Donnerstag, Juni 19

Putin fürchtet ausländische Einflüsse. Das Schulsystem werde zunehmend sowjetisiert, schreibt die Autorin Irina Rastorgujewa.

Das unabhängige russische Online-Medium «Ne Moskwa» (Kein Moskau) hat eine Liste von Unterrichtsfilmen untersucht. Mehr als 40 Prozent handeln von Kriegen und bewaffneten Kämpfen. Erstklässlern wird das sowjetische Drama «Ein Mädchen sucht seinen Vater» empfohlen. Es geht um die kleine Tochter eines Partisanenkommandanten, die allein zurückbleibt und von Faschisten gejagt wird, um als Geisel benutzt zu werden. Ab der 5. Klasse werden die Kinder an russischen Schulen mit Kriegsthemen regelrecht bombardiert.

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Die Hauptfiguren in den Filmen kämpfen, hungern, leiden, sterben oder verlieren die Angehörigen. Darunter sind auch solche mit Szenen, die selbst für Erwachsene schwer anzusehen sind: «Geh und sieh», «Der gewöhnliche Faschismus» (beide mit einer Altersfreigabe ab 18 Jahren). Oder «Lebendig verbrannt» über «Feuerstellen aus lebenden Menschen» in der Region Smolensk.

88 Prozent der Spielfilme für die 1. bis 11. Klassen sind sowjetische Produktionen. Mit ihnen sollen Kinder auch über die Arbeit von Spionen, amerikanische Verschwörungen, den Kampf gegen Saboteure und anderes informiert werden – in einem entsprechenden ideologischen Rahmen, der der gegenwärtigen russischen Propaganda sehr nahe kommt.

Barbie und Lego unter Extremismusverdacht

Selbstverständlich sorgt sich die russische Staatsduma auch um die moralische Erziehung der Kinder. Nach Ansicht der Abgeordneten werden traditionelle Werte heute von überall untergraben – durch Charaktere mit «inneren und äusseren Makeln», wie Shrek, dem Grinch, und von Bloggern, denen Teenager nacheifern wollen. Ausserdem wird vorgeschlagen, Kleidung mit ausländischen Aufschriften zu verbieten – insbesondere «USA» und «Nasa», was laut der Abgeordneten Jana Lantratowa «eine Schande für die Kinder einer grossen Weltraummacht» sei. Ausserdem fordern Abgeordnete, das Unternehmen Mattel, das Barbie-Puppen und das Kartenspiel Uno herstellt, sowie das Unternehmen Lego als extremistisch einzustufen.

Die Staatsduma erwägt, Bücher für Kinder und Eltern zu verbieten, in denen Themen wie «Verrat, Antipatriotismus und Nachahmung von Tieren» behandelt werden. Ein Beispiel dafür ist ein Buch für Kleinkinder, in dem ein Mädchen in einen Marienkäfer verwandelt wird. Das Vorgehen erinnert an das jahrzehntelange Verbot von Kafka-Texten in der Sowjetunion. Nun kann man stattdessen «Geschichten für Kinder über die spezielle Militäroperation» lesen, mit detaillierten Beschreibungen von Bombardierungen, oder das «Militär-ABC», wo jeder Buchstabe mit dem Krieg in Verbindung gebracht wird.

Das Schulsystem wird zunehmend sowjetisiert. Schon für die Kleinsten werden patriotische Versammlungen mit Flaggenhissen und dem Singen der russischen Hymne abgehalten. Es gibt neuerdings die Position eines «Beraters des Direktors für Erziehung», einer Art Politkommissar, und nach und nach kehrt die einheitliche Uniform zurück.

Auch der Einfluss staatlicher Kinder- und Jugendverbände wächst. So hat die allrussische «Bewegung der Ersten» in jeder Region der Russischen Föderation sowie in besetzten Gebieten Sektionen eröffnet. Sie wurde im Juni 2022 nach dem Vorbild der sowjetischen Pionierorganisation zur Erziehung und Freizeitgestaltung von Jugendlichen und zur Bildung einer Weltanschauung «auf der Grundlage traditioneller russischer geistiger und moralischer Werte» gegründet.

Nach Angaben des ukrainischen Informationsportals «Freedom» sind auf der annektierten Krim mehr als 13 000 Kinder involviert, fast 11 500 davon aus Sewastopol. In den von Moskau kontrollierten Gebieten der Region Luhansk gibt es mehr als 60 000 Teilnehmer, in der Region Donezk etwa 18 500. Insgesamt nehmen 7 Millionen Kinder und Jugendliche an der «Bewegung der Ersten» teil, wie Präsident Putin stolz vermeldet.

Die militärisch-patriotische Bewegung Junarmija (Jugendarmee) erinnert an die sowjetische Freiwilligenorganisation zur Unterstützung der Armee, der Luftwaffe und der Marine. Im vergangenen Jahr wurden Kindergartenkinder in der Region Rostow in die Junarmija aufgenommen – während der Zeremonie überreichten Kriegsteilnehmer den Neuzugängen ein Modell des zerstörten Bachmut.

