Der Literaturnobelpreisträger sitzt dem Sowjetregime als lästiger Mahner im Nacken. Dann rumpelt es. Ein Blick zurück.
Am 7. Januar 1974 trat das höchste Leitungsgremium des Sowjetregimes, das Politbüro, zusammen und besprach, wie man mit dem Dissidenten Alexander Solschenizyn umgehen solle. Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1970 war zu einem unbequemen Mahner geworden, der sich aber standhaft weigerte, sein Heimatland zu verlassen. Er war nicht einmal zur Preisverleihung nach Stockholm gereist, weil er zu Recht fürchtete, dass man ihn bei dieser Gelegenheit ausbürgern würde.
Leonid Breschnew eröffnete die Sitzung mit einer Anklage. Noch habe niemand den «Archipel Gulag» gelesen, es sei aber klar, dass darin alle «Heiligtümer» verleumdet würden: Lenin, die sowjetische Gesellschaftsordnung und die Sowjetmacht. In der Sitzung bildeten sich bald zwei Fraktionen: Der Geheimdienstchef Juri Andropow schlug eine Ausweisung «in den Irak, in die Schweiz oder ein anderes nichtsozialistisches Land» vor. Aussenminister Gromyko hingegen plädierte für eine Haftstrafe im Inland. Alle Anwesenden wiesen darauf hin, dass man das eigene «Volk» gut auf das Vorgehen gegen Solschenizyn vorbereiten müsse. Man müsse den Nestbeschmutzer mit wenigen Zeitungsartikeln «entlarven», weil zu viel Propaganda unnötige Aufmerksamkeit auf Solschenizyn lenken würde.
Am Ende beschloss das Politbüro, Solschenizyn wegen «bösartiger antisowjetischer Tätigkeit», «Verleumdung der sowjetischen Ordnung», «Legitimierung konterrevolutionärer Gruppen» sowie «grober Verletzung des Urheberrechts» – in dieser Reihenfolge! – «gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen».
«Überwundene Probleme»
Für Solschenizyn war die Lage Anfang der siebziger Jahre brenzlig geworden. Auf dem Höhepunkt des Chruschtschow-Tauwetters hatte er 1962 seine Lagererzählung «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» in der grössten sowjetischen Literaturzeitschrift veröffentlichen können. In einem beschwichtigenden Vorwort wies der Chefredaktor das Publikum explizit darauf hin, dass es sich bei dem dargestellten Haftalltag um überwundene Probleme aus der Vergangenheit handle.
Solschenizyn allerdings hatte keine Zweifel, dass der Sowjetstaat weiterhin auf Repression und Zwangsmassnahmen beruhte. Er sammelte biografisches Material ehemaliger Insassen über die sowjetischen Straflager und verfasste daraus seinen monumentalen «Versuch einer künstlerischen Untersuchung» – so lautet der Untertitel des «Archipels Gulag».
Solschenizyn machte damit deutlich, dass er einen literarischen Ausdruck für das menschenverachtende Lagersystem suchte. Eigentlich plante er, den «Archipel Gulag» erst 1975 zu veröffentlichen, weil er noch Vorbereitungen zum Schutz seiner Familie treffen wollte. Er war spät dreifacher Vater geworden und wusste, dass ihn nur seine internationale Prominenz vor dem Zugriff des Staates bewahrte.
Im August 1973 überstürzten sich allerdings die Ereignisse: Solschenizyn hatte ausländischen Journalisten ein ausführliches Interview gegeben. Am gleichen Tag wurde seine Mitarbeiterin Jelisaweta Woronjanskaja verhaftet. Nach einem 110 Stunden langen Dauerverhör mit Schlafentzug gab sie den Aufbewahrungsort einer Kopie des «Archipels Gulag» preis. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis erhängte sie sich in ihrer Wohnung. Solschenizyn veranlasste darauf unverzüglich die Publikation des «Archipels Gulag». Bereits im Dezember 1973 erschien der erste Band in einem Pariser Exilverlag.
