Dank ihrem Weltcup-Sieg hat sich die Engelbergerin für die WM in eine Favoritenrolle gebracht. Zum Vorbild ist sie durch den offenen Umgang mit ihrer Essstörung längst geworden. Dieses Thema beschäftigt sie weiter.
Wenn sich Lena Häcki-Gross zwischen den Rennen erholen will, häkelt sie. Lesen wäre zu ermüdend. Bei einer Biathletin muss sich das Gehirn vom Schiessen ebenso erholen wie die Beine vom Langlaufen.
Zurzeit häkelt sie an Fäustlingen mit einem Schweizerkreuz drauf. Ein Maschenwerk wie ihre Sportart Biathlon, in der so viel ineinandergreifen muss für den Erfolg. Ein Fehlschuss – und das zuvor perfekte Rennen ist vorbei. Es ist eine Betätigung, die mental viel abverlangt.
In diesem Winter sind die Maschen bei Häcki-Gross so gut miteinander verwoben, dass sich ein makelloses Gesamtbild ergibt. Ende Januar siegte sie im Weltcup in Antholz im Einzel mit 20 Treffern in 20 Schüssen. Vor ihr hatte erst eine Schweizerin einen Weltcup-Sieg geschafft, Selina Gasparin triumphierte zweimal im Dezember 2013, im selben Winter holte sie Olympiasilber. Sie war die erste, die dem Biathlon in ihrem Land ein Gesicht gab. Doch eine WM-Medaille gab es für die Schweiz noch nie.
Das soll sich nun ändern, wenn an diesem Mittwoch in Nove Mesto, Tschechien, die Weltmeisterschaften beginnen. Lena Häcki-Gross hat in dieser Saison drei Podestplätze und sieben weitere Platzierungen in den Top Ten erreicht. Und die Frauen-Nationaltrainerin Sandra Flunger sagt mit Blick auf die WM: «Lena hat es zu einem grossen Prozentsatz selber in der Hand. Sie hat sich in den letzten Jahren sukzessive gesteigert.» Maximal sieben Chancen hat Häcki-Gross in Nove Mesto; vier bei Einzel- und drei bei Staffelstarts. Sie wird von Tag zu Tag entscheiden, ob Energie und Konzentration für das volle Programm reichen.
Weniger hektisch und ungestüm im Schiessstand
Dass die 28-Jährige zurzeit so erfolgreich ist, hat Gründe auf verschiedenen Ebenen – auf einer sportlichen wären ihre Fortschritte im Schiessen. Zwar galt sie im Training längst als sehr starke Schützin. Der Transfer dieser Leistungen ins Rennen gelang ihr aber zu wenig gut, zu ungestüm und zu ungenau war sie im Wettkampf. «Ich war schon immer eine energetische, hektische Person», sagt Häcki-Gross, «das stand mir im Schiessstand ab und zu im Weg».
Mit der Erfahrung und dank jahrelangem Mentaltraining wurde es besser. In dieser Saison schafft sie es, entspannter zu sein. Häcki-Gross definiert für sich einen Punkt auf der Strecke, ab dem sie sich voll auf das kommende Schiessen konzentriert. Und sie setzt auch einmal ab, wenn ein Schuss kein Treffer war. Das bedeutet: Vom Druckpunkt weg, nochmals neu atmen und neu aufs Ziel fokussieren.
Zudem ist sie fit wie selten zuvor. Sie konnte die ganze Vorbereitung ohne gesundheitliche Störungen absolvieren, und mit den starken Laufleistungen ist auch ein besseres Selbstvertrauen gekommen.
Dass die Engelbergerin physisch aus dem Vollen schöpfen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Vor zwei Jahren hat Häcki-Gross in einem Interview mit «CH Media» ihren Kampf gegen eine massive Essstörung öffentlich gemacht. Bereits mit 16 Jahren war die Sportlerin kräftig gebaut, entsprach nicht dem vermeintlichen Idealbild einer Ausdauerathletin. Und so glaubten sie, ihr Umfeld und der Trainerstab, dass eine Gewichtsabnahme leistungssteigernd wäre. Häcki-Gross setzte sich unrealistische Gewichtsziele, sie hungerte sich so weit runter, bis Kopf und Körper Signale gaben, dass sie es nicht mehr aushalten.
