Ohne Schutzklausel gehe es nicht, sagt Justizminister Beat Jans heute. Noch vor einem Jahr wollte der Bundesrat mit der EU gar nicht über ein solches Instrument verhandeln – aus Angst vor den Gewerkschaften.
Als der Bundesrat am 1. Juni 2023 den Entwurf für ein Verhandlungsmandat mit der Europäischen Union verabschiedete, fehlte ein entscheidendes Element: die Forderung nach griffigen Schutzmassnahmen gegen eine zu starke Einwanderung.
Das Dokument basiert auf einem Entwurf, den der Bundesrat nach langen Vorverhandlungen mit der EU am 15. Dezember 2023 verabschiedete, dem sogenannte Common Understanding. Auch in diesem Papier finden sich keine Begriffe wie Ventil- oder Schutzklausel.
Stattdessen steht zum Thema Zuwanderung: «Die Europäische Kommission und die Schweiz teilen die Auffassung, dass das Abkommen zwischen der Schweiz und der EU vom 21. Juni 1999 über die Freizügigkeit (FZA) so angepasst werden sollte, dass die dynamische Übernahme bestehender und künftiger EU-Rechtsakte im Bereich der Freizügigkeit durch die Schweiz vorgesehen ist. Anpassungen des FZA sollten nicht zu einer Verminderung der Rechte führen, die EU-Bürgerinnen und -Bürger sowie Schweizer Staatsangehörige derzeit haben.»
SVP und SGB in Ablehnung vereint
Die SVP war empört: In einer Analyse des Common Understanding schrieb sie: «Mit einer Verpflichtung, künftiges EU-Recht zu übernehmen, gibt die Schweiz die Rechtssetzung im Bereich Migration und Sozialrecht aus der Hand an eine fremde Institution.» Ob bei den Löhnen oder den Spesenregelungen: Der Schutz der Schweizer Arbeitnehmer werde unter Druck kommen und auf Dauer nicht aufrechterhalten werden können.
Zum gleichen Schluss kam auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB): In einem Kommentar zum Vertragsentwurf schrieb er: «Eine Übernahme des EU-Rechts würde den Schweizer Lohnschutz in der Substanz infrage stellen.» Um die Schweizerinnen und Schweizer vor den Folgen einer zu starken Fachkräftezuwanderung zu schützen, müsse der Bundesrat darauf hinwirken, dass die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne «nicht nur von der Dynamisierung, sondern auch von der Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs ausgenommen werden».
Die SVP und der SGB. Die rechtskonservative Volkspartei und der Dachverband der Gewerkschaften, vereint im Widerstand gegen noch mehr Zuwanderung. Die SVP will nicht, dass die Schweiz unkontrolliert weiterwächst, der Gewerkschaftsbund hat Angst um seine Macht. Gemeinsam mit den Arbeitgebern hat er ein kompliziertes System zum Schutz der Löhne und des Schweizer Arbeitsmarktes aufgebaut.
Wird das geplante Abkommen angenommen, unterliegt die Zuwanderung künftig weitgehend den Spielregeln der EU – ausgelegt vom Europäischen Gerichtshof. Und diese Spielregeln werden nach Ansicht der Gewerkschaften immer liberaler. Die EU sei, sagen sie, seit längerem dabei, zu rigide Lohnschutzmassnahmen abzubauen, damit im gesamten Binnenmarkt mehr oder weniger dieselben Regeln gelten würden.
Im Oktober erinnerte Daniel Lampart, der gewiefte Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, in einem Blog-Beitrag an die Erfahrungen aus den ersten Jahren der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU. Die Schweiz durfte die Ausländerbewilligungen vorübergehend beschränken, machte davon regen Gebrauch und plafonierte die Daueraufenthaltsbewilligungen für Fachkräfte aus der EU.
Doch die meisten Arbeitgeber stellten nicht einfach mehr Schweizerinnen und Schweizer an. Stattdessen setzten sie weiterhin auf Arbeitskräfte aus Europa. Der 11. Observatoriumsbericht des Bundes zeigt zwar, dass die Zahl der B-Bewilligungen tatsächlich sank, dafür wurden aber immer mehr befristete Verträge ausgestellt. Denn für die sogenannten Kurzaufenthaltsbewilligungen (L-Bewilligungen) galt keine Beschränkung.
Die Firmen wichen also auf Kurzaufenthalte mit befristeten Anstellungen aus. Lamparts Fazit: «Das Instrument hat keine Effekte auf die Höhe der Einwanderung. Aber es kann im schlimmeren Fall sogar zu Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen führen. Die Betroffenen machen sich Sorgen, ob ihr Vertrag verlängert wird, und sind daher bereit, auch zu geringeren Löhnen zu arbeiten.»
Gewerkschaften setzten sich durch
Das Njet der Gewerkschaften war, wie Recherchen der NZZ zeigen, der Hauptgrund dafür, dass die Schweiz vor einem Jahr im Vorfeld der Neuverhandlungen mit der EU darauf verzichtet hatte, eine Schutzklausel zu fordern. Zwei Jahre zuvor hatte der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen abgebrochen. Der Widerstand in der Schweiz war zu gross. Gegen die SVP und die Gewerkschaften wäre eine Abstimmung nicht zu gewinnen gewesen.
