Die Liberalen seien zu unambitioniert geworden, sagt der Rechtshistoriker Samuel Moyn. Was er unter Ambition versteht, hat mehr mit Sozialismus als mit Freiheit zu tun.
Liessen sich mit Debatten über die eigenen Prinzipien Wahlen gewinnen, wären die Liberalen unschlagbar. Wohl über keine politische Tradition wird so leidenschaftlich gestritten wie über den Liberalismus. Wobei die Argumente für oder gegen eine bestimmte Auffassung meist mehr über den Urheber aussagen als über den Liberalismus.
Das ist im Fall von Samuel Moyn nicht anders. Mit dem jüngst auf Deutsch veröffentlichten «Der Liberalismus gegen sich selbst» hat der Historiker in den USA eine kontroverse Debatte ausgelöst. Das Buch ist eine beissende Kritik an dem, was Moyn als «Kalter-Krieg-Liberalismus» bezeichnet. Doch es liefert mehr Einblicke in seine eigene Positionierung als Erkenntnisse über das Objekt seiner Analyse.
Freiheit – wozu denn?
Ein Grundproblem liegt darin, dass Moyn einer Definition von Liberalismus ausweicht. Dennoch zeigt er natürlich implizit, welchem Verständnis von Liberalismus er selbst anhängt. Es ist selbst im amerikanischen Kontext, wo «liberalism» den Gegenpol zum Konservatismus bildet, klar links angesiedelt.
Freiheit ist für Moyn kein zentraler Wert, sondern letztlich eine nicht wirkliche Annehmlichkeit, die höheren Zielen wie der «kollektiven und persönlichen Selbsterschaffung» ziemlich bedenkenlos geopfert werden kann. Was mit dieser «Selbsterschaffung» genau gemeint ist, bleibt allerdings unklar.
Moyns reichlich vage und verzerrte Auffassung von Liberalismus zeigt sich etwa, wenn er schreibt, dass «Liberale auf der ganzen Welt die ambitioniertesten, interventionistischsten und grössten – wie auch die egalitärsten und redistributivsten – liberalen Staaten errichteten, die es je gegeben hat». Welche Staaten das waren, lässt er offen, aber interventionistische, grosse und redistributive Staaten als liberal zu bezeichnen, zeugt von einer seltsamen Auffassung des Begriffs.
Moral und Politik
Für seine utopische Vision greift Moyn selektiv auf Denker vergangener Zeiten wie Rousseau oder Hegel, ja sogar auf Marx zurück. Andere wie Locke oder Tocqueville werden demgegenüber zurückgestellt. Das erscheint als plumper Trick, um anschliessend die Liberalen zu Zeiten des Kalten Kriegs als empathie- und ambitionslose Reaktionäre brandmarken zu können.
Moyn teilt sein Werk in sechs Kapitel auf. Jedes ist einer Figur gewidmet, an der er sich abarbeitet. So kritisiert er Isaiah Berlin dafür, dass er die Romantik zwar bewundert, aber nicht in seine liberale Theorie aufgenommen habe. Berlin habe es versäumt, «Interesse an der Institutionalisierung sowohl von sozialer Gerechtigkeit als auch von Handlungsfreiheit und kreativer Handlungsmacht als solcher an den Tag zu legen».
Ähnliches wirft Moyn im Vorbeigehen auch dem linksliberalen Säulenheiligen John Rawls vor. Dieser habe «eine Rücksichtnahme auf das gute Leben» abgelehnt und stattdessen «Koexistenz und Toleranz Vorrang» eingeräumt. Da vermisst man eine klare Definition von Liberalismus besonders schmerzlich. Denn die Trennung von Moral und staatlicher Politik muss eigentlich als zentrale Säule des liberalen Denkens betrachtet werden. Wenn man sie zugunsten eines kollektiven Strebens nach dem «guten Leben» aufgibt – was unterscheidet den Liberalismus dann noch vom Sozialismus?
Karl Popper kritisiert Moyn unter anderem für dessen Aussage, dass «weiterreichende Ziele niemals kurzfristige Verbrechen rechtfertigen» könnten. Eine solche Auffassung verunmögliche es, «überhaupt ein kollektives historisches Fortschreiten anzustreben». Moyn impliziert somit, dass ein solches «kollektives historisches Fortschreiten» Verbrechen notwendig machen kann.
Noch härter geht Moyn mit Hannah Arendt ins Gericht, der er «neoimperiale und rassistische Verstrickungen» unterstellt, weil sie die Dekolonialisierung mit Skepsis betrachtete und zugleich den Zionismus befürwortete.
Progressive Utopien
Was Moyn vor allem stört, ist, dass die Denker, mit denen er sich auseinandersetzt, seine Begeisterung für progressive Utopien nicht teilen. Stattdessen fokussierten sie auf die Ablehnung von Totalitarismus und Freiheitsbeschränkungen. Dabei hätten sie «übertrieben auf die Bedrohung reagiert, welche die Sowjets darstellten», so Moyn. Man mag diesen Fokus, der teilweise zur Obsession wurde, nicht teilen. Doch dass Liberale, welche die Freiheit hochhalten, durch ihre Einschränkung alarmiert sind, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Geradeso gut könnte man Sozialisten, die Wirtschaft als eine Sache des Kollektivs betrachten, die Ablehnung von Privatisierungen zum Vorwurf machen.
Moyns Kritik am «Kalter-Krieg-Liberalismus» entlarvt sich so als leicht durchschaubarer Versuch, durch Abwertung unerwünschter Auffassungen eine bestimmte ideologische Position zu befördern. Indem er die eigenen Vorstellungen auf den Liberalismus projiziert, kann er seinen Gegnern die Abkehr von liberalen Idealen vorwerfen. Ob seine Vorstellungen mit Liberalismus viel zu tun haben, ist allerdings mehr als fraglich.
Samuel Moyn: Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 303 S., Fr. 44.90.