Die in Japan geborene Malerin und Bildhauerin vereint in ihren Werken Vorstellungswelten aus West und Ost. Ihr Kunstkosmos ist bevölkert von Mischwesen zwischen Mensch und Tier, Kind und Frau.

Als Reaktion auf die Tsunami-Katastrophe von Fukushima 2011 schuf Leiko Ikemura die Plastik einer überlebensgrossen Frauenfigur mit Hasenohren. Deren Unterleib öffnet sich wie ein Tor. Im Hohlraum des langen Rocks, durch dessen Perforierungen Licht einem Sternenhimmel gleich nach innen dringt, finden Besucher einen Ort der Geborgenheit. Besonders gern schlüpfen Kinder, wie magnetisch angezogen, in den Schoss der bronzenen Häsin, von der sich ein Exemplar in der Sammlung der Hilti Art Foundation in Liechtenstein befindet.

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Die Arme der Frauenfigur sind vor die Brust gelegt, der Gesichtsausdruck ist in sich gekehrt. «Usagi Kannon» heisst die Plastik. Und darin vereint Ikemura Vorstellungen aus Ost und West. Der Titel des Werks setzt sich aus dem japanischen Wort für Hase (usagi) und dem Namen eines bekannten Bodhisattva-Wesens aus dem Buddhismus zusammen: Kannon ist der Bodhisattva des Mitgefühls und der Liebe, der allen Wesen auf ihrem Weg zur Erleuchtung beisteht.

Aber auch der Hase ist in Japan ein Sinnbild für Fürsorge und Selbstlosigkeit. Die Hohlform des hybriden Frau-Natur-Wesens lässt überdies Assoziationen mit dem japanischen Shintoismus anklingen. Shinto-Schreine sind im Innern leer, um den Naturgöttern Platz zu bieten. Die Armhaltung der Skulptur wiederum erinnert an die christliche Ikonografie. Und der geöffnete Rock an das Himmelskleid der heiligen Maria – an jenen Mantel, unter dem die Schutzmantelmadonna die Gläubigen birgt.

Umwölkte Mädchenfiguren

Neben solch starken Frauen- oder Göttinnengestalten ist das weibliche Personal in Ikemuras Kunstkosmos eher fragil. Zahlreich sind die verträumten oder schlafenden Mädchenfiguren – auf die Leinwand gepudert in zarten Pastellfarben. Sie scheinen vordergründig der Inbegriff kindlicher Sanftheit zu sein. Was hat es damit auf sich? Man denkt reflexartig an den Begriff «kawaii». Er bedeutet so viel wie «niedlich», «süss», und viele Kunstschaffende in Japan arbeiten unter diesem Vorzeichen.

«Kawaii» ist omnipräsent in der japanischen Kultur. Selbst die Kôban, die Polizei-Häuschen in den Quartieren japanischer Städte – von der Bevölkerung wahrgenommen als freundliche Beschützer –, sind oft mit lustig-kindlichen Maskottchen gekennzeichnet. Sie könnten vom Starkünstler Takashi Murakami stammen, der für seine lachenden Blümchengesichter berühmt ist. Neigt die japanische Kultur zum Infantilismus? Die ebenso bekannten Mädchen von Yoshitomo Nara, einem anderen Aushängeschild japanischer Gegenwartskunst, sind zwar oft wütend. «Kawaii» aber sind sie gleichwohl.

Das ist anders im Westen. Und deshalb auch anders in Leiko Ikemuras Kunst. So sind Paula Regos Mädchen latent aggressiv. Den Halbwüchsigen von Nicky Hoberman ist eher die Tragik der Adoleszenz ins Gesicht geschrieben als verklärte Kindlichkeit. Ebenfalls nicht gerade süss und nett kommen einem die präpubertären Gören von Rita Ackermann vor. Und Leiko Ikemuras Mädchen sind vor allem unheimlich zerbrechlich. Wobei das Augenmerk auf das Unheimliche fällt.

Der Abgrund in ihren Mädchenbildern zeigt sich im Verschatteten, Verschleierten und Unscharfen. Leiko Ikemuras Gemälde, auch jene von Mischwesen und von Landschaften, wirken oft verklärt. Die Farbe hat etwas Immaterielles und Transparentes. Sie sinkt in den Bildgrund ein oder schwebt gespenstisch vor der Leinwand wie Gewölk. Ihre Graffiti-Zeichnungen bestechen nicht nur durch das Flüchtige des schnellen, suchenden Strichs, sondern auch durch die Tiefe und Vielschichtigkeit, die die Künstlerin durch Verreiben des Kohlestaubs bewirkt.

