Benjamin Dahlke, Experte für die katholische Kirche in den USA, ordnet ein, aus welchem Milieu der neue Papst kommt. Der Theologe verweist dabei auf die zunehmende Relevanz der Katholiken in den USA – und erklärt, weshalb Leo XIV. einen Fokus hat, der weit über die Vereinigten Staaten hinausreicht.

Herr Dahlke, wie ist die katholische Welt beschaffen, aus der Robert Francis Prevost stammt?

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In den USA zeigt sich ein Katholizismus, den man zweifach differenzieren muss, inhaltlich wie ethnisch. Die Social-Justice-Catholics betonen die soziale Tradition des Glaubens, sie setzen sich für Gerechtigkeit, die Arbeiterschaft und die Rechte von Migranten ein. Andere legen mehr Wert auf Glaubensorientierung und Liturgie. Zu Letzteren gehört auch Vizepräsident J. D. Vance. Abgesehen davon ist es ein Unterschied, ob jemand aus Südamerika einwandert oder aus einer alten irischen Familie kommt: Die Sprachen sind unterschiedlich, die Frömmigkeit – und auch die Art, die Liturgie zu feiern. So gesehen gibt es in den USA ganz verschiedene Katholizismen, obwohl alle in der gleichen Kirche zu Hause sind.

Welche Rolle spielen die Katholiken in der amerikanischen Gesellschaft?

Sie sind mit rund 75 Millionen Mitgliedern die zahlenmässig grösste Glaubensgemeinschaft, das ist etwa ein Fünftel der Bevölkerung. In die Gesellschaft hinein wirkt sie durch ihre Medienpräsenz in Zeitschriften, Online-Plattformen oder über Social Media sowie mit Schulen, Colleges und Universitäten, die stark nachgefragt sind. Anerkannt ist auch die konsequente Aufarbeitung der Missbrauchsskandale, die dort schon vor gut zwanzig Jahren an die Öffentlichkeit kamen.

Spielen sie auch eine Rolle in der Politik?

Ja, seit dem Zweiten Weltkrieg haben sie einen rasanten Aufstieg hingelegt. Viele katholische Einwanderer kamen aus schlecht gebildeten Arbeiterschichten. Inzwischen haben sie sich in die Mitte und auch an die Spitze der Gesellschaft bewegt, wenn wir etwa an John F. Kennedy in den 1960er Jahren und Joe Biden als ersten katholischen Präsidenten denken – und eben an Vizepräsident J. D. Vance. Auch knapp 30 Prozent aller Abgeordneten in Senat und Repräsentantenhaus sind katholisch.

Robert Francis Prevost, der neue Papst, wurde 1955 in Chicago geboren. Welches Milieu hat er in seinen jungen Jahren erlebt?

Das Erzbistum Chicago ist in den USA bis heute dafür bekannt, dass es die umfangreichen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965, mit denen sich die Kirche verstärkt zur Welt öffnete, bereitwillig aufgegriffen und umgesetzt hat. Politisch gesehen war Chicago eine demokratische Hochburg, auch die meisten Katholiken wählten die Demokratische Partei.

Prevost hat aber auch fast ein Vierteljahrhundert in Peru verbracht, wo er als Missionar, Lehrer und Bischof wirkte. Er hat auch die Staatsbürgerschaft des Landes angenommen. Wie hat ihn das beeinflusst?

Er lernte dort eine ganz andere katholische Welt kennen: ländlich, arm, von Indigenen geprägt – ein völliger Kontrast zur reichen Millionenstadt Chicago. In dieser Zeit gewann er eine sehr internationale Perspektive. Vertieft hat er sie in über einem Jahrzehnt in Rom, als er Generalprior des Augustinerordens war. Durch seine Visitationsreisen auf allen Kontinenten hat er wohl schon ein sehr klares Gespür für die Vielfalt des Katholischen und für die sehr unterschiedlichen Herausforderungen gewonnen.

Woran machen Sie das fest?

Zum Beispiel an seiner ersten Ansprache nach der Wahl, die er in Italienisch und Spanisch hielt, nicht aber in seiner Muttersprache Englisch. Er kommt zwar aus den USA, hat aber diese nationale Perspektive schon lange hinter sich gelassen.