Im September 1973 verfasste Solschenizyn seinen «Brief an die sowjetische Führung», in dem er sich in die Pose eines alttestamentlichen Propheten warf. Er warnte vor einem drohenden Krieg mit China, der sich aber letztlich nur um die richtige Auslegung der kommunistischen Ideologie drehen würde. Pointiert formulierte Solschenizyn: «60 Millionen unserer Landsleute sollen sich umbringen lassen, weil auf Seite 533 eines Lenin-Bandes eine angeblich heilige Wahrheit steht und nicht auf Seite 355, wie unsere Gegner behaupten?» Deshalb rief Solschenizyn die Sowjetführung auf, die kommunistische Ideologie den Chinesen zu überlassen.
Für seine Heimat empfahl Solschenizyn keineswegs die Demokratie, die er von manipulierten Emotionen und Ränkespielen geprägt sah. Er wünschte sich ein autoritäres System, das aber die bürgerlichen Freiheiten respektieren solle. Gleichzeitig lobte er die Anfänge der russischen Monarchie, die aus seiner Sicht über eine «starke moralische Grundlage» in der orthodoxen Religion verfügte. Erst die Reformen Peters des Grossen hätten die segensreiche Einheit von Kirche und Staatsmacht zerstört.
Überhaupt zog Solschenizyn bereits in diesem Brief gegen die «katastrophale Schwäche des Westens» vom Leder. Eindringlich warnte er vor dem Ende der natürlichen Ressourcen und den Folgen der globalen Umweltverschmutzung. Russland habe sich zwar entschlossen, zum Westen zu gehören, aber im Gegensatz zu Europa und den Vereinigten Staaten blieben dem weniger entwickelten Russland noch zwanzig Jahre bis zum Ende der Sackgasse. Diese Zeit gelte es jetzt zu nutzen.
Solschenizyn bezeichnete dabei den «nationalen Egoismus» als hohen politischen Wert. Bereits im «Brief an die sowjetische Führung» sind also alle Elemente angelegt, die Anfang der 2000er Jahre zum historisch unwahrscheinlichen und ideologisch naheliegenden Schulterschluss zwischen dem ehemaligen Lagerhäftling Solschenizyn und dem ehemaligen Geheimdienstoffizier Putin führten.
Ein Bündel für Sibirien
Selbstverständlich antwortete die Sowjetführung nicht auf Solschenizyns Vorschläge. Stattdessen beriet man sich Anfang Februar 1974 erneut. Man fasste den Beschluss, Solschenizyn nach Sibirien zu verbannen, wo es auch für westliche Journalisten «zu kalt» sei. Am 13. Februar wurde Solschenizyn verhaftet. Das Polizeiaufgebot von acht Mann hätte für eine ganze Bande Schwerstkrimineller gereicht. Solschenizyns Ehefrau öffnete die Wohnung mit der Vorhängekette, worauf die Beamten die Tür eintraten und das Schloss zerstörten. Solschenizyn war auf die Verhaftung vorbereitet und hatte seine Sachen gepackt. Nach Sträflingsart hatte er ein Bündel vorbereitet, das er aus einer schwedischen Flagge hergestellt hatte.
Die Beamten wiesen Solschenizyn an, die Nähte des Beutels nach aussen zu wenden, damit die Flagge nicht sichtbar sei. Nach der Verhaftung blieben zwei Männer noch eine Weile in der Wohnung, um sicherzustellen, dass die Ehefrau nicht telefonisch einen Protest von Dissidenten organisierte. Erst später versammelten sich zahlreiche Freunde und Journalisten in Solschenizyns Wohnung und zeigten sich über das gewaltsame Vorgehen schockiert.
In letzter Minute signalisierte Bundeskanzler Willy Brandt, dass Deutschland bereit sei, den berühmten Schriftsteller aufzunehmen. Am 13. Februar 1974 wurde Solschenizyn in ein Flugzeug nach Köln gesetzt, wo er zunächst bei Heinrich Böll Unterschlupf fand. Zwei Tage später traf er mit dem Zug in Zürich ein, wo ihm der Stadtpräsident Sigmund Widmer ein Haus in der Stapferstrasse angeboten hatte.