«Yûgen» ist ein Terminus, der weniger wie «kawaii» in der Populärkultur, dafür aber umso mehr in der klassischen Hochkunst Japans von Bedeutung ist. Diese ästhetische Kategorie ist in Ikemuras Kunst allgegenwärtig. Der Begriff bedeutet «dunkel», «tief», «mysteriös», aber auch «still» und «subtil». Und er impliziert, dass das Angedeutete und Verborgene höher gewertet ist als das direkt Gezeigte und offen zutage Tretende.

Der Schlüssel zu Ikemuras Kunstauffassung findet sich denn auch in dem Literaturklassiker «Lob des Schattens» von Tanizaki Jun’ichiro. Es sei das Buch, das man lesen müsse, um sie besser zu verstehen, versichert die Künstlerin selber. «Einem seichten hellen Glanz ziehen wir ein vertieftes, umwölktes Schimmern vor», schrieb der Essayist 1933 zu den japanischen Vorlieben, wenn es um Geschmack und Schönheit geht. Eine gewisse Eintrübung, wie sie Tanizaki beschreibt, ist auch Ikemuras Bildern eigen.

Vieles in ihrem Werk verbleibt in der Andeutung. Damit wird aber nicht etwa auf etwas Jenseitiges, hinter dem Sichtbaren dieser Welt Verborgenes verwiesen, sondern vielmehr auf die oft undurchdringliche Tiefe dieser Welt, in der wir leben. Das ist die geistige Tiefe von Ikemuras Kunst. Sie reicht weit über einen vermeintlichen «kawaii»-Effekt hinaus.

Körper wie Gefässe

Diese vielleicht als typisch japanisch zu bezeichnende ästhetische Empfindsamkeit hat Leiko Ikemura wohl eher unbewusst in den Westen mitgenommen, als sie als junge Frau von 21 Jahren nach Europa kam. Geboren wurde sie 1951 in der Stadt Tsu in der Präfektur Mie. In Osaka absolvierte sie ein Spanischstudium, das sie in Salamanca und Granada vertiefte. Schliesslich begann sie 1973 in Sevilla Malerei zu studieren. Den südländischen Alltag empfand sie als Befreiung von den konservativen Rollenbildern, denen damals vor allem die Frauen in ihrem Heimatland unterworfen waren.

Noch freier fühlte sich Ikemura allerdings in der Schweiz, wo das Frauenbild selbst damals noch etwas liberaler war als im Spanien der Franco-Ära. Während eines Sommeraufenthalts arbeitete sie in einer Fabrik in Olten, um sich das Studium in Spanien zu finanzieren. Die Effizienz des Schweizer Alltags sagte ihr zu. Und so siedelte sie 1979 von Spanien in die Schweiz um, erst nach Luzern, dann nach Zürich. Später zog sie nach Nürnberg und Köln und schliesslich nach Berlin weiter, wo sie heute lebt.

Neben Gemälden, Plastiken und Arbeiten auf Papier ist Leiko Ikemura auch für ihre Glasobjekte, Fotografien, Videos und nicht zuletzt Gedichte bekannt. Immer wieder bedient sie sich des Haiku, jener kurzen japanischen Gedichtform, die subtile, kaum ausgesprochene Gefühle vermittelt. Damit vergleichbar ist die tiefe Einfachheit ihrer Bildsprache.

Aus Japan, dem Land der tausend Keramiköfen, hat sie nicht zuletzt auch das Handwerk der Töpferkunst mitgenommen. Sie formt zwar keine Gefässe, aber Plastiken aus Ton. Und viele ihrer Figuren sind auch eine Art Gefäss. Man spricht bei Tongefässen einerseits vom Fuss, vom Bauch, vom Hals, von der Lippe. Und anderseits erinnern Ikemuras liegende, hohle Mädchenkörper mit ihren langen Kleidern bisweilen an Kelche, insbesondere auch an Blütenkelche.

Nicht anders als ihre Gemälde und Zeichnungen bergen auch diese Mischformen zwischen Skulptur und Gefäss in ihrem Innern etwas Geheimnisvolles. Und wie viele von Ikemuras hybriden Wesen symbolisieren insbesondere ihre Mädchenfiguren den Übergang einer Form in eine andere und eines Zustandes in den nächsten. Hier ist es wohl die Schwelle vom Kind zur Frau. Oder einfach das Mysterium, dass alles nicht nur im Vergehen, sondern ebenso im Werden begriffen ist.

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