Dienstag, November 26

Sayaka Murata hat alle wichtigen Literaturpreise Japans gewonnen. In ihren Romanen thematisiert sie die prekäre Lebenswelt der Generation Z – wie etwa 24-Stunden-Supermärkte. Ihre Figuren sind Überlebende, denen vor lauter Überleben die Lebenskraft fehlt.

Sayaka Murata, die 1979 geborene Schriftstellerin, steht für eine neue Generation von Stimmen aus Japan. Zurückhaltend im Auftreten, spricht sie mit einer ebenso präzisen wie poetischen Sprache etwas an, was viele ihrer Generation nur zu gut kennen. Es ist ein Gefühl von Ungewissheit angesichts der sozioökonomischen Lage des gegenwärtigen Japan, wo sie ihre Erzählungen ansiedelt.

Als Autorin ist Sayaka Murata seit zwei Dekaden mit ihren Werken präsent und in ihrem Heimatland längst keine Unbekannte mehr. Als jedoch 2016 ihr Werk «Konbini ningen» (deutsch: «Die Ladenhüterin») mit dem wichtigsten Literaturpreis Japans, dem Akutagawa-Preis, ausgezeichnet wurde, erlangte sie mit einem Schlag weit über die Landesgrenzen hinaus Bekanntheit.

Spektakulär war dieser Juryentscheid in der Tat, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen gelang hier einer Schriftstellerin der Durchbruch, die als Verkäuferin in einem «Konbini» arbeitete, japanisch für Convenience-Store. Rund fünfzigtausend solcher Läden gibt es in Japan, und sie prägen mit ihrem standardisierten Sortiment für den täglichen Bedarf das Strassenbild in Grossstädten ebenso wie auf dem Land.

Der zweite Grund für Muratas Popularität ist das hohe Potenzial der Identifikation mit ihren prekären Figuren, die gesellschaftliche Erwartungen nicht erfüllen können oder wollen. Es ist demnach weniger ein Scheitern als eine Verweigerung, in der sich die eine radikal andere Perspektive auf die scheinbare Normalität wirft.

Nonkonformisten und Überlebende

Muratas Antihelden sind stille Nonkonformisten, die zunächst mit Rückzug reagieren. Ihre Strategien sind unkonventionell und beinahe witzig, scheitern jedoch an der Fragilität der Figuren selbst und unter der Last normierter Vorstellungen, die wenig Spielraum lassen für abweichende Lebensweisen. Ihre Beziehungen spiegeln die ausbeuterische Mentalität des neoliberalen Kapitalismus.

Die Figuren sind Überlebende, denen vor lauter Überleben die Lebenskraft abhandengekommen ist. Durch Mobbing oder Ausgrenzung traumatisiert, versuchen sie sich ein eigenes Leben einzurichten und kommen schlecht klar mit anderen Menschen.

Dies illustriert die «Ladenhüterin» Keiko, die im Korsett der bis ins Detail vorgeschriebenen Verhaltensregeln des Ladens einen Halt findet, sozusagen eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit anderen. Die Uniformität macht vor den Produkten nicht halt, sondern umfasst auch die Angestellten. Von der vorgegebenen Begrüssungsformel über die klar definierten Antworten und Floskeln bis hin zur jahreszeitlichen Dekoration ist hier alles bis ins Detail geregelt.

Nicht nur das, Keiko erlebt den Mikrokosmos des Konbini mit seinen vertrauten Geräuschen und der klar strukturierten Ordnung als Ort der Geborgenheit. Sie vergleicht den Laden mit dem geschützten Raum eines maschinellen Mutterleibes, der einen rund um die Uhr mit allem Notwendigen versorgt, wärmt und schützt. Hier, in diesem Laden, ist sie sicher.

Eine weitere Sicherheit soll ihr das Arrangement mit Shiraha geben, einem Mann ebenfalls um die dreissig, der wie Keiko sich nicht dem Druck seiner Angehörigen beugen und keine Familie gründen will. Denn eine Familie muss man sich leisten können, was viele Menschen vor finanzielle Probleme stellt.

Beschuldigt werden die Frauen

Wenngleich die Hürden für eine Familiengründung für Männer und Frauen gleichermassen hoch sind, wird in Japan für das daraus resultierende demografische Dilemma weiterhin der weibliche Bevölkerungsanteil verantwortlich gemacht. Statistiken, die nach dem alten Schema operieren, wie viele Kinder pro Frau geboren werden, verstellen den Blick auf tiefer liegende strukturelle Probleme in einer Gesellschaft, deren Ideale sich nicht länger mit der Realität vereinbaren lassen. Gar eine Geburtenpflicht für Frauen stand im Parlament schon zur Debatte – eine Forderung, der jedoch mit scharfem Widerspruch begegnet wird.