Ist Prevost also eher ein Papst des Südens denn des Westens?

Nein, er weiss, dass der Glaube in den westlichen Ländern unter Druck ist und es – durchaus berechtigte – Aversionen gegen die Kirche gibt. In diesem Kontext ist es nicht einfach, den Glauben zu verkünden und ihn zu leben. In den USA wird sehr viel dafür getan, den Glauben zeitgemäss zu erschliessen. Leo XIV. kann sich in säkulare Gesellschaften vielleicht besser hineindenken, als sein Vorgänger Franziskus das konnte.

Der monströse Missbrauchsskandal belastet die Kirche seit Jahren schwer. Auch schon vor seiner Wahl wurde Prevost vorgeworfen, Missbrauchsfälle nicht konsequent verfolgt zu haben. Zu Recht?

Die Vorwürfe wurden erwartungsgemäss zurückgewiesen. Von aussen lässt sich ohnehin kaum einschätzen, ob sie berechtigt sind. Aber sicherlich wird Leo XIV. nun nochmals mehr für das Thema sensibilisiert sein. Nicht in allen Teilen der Weltkirche wurde der sexuelle oder auch geistliche Missbrauch konsequent aufgearbeitet. Aufgabe des Papstes wird deshalb sein, darauf hinzuwirken. Er muss da sehr energisch durchgreifen. Für manche Bischöfe, Orden und Gemeinschaften dürfte es noch sehr unangenehm werden. In den USA mussten inzwischen mehr als vierzig katholische Organisationen Insolvenz anmelden, weil die geforderten Entschädigungszahlungen so hoch waren.

Papst Franziskus wollte eine Kirche mit mehr Mitbestimmung, auch von Laien und Frauen. In einer Ansprache am Samstag an die Kardinäle rief Leo XIV. dazu auf, den Weg dieser Synodalität fortzusetzen. Ist er da ein zweiter Franziskus?

Kardinal Prevost war Teilnehmer der Weltsynode 2023 und 2024, die manche offene Frage hinterlassen hat, etwa nach dem Diakonat der Frau. Es lässt sich aber derzeit schwer voraussagen, wie er sich als Papst verhalten wird, wenn es um konkrete Entscheidungen geht. Als promovierter Kirchenrechtler weiss er, dass Neuerungen rechtlich festgeschrieben werden müssen, um sie für die ganze Kirche verbindlich zu machen. Analytisches Denken ist ihm nicht fremd, das kommt ihm bestimmt zugute. Und als bisheriger Kurienkardinal hat er ausserdem ein institutionelles Bewusstsein. Wenn man Inhalte auf Dauer nach vorne bringen will, dann kann das nur mit und über die römische Kurie funktionieren.

Überrascht hat der Papst mit seiner Namenswahl, die auf Leo XIII. verweist, der Ende des 19. Jahrhunderts Kirchenoberhaupt war. Sein Vorgänger habe auf die erste industrielle Revolution reagiert, sagte er zur Begründung. Heute sei die Revolution der künstlichen Intelligenz eine Herausforderung. Wie deuten Sie diesen Namen?

Als eine sehr bewusste und keinesfalls zufällige Entscheidung: Auf Leo XIII. geht die katholische Soziallehre zurück, in der Arbeiterfrage war der Italiener fortschrittlich – theologisch aber, wo er sich an mittelalterlichen Denkweisen orientierte, nicht unbedingt. Vielleicht ist das ein Signal Leos XIV. an konservative Bischöfe und Kardinäle, die er nicht zurücklassen möchte. Hinzu kommt die Dimension seines Vorgängers als faktisch erster Aussenpolitiker und Staatsmann der neueren Kirchengeschichte, der auch als Friedensstifter gewirkt hat. Papst Leo XIV., der sich unmittelbar nach seiner Wahl mit einem Friedensgruss der Welt vorgestellt hat, sieht sich in dieser Linie.

Benjamin Dahlke ist Professor für Dogmatik an der Katholischen Universität Eichstätt in Oberbayern. Im vergangenen Jahr legte er das Werk «Katholische Theologie in den USA» vor.

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