Mittwoch, Januar 15

Mit der «Kestenberg-Reform» träumte der deutsch-israelische Pianist von einer «Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Musik». Durch seine Ideen wurde er zu einer Schlüsselfigur für die Kulturpolitik der Weimarer Republik. Eine Biografie würdigt Kestenbergs Beziehungen zu zahlreichen namhaften Künstlern.

Berlin während der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts: Da denkt man an glamouröse Revuen, Cabarets, florierende Nachtlokale, laszive Operetten mit ihren gefeierten Stars, Besuchermassen in Kino- und Sportpalästen. Doch es gab in den Roaring Twenties noch ein anderes Berlin, eines, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang der Monarchie nach besseren Lebensverhältnissen und Bildung für die Arbeiterklasse strebte. Mitten in dieser Bewegung, die sich die Weimarer Republik auf ihr Banner geschrieben hatte, stand der aus der Habsburgermonarchie zugewanderte Pianist, Musikpädagoge und Kulturpolitiker Leo Kestenberg.

Sein Name ist heute untrennbar verbunden mit der «Kestenberg-Reform». Deren Ziel war es, das Musikleben durch Modernisierung und Professionalisierung des Unterrichts zu erneuern. Ebenso engagiert setzte er sich für die Förderung des Chorgesangs, für Bildungsangebote für jedermann und generell für die Demokratisierung des Konzert- und Opernbetriebes ein. In einer Zeit des tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Wandels, der die bisherigen kulturtragenden Schichten, Adel und Bürgertum, schwächte, konnten solche Bestrebungen auf politische Unterstützung zählen.

Im Dienst der Volksbildung

Kestenberg war die richtige Persönlichkeit, um die Ideale in die Praxis überzuführen: politisch fest in der Sozialdemokratie verankert, musikalisch in der Hochkultur beheimatet. Ein Sommerkurs in Weimar beim Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni, der zu seinem Mentor wurde, hatte den 17-Jährigen gelehrt, was künstlerische Meisterschaft ist. In Berlin begann er sein Berufsleben als Klavierpädagoge. Seine weitere Laufbahn verlief parallel zur Geschichte der Weimarer Republik.

Im Zuge der Novemberrevolution von 1918 wurde Kestenberg ins preussische Kultusministerium berufen. Dort übernahm er die Funktion des Musikreferenten. In dieser Position eröffnete sich ihm ein Wirkungsfeld, das seinen vielfältigen Talenten ideal entsprach. Der gemeinsame Nenner all seiner Aktivitäten hiess Volksbildung, darüber stand der Anspruch, Deutschlands Reputation als Kulturnation auch nach dem verlorenen Krieg zu behaupten.

Besondere Bedeutung kam dabei Kestenbergs Wirken in der Volksbühne zu, einer Besucherorganisation der Arbeiterschaft, die den Besuch von Konzerten und Opernaufführungen zu stark reduzierten Preisen ermöglichte. Allein in Berlin zählte sie 1925/26 rund 160 000 Mitglieder. Mit ihr verbunden war der Aufbau eines Volkschores. Die Volksbühne war auch stark in das kurzlebige Experiment der Kroll-Oper involviert, hier hatten die Mitglieder Anspruch auf rund die Hälfte des Kartenkontingents.

Die Hoffnung, die Arbeiterschicht so für zeitgenössische Werke wie Strawinskys «Oedipus Rex» oder «Die Geschichte vom Soldaten» gewinnen zu können, erfüllte sich allerdings nicht – es war das intellektuelle Publikum, das sich für die Erneuerungsbestrebungen der Kroll-Oper begeisterte.

Den grössten Einsatz leistete Kestenberg auf dem Gebiet des Musikunterrichts, und zwar auf allen Stufen, vom Kindesalter bis zu Meisterklassen. Dass Busoni, Arnold Schönberg und Paul Hindemith als Lehrkräfte nach Berlin berufen wurden, war zu grossen Teilen sein Verdienst. Trotz seiner Verankerung in der Hochkultur verfolgte Kestenberg auch die Entwicklung der neuen Medien Rundfunk, Schallplatte und Tonfilm. Wie sehr diese alsbald die Praxis des Musizierens und das Musikhören revolutionieren sollten, konnte er noch nicht voll ermessen.

Sein Leben und Handeln waren bestimmt vom humanistischen Ideal einer «Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Musik». Optimist, der er war, schenkte er lange auch den antisemitischen Anfeindungen gegen sich und den Lehrkörper der angeblich «verjudeten, internationalen Hochschule» nicht genügend Beachtung. Unter der Direktion von Franz Schreker unterrichteten dort Grössen wie der Pianist Artur Schnabel, die Cellisten Emanuel Feuermann und Enrico Mainardi sowie der Geiger Carl Flesch.

Die politische Radikalisierung holte auch Kestenberg ein. Schon Ende 1932 wurde er «in den einstweiligen Ruhestand» versetzt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten floh er mit seiner Familie nach Prag. Dort war er die treibende Kraft beim Aufbau einer international ausgerichteten Gesellschaft für Musikerziehung. Sein Interesse für die heilpädagogische Wirkung der Musik brachte ihn in Kontakt mit der Schweizer Musikpädagogin Mimi Scheiblauer.

Dichtes Beziehungsnetz

Nach dem Münchner Abkommen von 1938 entschlossen sich die Kestenbergs ein zweites Mal zur Emigration, diesmal über Paris nach Palästina. Sie nahmen Wohnsitz in Tel Aviv, und Kestenberg wurde Manager des Palestine Orchestra, später wieder Musikpädagoge. 1953 kehrte er mit seiner Frau für eine mehrmonatige Reise nach Deutschland zurück, wo ihm verschiedene Ehrungen zuteilwurden.

Sein vielfältiges Wirken lebt bis heute fort, nicht zuletzt dank der 2009 gegründeten Kestenberg-Gesellschaft. Der jüngste Forschungsbeitrag stammt von dem Historiker Dietmar Schenk, der Kestenbergs Rolle als angeblicher «Musikdiktator» einerseits relativiert – als Musikreferent hatte er de facto keine Entscheidungsgewalt –, anderseits den Blick weitet, etwa auf die Beziehungen zum Kreis um den Verlag Cassirer, dem unter anderen die Schauspielerin Tilla Durieux, die Dichterin Else Lasker-Schüler und die bildenden Künstler Ernst Barlach und Oskar Kokoschka angehörten.

Vorgesetzte, Mitarbeiter und Weggefährten werden gewürdigt, unter diesen der Schweizer Wagner-Enkel Franz Beidler und seine Frau, auch Vorträge und Publikationen Kestenbergs bezieht Schenk in seine Studie ein. Über Kestenbergs Privatleben erfährt man wenig – klare Konturen erhält Kestenberg hingegen als Kulturpolitiker. In heutiger Terminologie würde man ihn wohl als unermüdlichen und charismatischen Netzwerker bezeichnen.

Dietmar Schenk: Menschenbildung durch Musik. Leo Kestenberg und Weimars Musikreform 1918–1932. Edition Text + Kritik, München 2023. 437 S., Fr. 57.90.

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