Muratas Texte zeigen die destruktiven Auswirkungen starrer Rollenbilder auf den Einzelnen oder die Einzelne mit schmerzhafter Deutlichkeit auf. Die sozialen Dystopien in ihren fiktiven Welten sezieren das idealisierte Narrativ der heteronormativen Kernfamilie, in der Produktion und Reproduktion entlang der binären Linien traditioneller Geschlechterbilder – der Mann als Lohnarbeiter in regulärer Anstellung, die Frau als Care-Workerin in Mutterschaft und Ehe – angeordnet sind.

Den Horror dieser Maschinerie beschreibt Sayaka Murata mit grauenerregenden Bildern. In der «Ladenhüterin» ist es die dysfunktionale Beziehung zwischen zwei Menschen, die nicht in dieses Schema hineinpassen: Die Protagonistin Keiko jobbt in einem Konbini und denkt nicht daran, ihre Anstellung gegen die Rolle als Hausfrau und Mutter zu tauschen.

Nun ist es nicht so, dass ihr diese Arbeit ökonomische oder individuelle Freiheiten gibt: Der Stundenlohn liegt knapp über dem Mindestlohn, und sie ist angewiesen, ihre Freizeit so zu gestalten, dass sie ausgeruht und konzentriert bei der Arbeit erscheint. Die Pluspunkte sind für Keiko jedoch klar: Sie ist unabhängig, hat ihre Ruhe und fühlt sich aufgehoben im Mikrokosmos des Konbini.

Weil dies jedoch die reinste Provokation für ihr Umfeld ist, das nicht versteht, warum sie keine Kinder und keine Familie will, lässt sie sich auf eine Scheinbeziehung ein. Diese stellt sich jedoch schon bald als unerträglich heraus, denn während Keiko die volle Last als Ernährerin trägt, finanziell wie auch im wortwörtlichen Sinne der Sorgearbeit, sondert ihr parasitärer Partner evolutionäre Theorien zur männlichen Überlegenheit ab und setzt sie herab.

Was stärkt den Menschen?

Dieses Szenario spitzt sich im Roman «Das Seidenraupenzimmer» noch zu, indem die Protagonistinnen und Protagonisten sich radikal den gesellschaftlichen Vorstellungen verweigern, dabei an ihre Grenzen stossen und sich gegenseitig kannibalisieren. Der Aussteigertraum scheitert an der eigenen Lebensuntauglichkeit, denn der totale Rückzug vom sozialen Stress in eine eigene Welt erscheint zwar als einziger Ausweg, doch fehlt den Figuren die Vitalität, dem etwas Eigenes entgegenzusetzen. Sie flüchten in eine Weltraumphantasie, die in ihrer Konsequenz in völlige Regression mündet.

Sexualität als Mittel zur Reproduktion wird als Fütterung der Gebärfabrik abgelehnt, stattdessen konsumiert man sich gegenseitig in einem kannibalistischen Akt der Einverleibung. Die wenig subtilen Szenen münden in einen dissoziativen Albtraum, aus dem es keinen Ausweg mehr zu geben scheint.

Ebenfalls nichts für schwache Nerven ist der kürzlich in deutscher Übersetzung erschienene Band «Zeremonie des Lebens». Der normative Traum von der heilen Familie dient hier allein der Stimulation der Produktion von ausbeutbarem menschlichem Material, das der Verwertung zugeführt werden kann. Mit der ihr eignen visionären Radikalität findet Sayaka Murata die Worte, um aus der Ohnmacht auszubrechen und neue Wege zu denken.

Nun, was stärkt den Menschen? In einem persönlichen Gespräch sagte Sayaka Murata einmal, dass sie Menschen dazu ermutigen möchte, einander zu bestärken. Indem man nicht wegschaut, wenn jemand gemobbt oder ausgegrenzt wird, sondern auf die Person zugeht und nachfragt, kann Resilienz gestärkt werden. Denn Zuhören und Warmherzigkeit können zur Entwicklung innerer Ressourcen beitragen, um dem Druck der Gesellschaft nicht nur einen eigenen Lebensentwurf entgegenzusetzen, sondern diesen auch in die Tat umzusetzen und zu leben.

Indem Murata die Möglichkeiten und Begrenzungen der Figuren auslotet und ihnen zuhört, lässt sie die Lesenden an diesen Erfahrungen teilhaben und verleiht ihnen eine Stimme. Sayaka Murata gibt diesen ausgesonderten Stimmen durch ihre Literatur eine Plattform und schreibt sie wieder in die Mitte der Gesellschaft ein.

Die Werke von Sayaka Murata erscheinen in der Übersetzung von Ursula Gräf im Aufbau-Verlag. Am Mittwoch, dem 31. Januar, wird die Autorin sich und ihr Werk im Zürcher Literaturhaus dem Publikum vorstellen. Beginn 19 Uhr 30. Gespräch auf Japanisch mit deutscher Übersetzung: Daniela Tan, Lesung auf Deutsch.

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