Daraufhin folgten im schlimmsten Fall Essattacken, die mehrere Tage anhielten und bei denen Häcki-Gross keine Kontrolle mehr über sich hatte: Ein Teufelskreis namens «Binge-Eating-Störung», die die Sportlerin vor ihrem Umfeld versteckte. Obwohl ihr Gewicht manchmal innerhalb eines Monats um bis zu fünf Kilogramm schwankte, war sie als Biathletin immer noch so stark, dass sich ihre Karriere positiv entwickelte. Irgendwann aber dachte sie fast 24 Stunden am Tag ans Essen, und sie realisierte, dass sie professionelle Hilfe braucht, um aus dem Teufelskreis herauszufinden.
Bis heute wird Häcki-Gross regelmässig auf das Thema angesprochen, von Menschen, die dasselbe erlebt haben oder von ihrem Outing berührt waren. «Das bestätigt mich darin, dass ich richtig vorgegangen bin», sagt sie, die vor allem junge Sportlerinnen und Sportler für das Thema sensibilisieren wollte. Der Schritt an die Öffentlichkeit war für sie ein Teil des Heilungsprozesses, «obwohl man mit diesem Thema nie ganz abschliessen kann».
Im Leistungssport ist das Gewicht automatisch ein Thema, ungesunde Gedanken kommen immer noch auf. Doch sie hat gelernt, mit diesen umgehen. «Ich bin befreiter, habe mehr Energie für andere Themen», sagt Häcki-Gross. Früher dachte sie, dass sie gar nicht gut sein könne, weil sie nicht dem Idealbild entspreche. «Das habe ich komplett abgelegt.» Der Erfolg untermauert, dass Biathlon für Sportlerinnen und Sportler aller Form und Masse möglich ist.
Stabilität gibt ihr auch das heutige Umfeld. Seit 2022 ist sie mit Marco Gross verheiratet, einem ehemaligen deutschen Biathleten, der nun Servicemann bei den Slowenen ist. Damit bekam sie Ricco Gross zum Schwiegervater, den vierfachen Olympiasieger und neunfachen Weltmeister. In dieser Biathlon-Familie ist Häcki-Gross bestens integriert. Seit ein paar Jahren lebt sie in der Nähe des Olympia-Stützpunkts der deutschen Nordischen in Ruhpolding in Oberbayern, wo sie rund eine Woche pro Monat für sich trainiert. Trainingslager sowie die Schweizer Stützpunkttrainings auf der Lenzerheide absolviert sie mit Swiss Ski.
Ein Jahr vor den Heim-Weltmeisterschaften sind die atmosphärischen Störungen im Team behoben
Dank der Lenzerheide hat auch die Schweiz mittlerweile eine Biathlon-Anlage mit modernster Infrastruktur. Im vergangenen Dezember wurde da erstmals ein Weltcup ausgerichtet, in einem Jahr finden dort die Weltmeisterschaften statt. Und das Schweizer Team scheint rechtzeitig erstarkt zu sein. Darauf hatte noch vor zwei Jahren nicht viel hingedeutet, als an den Olympischen Spielen in Peking nicht nur resultatmässig vieles im Argen lag. Um die Stimmung im Schweizer Lager war es damals nicht zum Besten bestellt.
Die atmosphärischen Störungen im Frauenteam wurden daraufhin mit sportpsychologischer Hilfe aufgearbeitet. «Das war extrem wichtig», sagt Häcki-Gross heute, die sich damals als Reaktion auf die schlechte Stimmung sehr zurückgezogen hatte. Der Teamgedanke sei in der Ansammlung von Einzelsportlerinnen verlorengegangen. Dank der Unterstützung lernten sie, wie sie als Individuen in der Gruppe funktionieren und einander helfen können.
Dieser Prozess war erfolgreich. Heute sei wieder eine gute Dynamik spürbar, sagt Häcki-Gross, «viel Begeisterung und Elan», auch vom Trainerteam. Bei den Zusammenzügen gibt es Spielabende, und die jüngeren Teammitglieder wie die Nachwuchs-Weltmeisterinnen Amy Baserga und Lea Meier sorgen für Konkurrenzdruck von unten.
Eine starke Einheit als Basis für den Erfolg: Das ist das letzte Stück, welches das Maschenwerk der Lena Häcki-Gross zu einem Gesamtwerk macht. Die Teamleaderin hatte das im vergangenen Winter auch praktisch umgesetzt: Sie häkelte Tops für ihre Teamkolleginnen.