Fast alle gendern. Auch der Bundeskanzler. Wo die Idee aufkam, beide Geschlechter in der Anrede ausdrücklich zu nennen, darüber ist in Deutschland eine Debatte entfacht.

«Die dunkle Seite des Genderns», titelte ein deutsches Onlineportal kürzlich und sprach mit unverhohlener Häme von einer «erschütternden historischen Enthüllung», die ein völlig neues Licht auf die Genderdebatte in Deutschland werfe. Die «Enthüllung» war in einem Artikel in der «Welt» zu lesen. Der Feuilletonredaktor Matthias Heine hatte dort die These vertreten, das Gendern sei nicht erst in den achtziger Jahren von feministischen Linguistinnen erfunden worden. Sondern schon viel früher. Vor hundert Jahren nämlich. Und zwar von Adolf Hitler.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Am 15. Juli 1925, schrieb Heine, habe der Vorsitzende der NSDAP in Zwickau eine öffentliche Rede mit den Worten begonnen: «Meine lieben Volksgenossinnen und Volksgenossen». Die Nennung beider Geschlechter statt der Verwendung des generischen Maskulinums sei damals ein Novum gewesen. Und würde dieses Jahr also ein Jubiläum feiern. Aber eines, das der genderbewussten Linken gar nicht bewusst sei. Und das ihr mehr als peinlich wäre. «Gendern wie Hitler», so titelte Heine den Text und legte dar, dass Hitler die geschlechtergerechte Anrede konsequent verwendet habe. Und damit als Ahnherr des Genderns betrachtet werden könne.

Für Befürworterinnen und Befürworter der geschlechtergerechten Sprache war das ein harter Schlag. Die Idee, Sprache so zu gestalten, dass Geschlechter und Geschlechtsidentitäten in ihr sichtbar werden, sollte auf die Nationalsozialisten zurückgehen? Das war kaum zu glauben. Und durfte nicht sein. Kritiker der Gendersprache dagegen spürten Aufwind. Wenn die in ihren Augen unerträgliche «sprachliche Gleichschaltung» tatsächlich von den Nazis erfunden wurde, dann war sie ein für alle Mal korrumpiert. Darf man noch gendern, wenn man sich dabei in eine Tradition stellt, die mit Hitler beginnt?

Auch der Bundeskanzler gendert

Klar, Binnen-I, Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich als Kennzeichen genderbewusster Schreibweise sind von dem Verdacht frei, ein heimliches Erbstück der Nationalsozialisten zu sein. Aber ausgerechnet die eleganteste, in der gesprochenen Sprache üblichste und mittlerweile unbestrittene Form des Genderns wäre erledigt. Die Form, die sogar Bundeskanzler Friedrich Merz in seinen Ansprachen praktiziert, obwohl er sich mehrmals gegen das Gendern geäussert hat.

Natürlich müsse es nicht gegen das Gendern sprechen, dass Hitler einer seiner wichtigsten Pioniere gewesen sei, schrieb der «Zeit»-Kolumnist Harald Martenstein in ironisch-milder Boshaftigkeit. Den 1. Mai feiere man schliesslich auch, obwohl ihn die Nazis zum Feiertag gemacht hätten. Aber es sei doch bezeichnend, dass ein «für das deutsche Selbstverständnis so zentrales Jubiläum wie 100 Jahre Gendern» in aller Stille begangen werde.

Das österreichische Online-Magazin «Exxpress» stellte klar, dass Hitler natürlich nicht aus feministischen Motiven gegendert habe, sondern dass es ihm darum gegangen sei, Frauen ausdrücklich in das einzubinden, was er als «Volksgemeinschaft» bezeichnet habe. Und erinnerte an andere «Marotten der geschlechtergerechten Sprache», die aus dem «Dritten Reich» stammten, ohne dass dies den Leuten heute noch bewusst sei. Die Verwendung des substantivierten Partizips als geschlechtsneutrale Bezeichnung zum Beispiel. Schliesslich habe es unter den Nazis eine «Reichsschaft der Studierenden» gegeben.

Das Killerargument

Damit war die liebevoll gepflegte Debatte über Gendersprache wieder einmal aufgeflammt. Die Gegner schienen ein Killerargument in der Hand zu haben. Nur, so ganz stimmte die Sache eben nicht. Wenig später meldete sich Matthias Heine noch einmal zu Wort. Und stellte richtig: Die Verwendung von Doppelformen wie «Volksgenossinnen und Volksgenossen» sei zwar ein wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Sprachpraxis gewesen, schrieb er. Nur, erfunden hätten sie die Nazis nicht.

Hitler hatte die Anredeform nur übernommen. Und zwar von den Sozialdemokraten. Dort war die Begrüssung «Genossinnen und Genossen» schon viel früher, nämlich am Ende des 19. Jahrhunderts, aufgekommen. Zu den Ersten, die sie verwendeten, gehörten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. 1886 begrüsste Liebknecht deutsche Gewerkschafter auf einem Sozialistentreffen in New York mit diesen Worten, und um die Jahrhundertwende sprach der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert schon ganz selbstverständlich von «Arbeiterinnen und Arbeitern».

Alles in Ordnung also, weitermachen. Die Aufregung endete, noch bevor sie richtig hochkochen konnte. Hitler hat das Gendern nicht erfunden. Aber gesetzt den Fall, er hätte – was wäre dann? «Gendern? Geht gar nicht! Denn Adolf Hitler hat’s erfunden! Oder, halt – doch nicht? Na dann», schrieb die «TAZ» und brachte damit eine leicht bizarre Moraldebatte auf den Punkt, bei der es vor allem darum ging, den Befürwortern des Genderns, die sich auf der richtigen Seite glaubten, zu zeigen, dass sie eine politisch kontaminierte, höchst bedenkliche Sprache pflegen.

Ob man die Nennung der beiden Geschlechter schon als Gendern bezeichnen kann, ist unter Sprachwissenschaftern übrigens umstritten. Der Germanist Eckhard Meinecke hält sie lediglich für eine «Form der differenzierenden Anrede». Für eine «Achtung symbolisierende Adressierung». Von Gendern könne erst gesprochen werden, wenn die sprachliche Ausdrucksweise eine ideologische Grundlage habe. Womit die Diskussion wieder am Anfang wäre.

Exit mobile version