbte sich rot.

Er: Wenn du in einen Wal fährst, gehst du entweder unter, oder es passiert gar nichts.

Sie: Wir hatten Glück. Das Boot hatte nur wenige Kratzer.

Er: In solchen Momenten, wenn die Sch . . . so richtig am Dampfen ist, übernimmt immer noch Fiona das Ruder.

Sie: Alle wichtigen Entscheidungen fällen wir jedoch gemeinsam. Niemand macht jemals dem anderen Vorwürfe, weil wir alles zusammen besprechen und beide volle Verantwortung übernehmen. Das macht uns ziemlich einzigartig in der Seglerwelt, wo meist einer der Kapitän ist und der andere Anweisungen befolgt. Oft steht der Typ am Steuer und schreit seine Frau vorne am Anker an oder lässt sie aufs Pier springen.

Er sagt:
«Fiona hingegen liest zuerst die Gebrauchsanweisung. Gemeinsam finden wir dann meist eine Lösung.»

Er: Das ist total sexistisch. Ich habe das Boot noch nie in eine Marina manövriert, das macht immer Fiona.

Sie: Unsere Fähigkeiten sind heute ziemlich identisch, aber um den Motor und die Elektronik kümmert sich meist Iain.

Er: Ich will immer gleich alles auseinanderbauen, Fiona hingegen liest zuerst die Gebrauchsanweisung. Gemeinsam finden wir dann meist eine Lösung.

Sie: Unsere erste Reise dauerte drei Jahre. Als wir in den USA angekommen waren, wussten wir, dass wir weitersegeln wollen, aber wir brauchten ein grösseres Boot.

Er sagt:
«Die Rückkehr in die Arbeitswelt war nicht einfach, obwohl wir viel von dem, was wir auf dem Meer gelernt hatten, ins Arbeitsleben einfliessen lassen konnten.»

Er: Deshalb segelten wir 2015 zurück nach Europa, verkauften unser kleines Boot und gingen wieder nach England, um etwas Geld zu verdienen. Die Rückkehr in die Arbeitswelt war nicht einfach, obwohl wir viel von dem, was wir auf dem Meer gelernt hatten, ins Arbeitsleben einfliessen lassen konnten. Wir hatten gelernt, mit unterschiedlichen Leuten und Problemen klarzukommen, und waren ziemlich stressresistent. Ich verstand nicht mehr, wieso Leute in einem «corporate job» gestresst sind. Im schlimmsten Fall verliert die Firma etwas Geld oder du verlierst deine Arbeit. So what! Auf dem Meer kannst du jederzeit dein Leben verlieren.

Sie: Für mich war das Hamsterrad nur auszuhalten, weil ich wusste, wir ziehen wieder aufs Segelboot. 2018 fanden wir ein neues Boot, diesmal ein etwas grösseres und besser ausgestattetes, aber klein genug, dass jeder von uns allein weitersegeln könnte, sollte der andere über Bord gehen oder sterben.

Er: Als die Grenzen nach der Pandemie wieder geöffnet wurden, segelten wir erneut über den Atlantik. Diesmal war klar, dass wir nicht mehr zurückkommen wollten. Wir wollen auf dem Meer und auf dem Boot bleiben.

Sie: Viele Leute, die auf Boote ziehen, wissen, dass sie nach einigen Jahren wieder an Land gehen. Für sie ist das Leben auf dem Meer eine Auszeit, Ferien. Wenn die Langfahrt dein Leben wird, musst du deine Ausgaben im Griff haben. Wir leben von unserem Ersparten und von Einnahmen aus Aktien und Immobilien.

Er: Wir lieben Excel-Tabellen. Wir tragen jeden Kaffee ein und leben ziemlich sparsam, man könnte sagen, wir sind geizig. Zu zweit brauchen wir 1900 Euro im Monat, inklusive aller Landausflüge und Flüge. Vermissen tun wir nichts, wir setzen einfach andere Prioritäten. Statt Geld für ein grosses Auto, Kleider oder teures Essen auszugeben, investieren wir in Bootsteile und das Reisen. Wir lieben es, andere Welten zu entdecken.

Sie: In den letzten sechs Monaten hatte ich zum ersten Mal Zweifel an unserem Lebensstil. Es war die schwierigste Zeit, die wir je hatten. Zuerst ertrank ich beinahe bei einem Tauchunfall auf den Cayman Islands . . .

Er: . . . dann wurden wir von einem Boot gerammt in Kuba, und dann liess die Werft in Guatemala unseren Mast fallen.

Sie: Da dachte ich: Will uns das Universum etwas mitteilen? Sollten wir vielleicht doch wieder zurück an Land ziehen?

Er: Das war einfach Pech, ausserordentlich viel Pech. Das Boot ist jetzt wieder flott, aber es wird wohl noch ein bisschen dauern, bis wir wieder voller Vertrauen und Zuversicht sind.

Sie: Als Nächstes fahren wir durch den Panamakanal in den Pazifik. Früher habe ich oft das Fernsehprogramm «The Blue Planet» von David Attenborough geschaut. Einmal berichtete er von einer Insel im Pazifik, wo die Leute Steine statt Geld benutzten. Da wollen wir hin.

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