Unter dem Trainer Xabi Alonso scheint Leverkusen unbesiegbar. Schon am Sonntag kann es den Titel holen. Einen Teil des Erfolgs verdankt es Granit Xhaka.
Der Trainer Xabi Alonso
Als Xabi Alonso im Oktober 2022 zu Leverkusen stiess, hatte er ein ziemlich desolates Team von seinem Vorgänger Gerardo Seoane übernommen. Welches Format er als Trainer haben würde, war damals ungewiss. Die Eindrücke, die er in Madrid als Trainer der Junioren von Real und in San Sebastián als Coach der zweiten Mannschaft hinterlassen hatte, waren durchaus seriös. Ebenso gab es jene Stimmen, die ihm schon früh, kurz nachdem er seine Karriere als Spieler beendet hatte, eine glänzende Zukunft als Trainer prophezeit hatten.
Der Schritt in die Bundesliga war kein hohes Risiko: Alonso war vom Potenzial der Equipe überzeugt, zudem fügte sich das Engagement recht geschmeidig in den Karriereplan des Trainers. Ein Coach mit seinen Fähigkeiten konnte in so einer Situation eigentlich nur positiv überzeugen – und sich auf diese Weise einen Namen machen, der für die grössten Klubs der Welt interessant ist.
Dabei ist Xabi Alonso eine schwer zu greifende Erscheinung: Der smarte Baske ist zu jedem freundlich, er ist an der Seitenlinie engagiert wie kaum ein anderer Kollege, aber ihn umgibt auch eine Aura der Unverbindlichkeit. Jüngst erzählte er, dass er es gar nicht so früh geplant habe, die Meisterschaft zu feiern. Aber geplant hatte er sie offenbar schon.
Mindestens ein Jahr werden sie ihn noch in Leverkusen behalten können. Als er diese Entscheidung verkündete – «nach reiflicher Überlegung» –, war die Überraschung bei manchen Experten gross. Allerdings passt es perfekt in den Karriereplan Alonsos: Wer als Kicker einst unbedingt zum Ende der Karriere unter Pep Guardiola spielen wollte, weil dieser ihm als Coach gegnerischer Mannschaften grösste Probleme bereitet hatte, der nimmt jede Gelegenheit wahr, um Erfahrung zu sammeln. Und Xabi Alonso weiss: Mit dieser Mannschaft in der Champions League zu spielen, ist sicher reizvoller, als ins turbulente München zu kommen oder in Liverpool die Nachfolge der Überfigur Jürgen Klopp anzutreten.
Die Mentalität des Teams
Wer über den Trainer Xabi Alonso spricht, kommt nicht umhin, über den Fussball zu reden, den seine Mannschaft spielt. Gewiss könnte man darüber diskutieren, ob der Leverkusener Titelgewinn auch der Schwäche der Konkurrenz geschuldet ist. Nur ist dies müssig. Jeder erfolgreiche Gegner profitiert von der Schwäche seiner Kontrahenten, Leverkusen spielt in dieser Saison derart konsequent auf hohem Niveau, dass selbst die Bayern die beste Saison der Vereinsgeschichte hätten in den Schatten stellen müssen, um mit Leverkusen gleichzuziehen. Nicht nur in der Bundesliga ist die Mannschaft ungeschlagen, sondern auch im Cup und in der Europa League. Das Leverkusener Spiel ist so speziell wie kein anderes in der Bundesliga – und vielleicht gibt es sogar in Europa keine andere Mannschaft, die mit jenen Attributen konkurrieren kann, die die Leverkusener auszeichnen.
Keine andere Mannschaft hat gegen Spielende so viele entscheidende Tore erzielt wie Leverkusen – jüngst erst in der Europa League gegen West Ham. Dass dies mit einer geradezu planbaren Regelmässigkeit geschieht, hat zum einen mit dem Vertrauen in die eigene Methode zu tun: Geduld haben kann nur, wer von sich überzeugt ist. Vor allem aber irritiert die Intensität, mit der diese Mannschaft ihre Gegner konfrontiert. Einen solchen Rhythmus mit vergleichsweise hoher Schlagzahl über mindestens 90 Minuten aufrechtzuerhalten, ist ein Spektakel für sich. Und damit dies gelingt, sind selbst viele exzellente Fussballer wie der junge Florian Wirtz in Angriffs- und Abwehrbemühungen der Mannschaft gleichermassen eingebunden. Leverkusens Auftritte unter Xabi Alonso sind somit die vollständige Emanzipation vom Bild der Leverkusener Schönspieler vergangener Tage, denen im entscheidenden Augenblick der Punch fehlt. Den haben sie heute. Und sie holen dann aus, wenn der Gegner mürbe ist.