Allerdings wurde der Zürcher Aufenthalt für Solschenizyn zum Spiessrutenlauf. Überall lauerten ihm Reporter und Fotografen auf. Sogar wenn er nachts auf den Balkon trat, ging ein Blitzlichtgewitter auf ihn nieder. Ruhe bot ihm nur der geheime Aufenthalt in Widmers Wochenendhaus in Sternenberg, wo er an seinem Revolutionsepos «Das rote Rad» schreiben konnte.
Im Schweizer Exil fürchtete sich Solschenizyn vor einem Anschlag des KGB. Allerdings zeigen Archivmaterialien, dass sich der sowjetische Geheimdienst auf «Massnahmen zur Kompromittierung» beschränkte. Eine Agentin, die Tschechin Valentina Holub, wurde auf Solschenizyn angesetzt und berichtete über seine Tätigkeiten nach Moskau. Vermutlich ebenfalls auf der Gehaltsliste des Kremls stand der Bestsellerautor Frank Arnau, der von seinem Tessiner Alterswohnsitz aus Solschenizyn als «bekannten Lügner» beschimpfte.
Kehls Absage, Bettscharts Wut
Die Crème der Schweizer Literatur äusserte sich zurückhaltend über Solschenizyn: Max Frisch meinte, der russische Autor dürfe nun frei aussprechen, «was er für die Wahrheit halte». Adolf Muschg schätzte, Solschenizyn werde einen deutlichen Publizitätsverlust erleiden, da im Exil seine politische Brisanz nicht mehr gegeben sei. Auch Daniel Kehl, der Chef des Diogenes-Verlags, wollte die deutsche Übersetzung des «Archipels Gulag» nicht in sein Programm aufnehmen: Es handle sich um ein Sachbuch, nicht um Belletristik. Sein Kompagnon Rudolf Bettschart war hingegen wütend über diesen Entscheid, weil er – wie die Verkaufszahlen des Berner Scherz-Verlags später zeigten – richtig monierte, dass Diogenes so «Millionen» entgangen seien.
Solschenizyn blieb allerdings nur zwei Jahre in der Schweiz. Durch die Bemühungen des Senators Jesse Helms wurde ihm nach der Ausweisung aus der Sowjetunion die amerikanische Ehrenbürgerschaft verliehen. Weil er seine drei Söhne mit der Weltsprache Englisch aufwachsen sehen wollte, übersiedelte er nach Vermont, dessen Landschaft ihn an Russland erinnerte, und liess sich in Cavendish nieder.
Der amerikanischen Gesellschaft und Politik stand das kalte Erwachen damals allerdings erst noch bevor. Das Missverständnis bestand darin, dass man in den USA glaubte, ein Feind des kommunistischen Regimes sei deshalb im Umkehrschluss auch ein Freund der republikanischen Demokratie.
1978 hielt Solschenizyn seine berüchtigte Commencement-Rede in Harvard. Er sagte offen, dass er für Russland keine westliche Gesellschaftsordnung wünsche und dass es rückständig sei, heute an den «verknöcherten Formeln der Aufklärung» festhalten zu wollen. Er kritisierte sogar das berühmte «pursuit of happiness» aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und fügte boshaft hinzu: «Auch die Biologie sagt uns, dass ein hoher Grad von Wohlbefinden schlecht für einen lebenden Organismus ist.»
Nicht nur die Ablehnung des Westens und die Faszination für eine autoritäre Staatsordnung verbinden Solschenizyn mit Putin, sondern auch die Überzeugung, dass die Russen, die Weissrussen und die Ukrainer ein Volk seien. 2018 liess es sich der Präsident nicht nehmen, persönlich ein Denkmal für den patriotischen Schriftsteller in Moskau einzuweihen. Und im Oktober 2022 zitierte Putin an einem Auftritt im Waldai-Forum aus Solschenizyns Harvard-Rede, um den angeblich «offen rassistischen und neokolonialistischen» Hochmut des Westens anzuprangern.