Dienstag, Oktober 22

Pulsmessungen bei der FDP.

Am Morgen danach versucht sich Sabina Freiermuth, die Präsidentin der Aargauer FDP, auf die Vorbereitung der nächsten Grossratssitzung zu konzentrieren. Aber der Wahlsonntag hallt noch nach: «Es kommen viele schöne Rückmeldungen», sagt sie. Die FDP hat bei den Grossratswahlen im Aargau einen zusätzlichen Sitz gewonnen. Es ist eine kleine Verschiebung in der politischen Geologie der Schweiz, aber eine grosse für die FDP. Freiermuth spricht von einer «Trendwende».

In den Wahlen der vergangenen Monate hat die FDP vor allem verloren: im Kanton St. Gallen, in Uri, in Schwyz, im Thurgau, vor allem aber bei den eidgenössischen Wahlen im vergangenen Oktober, die eine Art Identitätskrise auslösten. Wer war man eigentlich: die letzte staatstragende Partei – oder ein liberaler Oppositionstrupp? Parteipräsident Thierry Burkart war erst «nach reiflicher Überlegung» bereit, überhaupt weiterzumachen. An Versammlungen wurde es teilweise therapeutisch: «Wir sind im Jammertal, einverstanden.» Es lief eine Operation namens «FDP Turnaround 2027» an. Aber bald kam mit der nächsten kantonalen Wahl die nächste Niederlage.

Nun sind wieder Lebenszeichen wahrnehmbar: Im Kanton Schaffhausen gewann die FDP im August einen Regierungsratssitz und im September einen Kantonsratssitz. Man war mit scharfen Tönen gegen die integrative Schule und die aktuelle Asylpolitik in den Schlagzeilen. Und an diesem Sonntag der zusätzlich gewonnene Grossratssitz im Aargau, dem Heimatkanton von Thierry Burkart.

Aus dem Innern der Partei

Wenn Urs Wohlgemuth, der Präsident der Schaffhauser FDP, die Zugewinne erklären soll, nennt er zwei Gründe: Einerseits habe er die Partei «wieder sichtbarer, nahbarer» machen wollen. Er hat sich in den Stiftungsrat eines Wohnhauses für Körperbehinderte in Schaffhausen wählen lassen, er engagiere sich bei der Seniorenuniversität. Er habe gemerkt, «dass wir uns engagieren – und das dann auch propagieren müssen», sagt er. Und andererseits habe er auf ein klareres Profil gesetzt, mit wenigen Kernbotschaften, ohne Nebensätze: «Zweizeiler, die wir ganz dominant auf Plakate gedruckt haben».

Die FDP habe sich in der Vergangenheit zu sehr verzettelt, sagt Wohlgemuth, aber das bessere nun: «Im Moment liefert uns die FDP Schweiz sehr gute Positionspapiere, die wir an der Basis eins zu eins übernehmen können.» In der Bildungspolitik inszeniert sich die FDP für ihre Verhältnisse ungewohnt plakativ («So retten wir die Volksschule»): mit einer sogenannten Toolbox, vorgefertigten Mustervorstössen für die Kantonalparteien. Die wortneblige Kommunikation ist abgelöst worden von Medienmitteilungen wie «Vincenzo Mascioli, neuer Asylchef des Bundes: Hier ist Ihr Pflichtenheft».

Es sind Instrumente, es ist eine Schärfe, für die man sich lange zu schade war, auch aus «Angst ums Image», wie es intern heisst. Inzwischen aber werde allen klar, dass man sich – wie es alle anderen längst gemacht hätten – die Nebensätze abgewöhnen müsse.

In der Partei scheint es zumindest ein neues Bewusstsein für den Ernst der Lage zu geben. Man schart sich hinter die Parteispitze – unabhängig davon, wie sehr man deren Kurs unterstützt. Man macht mit, oder man schweigt zumindest vorläufig. Die Mitte-Partei hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich: Ein neuer progressiver Kurs und vor allem ein neuer Parteiname wurden selbst in den konservativen Stammlanden hingenommen. Misserfolge der vorangehenden Jahre gaben dem Präsidenten Gerhard Pfister fast uneingeschränkten Handlungsspielraum. Je grösser die Not einer Partei, desto erfinderischer darf ihr Präsident werden. Irgendwann zählt nur noch der Erfolg. Wenn sich die FDP bis zu den eidgenössischen Wahlen 2027 stabilisiert, hat Burkart alles richtig gemacht.