Der Klub und der Konzern
Symbiotischer als das Verhältnis des Bayer-Konzerns zum Werksklub ist kein anderes in der Fussballbundesliga. Nicht einmal der VfL Wolfsburg ist so eng mit dem VW-Konzern verbunden wie die Leverkusener mit Bayer, obschon die Wolfsburger schon 2009 eine Meisterschaft feiern konnten. Leverkusen hält dem Verein seit dem Gründungsjahr 1904 die Treue – und das auch in trüben Tagen. Die Förderung des Fussballprojekts war schon in früheren Jahren so grosszügig, dass Leverkusen zeitweise in Konkurrenz zum FC Bayern München treten konnte.
In diesen Jahren erwarb sich Leverkusen den Ruf, attraktiven Fussball zu spielen – ein Image, das dem Financier durchaus gefiel. Nur wäre es diesem noch lieber gewesen, wenn die Gelegenheiten zu einem Titelgewinn schon viel früher genutzt worden wären, etwa im Jahr 2000 oder 2002, als die Mannschaft jeweils im Saisonfinish den Titel verspielte. Und so wirkte es lange Zeit, als profitiere der Klub, der sich seinen Beinamen «Vizekusen» redlich erspielt hat, vom Image des Weltkonzerns mehr als dieser umgekehrt. Nun aber befindet sich der Pharmahersteller in einer seit Jahren währenden Krise – die positiven Nachrichten liefert nun die Mannschaft, die sich selber «Werkself» nennt.
Der Zauberer Florian Wirtz
Manchmal sind es gar nicht einmal die entscheidenden Szenen auf dem Platz, die viel über einen Fussballer verraten. Als die Bayern in der Hinrunde Leverkusen empfingen, geriet Florian Wirtz mit Bayerns Nationalspieler Leon Goretzka aneinander, einem Mann mit ausserordentlich breitem Kreuz. Der wesentlich kleinere Wirtz genoss die Rempelei mit dem arrivierten Kollegen regelrecht, der etwas konsterniert von der Aggressivität des Gegenspielers war. Wirtz war damals 19 Jahre alt. Respekt vor grossen Namen hatte er nicht.
Inzwischen ist er einer der am meisten bewunderten Spieler des Kontinents. Ein Zauberer im Offensivspiel, mit Tempodribbling von höchster Klasse, mit millimetergenauen Pässen, mit Torgefährlichkeit und einem untrüglichen Blick für den besser positionierten Mitspieler. Als Nationalspieler vertraut ihm mittlerweile auch der deutsche Bundestrainer Julian Nagelsmann. Ein grösseres Talent, da sind sich für einmal Fans und Experten einig, hat der deutsche Fussball seit einer Ewigkeit nicht gesehen, nicht einmal Mario Götze wurde mit solchen Superlativen bedacht.
Dabei liegt seine Qualität nicht allein in magistralen Offensivaktionen. Im System des Trainers Xabi Alonso ist er ein unermüdlicher Arbeiter, wer vom «Fussball total» redet, der findet in ihm den idealen Vertreter. Die Kilometer, die er abspult, gereichen manchem defensiven Mittelfeldspieler zur Ehre, seine Zweikampfstärke kann manche Innenverteidiger neidisch machen.
Alles, was er auf dem Feld tut, hat einen Zweck, ist zielstrebig, ohne Schnörkel. Jüngst erst trat er seine ersten beiden Penaltys für seine Mannschaft. Er verwandelte beide – ohne den eitlen Versuch, den Torwart per Lupfer in die Tormitte zu verladen, ohne eitle Trippelschritte. Wirtz platzierte den Ball staubtrocken neben den Pfosten. An diesem Spieler ist alles seriös.
Der Leader Granit Xhaka
Leverkusens Erfolg ohne Xabi Alonso? Unmöglich. Und ohne Granit Xhaka? Mindestens schwer vorstellbar. Xhaka ist das ausführende Organ seines Trainers auf dem Feld. Wer den Spieler besonders loben möchte, der könnte über ihn sagen, dass Xabi Alonso in Xhaka den Spieler gefunden habe, der er selber einst auf dem Feld gewesen sei. Wenn Xhaka darauf angesprochen wird, wird er verlegen. Und schon dieser Umstand zeigt, dass der Schweizer eine bemerkenswerte Reifung hinter sich hat.
Er ist nicht nur der Leader dieser Mannschaft, er ist in seiner Rolle so vorbildlich, dass man glaubt, der alte, impulsive, sich bisweilen selbst schädigende Xhaka sei verschwunden. Xhaka ist nach wie vor ein recht aggressiver Spieler. Allerdings hat er gelernt, sich selber zu disziplinieren. Sein Temperament hat er in verträgliche Bahnen gelenkt, gerade einmal vier gelbe Karten kassierte er bisher. Der Sportdirektor Simon Rolfes schätzt sich glücklich, in ihm einen Spieler gefunden zu haben, der einem talentierten Team jene Orientierung geben kann, die es braucht.