Vom Balkon aus ergehen sich drei Frauen in sexuellen Phantasien: Der Film von Noémie Merlant macht streckenweise Spass als wilder Ritt zwischen erotischem Begehren und Body-Horror. Letztlich erschöpft er sich aber in einem platten feministischen Statement.

Wer sich an diesen Hitzetagen zu lange in der Sonne aufhält, kann womöglich nachvollziehen, wie es den auf ihren Balkonen in Marseille lungernden Protagonistinnen in der zweiten Regiearbeit Noémie Merlants ergeht. Bei unerträglichen Temperaturen halluzinieren sich drei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs in einen wilden Ritt zwischen erotischem Begehren und blutrünstigem Body-Horror.

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Das beginnt, als Nicole, die an ihrem ersten Roman schreibt, sich in den schönen, geheimnisvollen Mann im Fenster gegenüber verguckt. Es setzt sich fort, als ihre Mitbewohnerin Ruby, die als Camgirl ihren Körper zur Schau stellt, mit demselben Mann flirtet. Und es gewinnt an Fahrt, als die Schauspielerin Élise dessen Auto beim Parkieren rammt. Am Abend werden die drei Freundinnen zu dem Typen eingeladen, und plötzlich steckt er tot auf einem Pfosten und sein abgetrennter Penis in den Händen der Frauen. Freud hätte wohl geschmunzelt. Ob das alles nur der Hitze geschuldet ist, spielt keine Rolle, das Unterbewusstsein ist so oder so entscheidend.

Dabei spielt sich die Handlung grossteils auf den Balkonen und in einem Wohnkomplex ab, der in solch bunten Farben gehalten wird, dass man manchmal glaubt, man sehe einen Fruchtsalat und keinen Film. Mit naturalistischem Kino hat die Inszenierung von Merlant, die durch ihre Rolle in «Portrait de la jeune fille en feu» von Céline Sciamma (die hier am Drehbuch mitschrieb) bekanntgeworden ist, ohnehin wenig zu tun.

Nacktheit in Nahaufnahme

Stattdessen folgt «Les femmes au balcon» der falschen Fährte einer überdrehten Komödie à la Almodóvar, um sich in eine feministische Horrorgroteske als Antwort auf klassische Hinterhoffilme wie Hitchcocks «Rear Window» zu verwandeln. Das klingt nach viel, und womöglich ist der Überschwang auch die grösste Schwäche dieses Films, der aus allen Rohren und mit wenig Subtilität gegen den «male gaze», Sexismus, männliche Rhetorik und so weiter ballert, um letztlich ziemlich wenig zu erzählen.

Was für Merlant zählt, ist die pure Geste und eine gewisse Kompromisslosigkeit. Nacktheit wird beiläufig in Nahaufnahme gezeigt, es wird gefurzt und gespuckt. Queeres Begehren entfesselt sich bei der Masturbation auf der metallenen Stuhllehne und beim Eintauchen der Hände in Pflanzenerde. Eine bemerkenswerte Szene beim Gynäkologen bricht mit der Tabuisierung des weiblichen Geschlechts im Kino. Der Film versteht sich als feministischen Urschrei, der sich gegen die üblichen Modi der Repräsentation wendet.

Schräge Kameraperspektiven zeigen, wie sich die Frauen nach und nach aus dem Blick der Männer befreien. Am eindeutigsten geschieht das im Fall von Ruby, die plötzlich allein vor ihrer Laptopkamera sitzt. Niemand ist im Chatroom, sie kann sich nur selbst berichten, was ihr in jener Nacht mit dem Nachbarn widerfahren ist. Der auch auf den Balkonen angelegte Voyeurismus wird durch eine eigentümliche Mischung aus Blickumkehr und Freizügigkeit gedreht. Frauen zeigen ihre Brüste und ihre Mittelfinger. Nacktheit ist hier kein Schauwert, sie ist Ausdruck einer Körperlichkeit, die den Frauen selbst gehört. Das wirkt manchmal befreiend wie ein Rachefilm, manchmal erschreckend pubertär und bemüht.

Übliche Schönheitsideale

Die Hypersexualisierung erschöpft sich rasch, und man fragt sich, ob dem feministischen Statement gegen den voyeuristischen Blick der Männer wirklich geholfen wird, wenn die Hauptdarstellerinnen allesamt den üblichen Schönheitsidealen des Kinos entsprechen. Am beglückendsten ist der Film dann, wenn er spielerisch mit seinen Statements umgeht, etwa als Élise, die von Merlant selbst verkörpert wird, einen lauten Orgasmus vortäuscht, um neugierige Nachbarn zu vertreiben, während ihre Freundinnen den Leichnam des Mannes entsorgen.

«Ich wollte eigentlich eine Liebesgeschichte schreiben», sagt die angehende Autorin Nicole, als sie an der blutverschmierten Leiche herumfuhrwerkt, und bringt damit wohl auch Merlants Motivation zum Ausdruck. Eine Romanze scheint unvorstellbar, das Gegenüber der Geschlechter ist ein unerbittlicher Krieg. Sieht man diesen Film, kann man kaum glauben, dass der romantische Kuss einmal eine der ausdrucksstärksten Szenen des Kinos war. Heute ist das anders.

Filme verstehen sich zunehmend als dramaturgische Hülle für politische Diskurse. In diesem Fall äussert sich das unter anderem in ziemlich platten Dialogen zwischen vergewaltigten Frauen und toten Männern, die nicht einsehen wollen, dass sie Frauen vergewaltigt haben und deshalb ermordet wurden. Immerhin findet der Film einen ganz neuen Ton für die #MeToo-Debatten, indem sich aus dem Durcheinander der Genres und Perspektiven so etwas wie ein genuin weiblicher Blick schält.

LES FEMMES AU BALCON - bande annonce officielle 2024 (Noémie Merlant, Sanda Codreanu)

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