Im zweiten Anlauf wollte es der Bundesrat besser machen. Er setzte dabei erneut auf Mario Gattiker. Karin Keller-Sutter, damals noch Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, hatte den ehemaligen Staatssekretär für Migration schon 2021 an Bord geholt. Er hat ein gutes Gespür für die sozialen Strömungen in der Schweiz und ist ein exzellenter Gesprächsführer. Sein Auftrag: neue Lösungen zu den Knackpunkten bei der Personenfreizügigkeit finden: dem Lohnschutz und der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL).
Ob sich Gattiker bei den Bemühungen um einen Neuanlauf im vergangenen Jahr für oder gegen eine Schutzklausel aussprach, ist offen. Tatsache ist, dass der Bundesrat in den Sondierungsgesprächen darauf verzichtete, explizit die Forderung nach einem Instrument zur Regulierung der Zuwanderung zu stellen. Stattdessen stellten seine Diplomaten Forderungen für Ausnahmen auf: keine Einwanderung in die Sozialwerke, kein Bleiberecht für Straffällige. Dafür musste die Schweiz Konzessionen machen. Wird das Abkommen Realität, erhalten alle EU-Bürger nach fünf Jahren Erwerbsarbeit ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.
Auch beim Lohnschutz kam die EU der Schweiz entgegen. Bern konnte eine sogenannte «Non Regression»-Klausel aushandeln. Sie hält fest, dass die Schweiz kein neues EU-Recht übernehmen muss, das ihren Lohnschutz schwächt. Doch bei einer Forderung bleibt die EU hart: Sie beharrt darauf, dass die Schweiz die europäische Spesenregelung übernehmen soll. In der EU müssen Arbeitgeber ihren Angestellten bei Einsätzen in anderen Ländern dieselben Spesen zahlen wie im Heimatland. Gilt dies auch für das Hochlohnland Schweiz, können polnische oder bulgarische Firmen Arbeiter zu heimischen Konditionen in die Schweiz entsenden.
Aus Sicht der Gewerkschaften sind die Änderungen beim Lohnschutz das grössere Übel als die Zuwanderung, und deshalb schiessen sie – unterstützt von der SP – seit Wochen gegen die Idee einer Schutzklausel. Der SP-Co-Präsident Cédric Wermuth hat bereits öffentlich klargemacht, dass er nichts von einem solchen Instrument hält. Stattdessen fordert er, «die Direktinvestitionen in die Schweiz zu bremsen oder die Unternehmenssteuern zu erhöhen». Wer gegen Zuwanderung sei, sei gegen den Wohlstand.
Mut zum Klartext hat der SP-Nationalrat Jon Pult. In einem Interview mit der NZZ sagte er kürzlich: «Ich befürchte, dass es sehr schwierig wird, mit der EU eine solche Schutzklausel auszuhandeln. Und wenn wir eine Lösung finden, wird diese nur gegen teure Konzessionen in anderen Bereichen zu haben sein.»
Stattdessen solle sich die Schweiz besser überlegen, was sie selbst gegen die starke Zuwanderung machen könnte. Pult: «Wir können das eigenständig tun, indem wir beispielsweise die Unternehmenssteuern erhöhen, um die Standortattraktivität leicht zu senken.»
Bundesrat will Fehler korrigieren
Doch der Bundesrat hat früh gemerkt, dass er einen Fehler gemacht hat, als er auf die explizite Forderung nach einem Instrument gegen zu starke Zuwanderung verzichtete. Im offiziellen Verhandlungsmandat hielt er fest, dass die Schweiz bestrebt sei, die Mechanismen des FZA zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu «konkretisieren».
Anfang November machte Bundespräsidentin Viola Amherd der EU nach einem Treffen mit EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen erneut klar, dass der Bundesrat an der Forderung nach einer Schutzklausel festhalte. Kurz danach doppelte Justizminister Beat Jans nach. In einem Interview mit dem «Sonntags-Blick» sagte der Sozialdemokrat: «Wir brauchen eine Schutzklausel, sonst wird es innenpolitisch schwierig. Das weiss auch die EU. Deshalb ist die Klausel auch im Interesse der EU.»
Offenbar hat die EU die Signale aus der Schweiz mittlerweile gehört. Denn noch im Frühjahr sagte EU-Vizepräsident Maros Sefcovic auf Anfrage der NZZ, er finde im Common Understanding nirgends eine solche Forderung, also werde auch nicht darüber verhandelt. Ein halbes Jahr später teilte Kommissionspräsidentin von der Leyen der Schweiz mit, die EU-Länder hätten sich einvernehmlich gegen einseitige Schutzmassnahmen der Schweiz ausgesprochen. Die Regeln des Binnenmarktes gälten für alle.
Doch hinter den Kulissen wird nach wie vor vehement um Schutzmassnahmen gerungen. Im Raum steht anscheinend eine Art Ventilklausel im Gegenzug zum Verzicht auf höhere Studiengebühren für ausländische Studierende.
Offenbar ist man sich nun nähergekommen. Am Mittwoch trifft sich der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis mit Maros Sefcovic zum freundschaftlichen Abendessen. Das bedeutet, dass der Abschluss der Gespräche kurz bevorstehen dürfte.
Das wissen auch die stets gut informierten Gewerkschaften, und deshalb erhöhen sie den Druck. Gegenüber Radio SRF sagte der SGB-Chef Pierre-Yves Maillard kürzlich, der beste Schutz seien ein guter Lohnschutz und Kontrollen auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb könnten die Gewerkschaften das Abkommen mit «grösster Wahrscheinlichkeit» nicht unterstützen.