Dienstag, Oktober 8

Schon vor dem Krieg zwischen Israel und dem Hizbullah gab es in Libanon keinen funktionierenden Staat. Jetzt droht das Land angesichts der Million Flüchtlinge und der Zerstörungen endgültig zu kollabieren.

Abdou und seine Männer sehen müde und abgekämpft aus. Jede Nacht, wenn über Beirut die Bomben fallen, rücken sie aus. In klapprigen Jeeps und altersschwachen Feuerwehrautos fahren sie von ihrer Wache im Ort Hadath hinüber ins benachbarte Dahiyeh, die schwer beschossene schiitisch dominierte Vorstadt von Beirut, um Feuer zu löschen, Verletzte und Tote zu bergen und Trümmer wegzuräumen.

Die Mannschaften des libanesischen Zivilschutzes stehen in diesem Krieg, der Teile der libanesischen Hauptstadt und des Landes in den vergangenen zwei Wochen in Todeszonen verwandelt hat, an vorderster Front. Natürlich sei es gefährlich, sagt Abdou, der seinen Nachnamen nicht nennen will. «Aber wir tun hier nur unsere Pflicht.»

Trotz dem Todesmut, den die 2800 Mitglieder des Zivilschutzes in diesen Zeiten an den Tag legen, sind ihre Mittel begrenzt. «Unser letztes Fahrzeug bekamen wir im Jahr 2001», sagt Abdous Chef, Joseph Abou Chaya, der Einsatzleiter des Zivilschutzes, in seinem zerbröselnden Hauptquartier in Beirut. «Uns fehlt es an vielem, vor allem aber an Splitterschutzwesten und feuersicheren Jacken.»

1,2 Millionen Menschen auf der Flucht

Sechs Männer hat Abou Chaya in diesem Krieg bereits verloren. Zwar warnen die Israeli hin und wieder die Zivilschutzbrigaden vor bevorstehenden Angriffen. Dennoch begeben sich die Retter jede Nacht in Lebensgefahr, wenn sie in die Viertel und Dörfer fahren, die heftig bombardiert werden.

Der offene Krieg zwischen Israel und der Schiitenmiliz Hizbullah richtet in Libanon gewaltige Schäden an. Jede Nacht erzittert die Hauptstadt Beirut unter israelischen Bomben. Im Süden und im Osten des Landes wurden ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Über 2000 Menschen sind in dem 6-Millionen-Land getötet worden, mehr als 1,2 Millionen befinden sich auf der Flucht. Und mit jedem neuen israelischen Evakuierungsbefehl im Süden werden es mehr.

Das kleine Land kann diese humanitäre Katastrophe nicht stemmen. Denn fast alles hier ist ähnlich heruntergewirtschaftet wie der Zivilschutz: Nach Jahren der Korruption und Misswirtschaft und einer tiefen Wirtschaftskrise ist vom Staat Libanon lediglich eine leere Hülle übrig, die angesichts der israelischen Hammerschläge komplett zusammenzubrechen droht.

Die Chefs der lokalen Krisenstäbe in Städten wie Sidon oder Zahle, wo besonders viele Flüchtlinge stranden, klagen über mangelndes Krisenmanagement und fehlendes Geld. In den Ministerien versuchen viele Mitarbeiter, so gut zu arbeiten, wie es in den jeweiligen Bereichen möglich ist. So kümmert sich das Gesundheitsministerium um die Spitäler und die Versorgung mit Medikamenten, während sowohl das Sozial- als auch das Umweltministerium für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig sind.

Hilfe aus dem Ausland

Doch in einem Land, in dem schon zu Friedenszeiten kein Strom fliesst und Strassen nicht mehr repariert werden, ist das ein Ding der Unmöglichkeit. «Libanon kann so eine Krise eigentlich nicht bewältigen und ist deshalb auf Hilfe von aussen angewiesen», sagt Tess Ingram, die Sprecherin der Unicef in Beirut. Das Hilfswerk hat angesichts der Katastrophe seine Aktivitäten im Land erweitert, neues Personal eingeflogen und eine Sammelaktion gestartet, um 105 Millionen Dollar zu akquirieren. «Damit können wir wenigsten die nächsten drei Monate arbeiten», sagt Ingram.

Die Amerikaner haben 157 Millionen Dollar versprochen – was angesichts der umfangreichen Waffenhilfe an Israel vielen Menschen in Beirut wie Hohn erscheint. Auch die finanzstarken Golfstaaten wollen helfen. Aber das alles reicht kaum aus, um der Katastrophe Herr zu werden. Fast zwei Wochen nach der grossen Flucht aus den Dörfern im Süden schlafen in Beirut immer noch ganze Familien auf den Strassen. Die Ärmsten der Armen – wie die afrikanischen Hausangestellten oder syrische Flüchtlinge – bekommen so gut wie keine staatliche Hilfe.

Zudem beklagen sich viele Libanesen darüber, dass gerade von der internationalen Gemeinschaft zu wenig komme. «In der ersten Woche habe ich davon gar nichts gesehen», sagt etwa der Chef des Krisenstabs in der Stadt Sidon. «Jetzt ändert sich das wenigstens.»

