Freitag, Oktober 18

Unser Nachtfalter flattert diesmal bis nach Süditalien: In Siziliens Hauptstadt landet er auf Theken von Bars und Zuckerbäckerinnen.

Unser Falter reibt sich die Facettenaugen mit Blick auf den Namen dieser Bar: «Farmacia Alcolica». In seiner Heimatstadt Zürich verschleiern Trinklokale ihren Zweck hinter unverfänglichen Namen, doch im untersten Zipfel des südlichen Nachbarlands weiss man die Sinne raffinierter zu vernebeln.

Es ist Mitternacht, in der Altstadt von Palermo wird mitten im Oktober der Sommer gefeiert. Das vor zwanzig Jahren noch verrufene Kalsa-Viertel mit arabischen Ursprüngen vibriert heute als Ausgehviertel voller Barkultur. Schulter an Schulter drängt sich das Volk in schmalen Gassen wie der Via Alessandro Paternostro und zeigt dem Zürcher, was wahre «mediterrane Nächte» sind.

Die «Farmacia Alcolica» ist vollgestopft mit Möbeln und Trödel, von der Decke baumeln alte Velos, die im vorwiegend motorisierten Strassenverkehr einen schweren Stand haben, während Fussgängerinnen halsbrecherisch auf schmalen Gehsteigen balancieren. Die Serviceangestellte, auf deren Arm Botticellis Venus tätowiert ist, bringt das Originalschächtelchen eines Arzneimittels zur Senkung des Cholesterinspiegels: Atorvastatin. Statt Pillen und Beipackzettel enthält der Karton aber die gefaltete Getränkekarte, die Signature-Drinks sind nach Medikamenten benannt.

Lieber dem Barkeeper als dem Apotheker! Die Gefährtin bestellt Novalgin, eine Margherita-Variation mit Limoncello, die statt Schmerzen den Durst stillt, und der Falter greift trotz Stimmungshoch zu Prozac (€ 12.–). So nennt sich hier ein erfrischender Longdrink mit Gin und Angostura: Diesen Bitter, vor genau zweihundert Jahren als Mittel gegen tropische Magen- und Darmerkrankungen kreiert, führt heute jede gute Bar. So verschwimmt die Grenze zwischen Alkoholgenuss und Medizin.

Schwindel befällt allerdings selbst Stocknüchterne in Siziliens Hauptstadt, die das pralle Leben so betörend mit morbiden Noten verbindet: Direkt vor der Kapuzinergruft, in der Tausende mumifizierte Tote als touristische Hauptattraktion hängen, werden reife Früchte feilgeboten, frisch renovierte Palazzi erstrahlen zwischen verfallenen Häusern, und in Müllgestank mischt sich der verführerische Duft der Strassenküchen, wo Herzen, Därme und Milz schmoren. In diesen Widersprüchen blüht Palermo auf, das sich etwas aus dem Würgegriff der Mafia gelöst und vor sechs Jahren als Kulturhauptstadt Italiens herausgeputzt hat.

Auf der bevölkerten Piazza Quattro Canti wird fast rund um die Uhr musiziert, ein älterer Strassenkünstler singt gerade Gutenachtlieder voller Nostalgie. Zwei Streifenpolizisten fahren vor und hören zu, während ihre Kollegen anderswo eingreifen: Nahe der modernen Hafenanlage, auf Hochglanz poliert wie von einem anderen Stern, sind sie mit Blaulicht ausgerückt, um Parkbussen im Akkord zu verteilen. So profitiert das Gemeinwesen vom Nachtleben.

Glücklich wird hier auch, wer sich ans Sprichwort «Lieber dem Bäcker als dem Apotheker» hält. Fast so zahlreich wie die Graffiti an den Wänden erscheinen Cannoli in den Händen, und besonders gute gibt es hinter leicht maroden Klostermauern: Das Monastero di Santa Caterina wurde vor siebenhundert Jahren gegründet, vor zehn Jahren zogen die letzten drei Dominikanerinnen aus, seit 2017 dient es als Museum.

Kaum ein Besucher aber verweilt vor den in Vitrinen ausgestellten Madonnen und Monstranzen, fast alle steuern auf die Warteschlange unter einem blutenden Christus am Kruzifix zu, die im Kreuzgang Einlass ins Paradies begehrt: In einer Ecke gibt es unter dem Titel «I segreti del chiostro» Süssgebäck vom Feinsten, nach alten Rezepten der einstmals zwanzig Klöster der Stadt.

Man zieht eine Nummer, und neben einem zweiten leidenden Heiland zeigt eine blutrote Zahl elektronisch an, wer dran ist. Ein Muss sind die Cannoli (€ 3.50), lang wie eine ausgewachsene Hand und zu den besten weit und breit zählend. Die Teigrolle bleibt knusprig, wird doch vor den Augen der Besteller gefüllt mit dem unvergleichlich cremigen Inhalt aus Schafsricotta und heutzutage verteufeltem Zucker. Lammfromm geniesst man das Ganze im Klosterhof unter Hibiskus- und Zitrusbäumchen und unterwirft sich schwelgend dem Schweigegelübde. Santa Rosalia, welche Wonne!!

Der Falter spricht einen Toast auf traditionsreiche Brüder- und Schwesterngemeinschaften, denen die Menschheit nebst verfeinerten Fertigungstechniken für Alkoholika auch höhere Weihen der Zuckerbäckerkunst verdankt. Gesundheitsbewusst ernähren kann er sich dann vielleicht in seiner Heimatstadt, die ihre Bevölkerung so gern dazu erziehen möchte.

I segreti del chiostro
Via Discesa dei Giudici 33, 90133 Palermo (IT).
Geöffnet täglich von 10 bis 17.30 Uhr.
Telefon +39 327 588 23 02.

Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in andere Städte im In- und Ausland.

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