Die Wahrheit in kleinen Dosen

Eine Bekannte von mir sagt, dass sie und ihr Mann versuchten, ihrem Sohn die Wahrheit behutsam und dosiert zu erklären. Er ist acht Jahre alt, und sie befürchten, dass er in der Schule etwas Unüberlegtes sagen oder – schlimmer noch – mit dem Lehrer streiten könnte. «Sie haben eine furchtbare Klassenlehrerin», sagt sie, «die den Jungen einredet, dass sie alle in den Krieg ziehen müssen, dass das ihre Pflicht ist.» Eine andere Bekannte, die selbst Russischlehrerin an einer Privatschule ist, unterrichtet ihre Tochter zu Hause, was nicht unbemerkt bleiben wird und früher oder später den Verdacht der Behörden auf sich lenken wird.

Auch Lehrer fürchten Denunziationen, weshalb sie entweder schweigen oder versuchen, den ideologischen Schaden des Schulsystems zu minimieren. Doch alle Schulen müssen auf die eine oder andere Weise Konten im russischen sozialen Netzwerk VKontakte unterhalten und Berichte über «patriotische Veranstaltungen» veröffentlichen, die regionalen Bildungsministerien kontrollieren diese Situation ständig.

In der neuesten Ausgabe des Lehrbuchs «Umweltkunde» für Drittklässler wurden Kapitel über die Länder Europas und ihr kulturelles Erbe gestrichen, wie die unabhängige russischsprachige Online-Medienplattform «Wjorstka» herausfand. Stattdessen sollen die Schüler mehr über Weissrussland, Abchasien, Südossetien, Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan, China, Nordkorea und die Mongolei erfahren. Ab dem neuen Schuljahr wird Sozialkunde aus den Lehrplänen der 6. und 7. Klassen gestrichen. Das Fach befasst sich mit verschiedenen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens und umfasst insbesondere Grundlagen der Rechtswissenschaften, Politik und Wirtschaft. Dafür hat der Verlag Prosweschtschenie («Aufklärung») das erste Schulbuch zum Bau von Drohnen für Schüler der 8. und 9. Klasse herausgebracht. Darin werden die Grundlagen der unbemannten Luftfahrt, der Aufbau und die Klassifizierung von Drohnen sowie die beruflichen Perspektiven der Branche behandelt.

Die gesamte Wissensvermittlung ist zentralisiert und ideologisch abgestimmt. In den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine nähen die Schüler, genau wie in russischen Schulen, im Werkunterricht Kleidung für russische Soldaten und lernen in Robotikkursen die Fernsteuerung von Waffen. Für Lehrer wurde ein spezieller Kurs «Prävention der Verbreitung neonazistischer Ideen unter Kindern und Jugendlichen» für die Arbeit mit «potenziell gefährlichen Kindern in den besetzten Gebieten» entwickelt. Alexei Lawrentjew, Vorsitzender der «Bewegung der Ersten» in der Region Cherson, erklärte, dass den Kindern in den besetzten Gebieten ihre traditionelle russische Identität zurückgegeben werden müsse, und zwar «auf sanfte Weise».

Unterstütztes Mobbing

In allen russischen Schulen sowie in jenen in den besetzten Gebieten wird ein Kurs zur militärischen Grundausbildung und ein obligatorischer fünftägiger Militärdienst für Jungen der 8. bis 10. Klasse durchgeführt. Die Jugendlichen erlernen in Militärkasernen die Grundlagen der militärischen Ausbildung und Erste-Hilfe-Massnahmen während Kriegshandlungen, Schutzmassnahmen bei Luftangriffen und andere Verteidigungsmethoden.

In Kindergärten ist die Situation nicht besser. Militarisierte Feste und Staffelläufe werden durchgeführt, die Tage des «Anschlusses neuer Regionen» gefeiert. Seit Oktober letzten Jahres finden auch in Kindergärten «Gespräche über Wichtiges» statt, jeden Montag wird die Hymne der Föderation gesungen, die Flagge gehisst, und man hört «kindgerechte» patriotische Vorträge ehemaliger Soldaten. Allein im Jahr 2024 haben mindestens 10 000 Kindergärten Kreml-Propaganda verbreitet, wurden mehr als 200 000 patriotische Aktionen durchgeführt. Das heisst: in jedem dritten Kindergarten des Landes, wie die unabhängige, aus dem Exil agierende Zeitung «Nowaja Gaseta Europa» berechnet hat.

Auf der Website «zavuch.info» («zavuch» zu Deutsch: stellvertretender Schulleiter) haben Lehrer einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie das Bildungsministerium der Russischen Föderation kritisieren und über die Probleme im modernen Bildungssystem berichten. In ihrem Appell betonten die Lehrer, dass sie den Glauben an ihren Beruf und an die Schule als Ort des Wachstums, der Kultur und der Bildung verloren hätten. «Wir haben die Kinder zum Lügen erzogen – weil das System selbst auf Falschheit aufgebaut ist», heisst es.

«Und wenn wir die Schule verlieren, verlieren wir das Land. Ohne einen einzigen Schuss. Und ohne einen äusseren Feind», schrieben die Verfasser des Briefes. Die Lehrer stellten eine Reihe von Forderungen an Putin, darunter vor allem, dem Bildungsminister und seinem gesamten Stab das Misstrauen auszusprechen. Der «Föderale Dienst für die Aufsicht im Bereich der Informationstechnologie und Massenkommunikation» befand, dass die Website «zavuch.info» Informationen enthalte, die «auf die Destabilisierung der gesellschaftspolitischen Lage im Land abzielen und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen», und sperrte sie.

Irina Rastorgujewa wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk, Russland, geboren und lebt als freie Autorin in Berlin. Jüngst erschien ihr Buch «Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung» bei Matthes und Seitz.

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