Auf dem Flughafen von Beirut, wo die Piloten der nationalen Fluggesellschaft MEA ihre Airbusse selbst im Bombenhagel starten, als wäre es das Normalste der Welt, landen tatsächlich immer mehr Frachtmaschinen mit Hilfsgütern. Am Sonntagmittag setzt ein Jet aus Kopenhagen auf – mit 25 Tonnen Medikamenten und Hygieneartikeln der Unicef, die dem Gesundheitsministerium zur Verteilung übergeben werden. Firas Abiad, der zuständige Minister, ist höchstpersönlich zur Übergabe erschienen.

«Wir machen das nicht zum ersten Mal»

Abiad gilt im aus Günstlingen und Opportunisten bestehenden Kabinett als einer der wenigen fähigen Männer. Der Chirurg hatte 2020 zu Covid-Zeiten die Pandemiebekämpfung geleitet und kennt sich aus mit Krisenmanagement im libanesischen Chaos-Staat. Doch als er auf dem Rollfeld auf die heranrollende Maschine wartet, greift selbst er auf Durchhalteparolen zurück: «Die Hilfe aus dem Ausland ist wichtig, schon allein deshalb, weil wir jetzt merken, dass wir nicht ganz alleine sind», sagt er. Aber das reiche nicht.

Die meisten Libanesen fühlen sich alleingelassen. Sie helfen sich deshalb wie so oft selbst. Im «Suk al Tayeb», einem Restaurant mit angeschlossener Garage im christlichen Ostbeirut, wo normalerweise am Samstag ein Bio-Markt stattfindet, sind jetzt Dutzende Helfer dabei, Essen zu kochen, abzupacken und in die Lastwagen von Hilfsorganisationen zu hieven, die die Lebensmittelrationen später an Flüchtlinge verteilen.

«Wir machen das nicht zum ersten Mal», sagt Christine Codsi, eine der Organisatorinnen. Sie habe schon 2020 für Bedürftige gekocht, als in Beirut der Hafen explodierte und der Staat ebenso überfordert schien wie jetzt. «Wir Libanesen sind das leider gewohnt», sagt sie.

«Das Problem ist nur: Lange durchhalten können wir nicht. Zurzeit greift uns eine internationale Hilfsorganisation finanziell unter die Arme. Wenn das Geld weg ist, wird es jedoch schwierig.»

Neben den Angestellten arbeiten im «Suk al Tayeb» auch Freiwillige, wie Rukaya Ajami, die eigentlich Fitnesstrainerin ist. Die 33-Jährige lebt im Hipsterviertel Mar Mikael, wo am Wochenende normalerweise gefeiert wird. Jetzt hat auch hier der Krieg Einzug gehalten. Ajamis Familie war vor anderthalb Wochen Hals über Kopf aus der Stadt Tyros im Süden nach Beirut geflohen. «Meine Eltern und Geschwister haben in meiner Einzimmerwohnung gelebt, bevor sie dann über Syrien und den Irak zu meinem Bruder nach Sierra Leone ausreisen konnten», sagt sie.

Die Parteien haben ihre eigenen Hilfsprogramme

Doch die engagierten Bürger sind mit dem Ausmass des Krieges und des Leids ebenso überfordert wie der ohnmächtige Staat. Deshalb springen vielerorts dann ausgerechnet diejenigen Institutionen ein, die von vielen Libanesen eigentlich für die Zerstörung ihres Landes verantwortlich gemacht werden: die mächtigen, konfessionell ausgerichteten Milizen und Parteien, die Libanon seit je in Geiselhaft halten. Die Grossen unter ihnen unterhalten längst eigene Hilfsprogramme.

So verfügte der Hizbullah bei Kriegsausbruch nicht nur über einen bewaffneten Flügel, sondern auch über Spitäler, Sozialeinrichtungen und sogar einen eigenen Zivilschutz, der in den von ihm kontrollierten Gebieten im Einsatz ist. Aber diese Organisationen geraten inzwischen ebenso unter israelisches Feuer wie die Kämpfer der Miliz. Jüngst wurden in Südlibanon mehrere Spitäler bei Angriffen zerstört, und erst vor ein paar Tagen bombardierte Israel ein Gebäude des islamischen Hilfsdienstes in Beirut.

In Aley hingegen, hoch oben in den Bergen östlich von Beirut, funktioniert der Apparat der dort herrschenden Sozialistenpartei PSP des Drusenführers Walid Jumblatt einwandfrei. Seine Leute betreiben mehrere Schulen, die zu Flüchtlingsunterkünften umgewandelt wurden. Man sei eben vorbereitet gewesen, Jumblatt habe es kommen sehen, sagt Ribal Abou Sakin, der hier als Leiter des Krisenstabs fungiert. An der Wand in seinem Büro hängen die Porträts von Kamal und Walid Jumblatt, Vater und Sohn jener Sippe, welche die Gebiete der Drusen-Minderheit seit Jahrzehnten wie Feudalherren regiert.

In den Unterkünften verteilen Aktivisten mit PSP-Logo am Revers derweil Essen an die Bedürftigen. Auch hier sind ganze Familien aus Südlibanon untergekommen. Manche von ihnen sind nicht zum ersten Mal da. «2006, beim letzten Krieg, sind wir auch schon hierhergeflohen», sagt Ali Kamel Rmanti, ein Flüchtling aus dem Süden. «Es ist, als würde sich die Geschichte wiederholen.»

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