Sicherheit, Sicherheit

In der FDP ist man zudem überzeugt, die Erfolgsmeldungen aus dem Aargau und aus Schaffhausen hätten nicht nur interne, sondern auch externe Gründe: «Zuletzt fanden linke Ansprüche bei Abstimmungen eine Mehrheit», sagt Sabina Freiermuth, die Präsidentin der Aargauer FDP. «Aber jetzt sorgen sich, gerade in bürgerlichen Kantonen, immer mehr Leute, was das kostet und wer es bezahlen soll.»

Im Aargau habe man die FDP als Partei eines breit gefassten Sicherheitsbegriffs positioniert: «sichere Grenzen, sichere Schulwege, aber auch sichere Arbeitsplätze, zudem Schutz des Eigentums vor dem Staat».

Ähnlich formulierte es Thierry Burkart in seiner Rede vor den Delegierten am Samstag in Tenero, Kanton Tessin. Man sei «die bürgerlichste Partei im Land», sagte er, wenn man bürgerlich definiere als: «Schutz für die Bürger vor immer mehr Staat, immer mehr Einmischung und Übergriffigkeit». Im vergangenen Herbst hiess es, es hätten jene Parteien gewonnen, die Schutz bieten könnten: vor sozialen Härten, vor Zuwanderung – durch den Staat. Die liberale Idee der Eigenverantwortung sei schwierig zu vermitteln, hiess es auch innerhalb der FDP. Nun scheint man eine eigene Erzählung als Schutzschirmpartei gefunden zu haben.

Die Pflichtschuldigen

Burkart sagte in Tenero, man stehe einer «Koalition der Bezüger, der Anspruchsvollen, der Mühsamen» gegenüber. Auch in der SVP sehne man sich nach staatlichen Lösungen. Nur die FDP stehe noch auf der Seite jener, «die sich nicht jeden Morgen überlegen: Wo ist der Staat, der mich unterstützt?» Unter ihm ist die FDP die Partei der Pflichtschuldigen. Sprüche, Witze, politische Folklore gab es in seiner Rede nicht. Er sprach von «Recht und Pflicht und Schuldigkeit» – das sind die politischen Wertezonen, in denen er seinen Freisinn konkurrenzlos sieht.

In den Resultaten aus dem Aargau oder aus Schaffhausen will Burkart noch keine Trendwende erkennen. Dafür sei es zu früh. In Basel-Stadt etwa, wo die FDP neben der LDP eine schwierige Position hat, gab es am Sonntag leichte Verluste. Die Lage bleibt fragil. Dass sich die Partei stabilisiert habe und die schärfere Profilierung in der Asyl- und Bildungspolitik an der Basis ankomme, glaubt er aber sehr wohl. Er sei positiv überrascht ob den zahlreichen, überwiegend freundlichen Rückmeldungen.

An diesem Montag steht er noch unter dem Eindruck der Delegiertenversammlung von Tenero, wo ein scharfes Asylpapier fast diskussionslos verabschiedet wurde. Natürlich werde es immer einzelne geben, die es anders sehen – und inhaltliche Debatten seien wichtig. Aber er spüre einen deutlichen Willen, geschlossener aufzutreten, sagt Burkart, sowohl an der Basis als auch in der Fraktion in Bundesbern.

Der Test kommt bald: im schwierigen EU-Dossier. Aus Sicht der FDP haben die bilateralen Beziehungen eine wirtschaftspolitische, aber (etwa in den grossen Sektionen der Romandie) auch eine emotionale, teils identitätsstiftende Bedeutung. Burkart, der schon als junger Grossrat im Kanton Aargau skeptisch gegenüber Brüssel war, will deshalb die Verantwortung von sich weg und an die Basis delegieren – die Delegierten sollen den Kurs bestimmen.

In seiner Rede in Tenero sagte er, man werde sich erst äussern, wenn das Ergebnis der Verhandlungen vorliege, auch wenn das «vielleicht nicht wahnsinnig farbig und populär» sei. Es bleibt schwierig. Die FDP muss auf alle gleichzeitig Rücksicht nehmen: auf ihre Exportunternehmer, die mit der Europäischen Union geschäften, auf ihre zuwanderungskritischen Kreise, auf ihren eigenen Bundesrat, Aussenminister Cassis. Sollte die Basis ihre Parole per Zufallsmehr beschliessen, drohte das Ende der neuen Geschlossenheit. Aber daran mag an diesem Montag niemand denken.

Exit mobile version