Donnerstag, Juli 4

Die Rentenchefin des Gewerkschaftsbunds, Gabriela Medici, lässt kein gutes Haar an der BVG-Reform. Sie verteidigt die umstrittene Nein-Kampagne, sagt aber selbst, die Folgen für die Arbeitnehmer seien ganz unterschiedlich. Und sie sagt, wo sie die Grenzen der beruflichen Vorsorge sieht.

Frau Medici, darf man in Abstimmungskämpfen lügen?

Nein. Das machen wir auch nicht.

Auf Ihrer Website zur Abstimmung steht prominent dieser Satz: «Das Parlament hat beschlossen, dass wir alle weniger Pensionskassen-Renten bekommen und dafür auch noch höhere Beiträge zahlen sollen.»* Diese Aussage ist nicht wahr.

Für den gesetzlichen Teil der beruflichen Vorsorge ist die Aussage richtig, und wir alle haben einen gesetzlichen Teil.

Aber das heisst doch nicht, dass alle eine tiefere Rente erhalten. Die meisten Pensionskassen gehen über das gesetzliche Minimum hinaus.

Nochmals: Es geht bei dieser Abstimmung um den gesetzlichen Teil, hier gibt es gerade für mittlere Einkommen einen Abbau, und die Rentengarantien sinken für alle.

Aber das ist nicht die Aussage auf Ihrer Website. Dort steht, dass alle weniger Rente erhalten. Erachten Sie das tatsächlich als zulässig?

(Zögert.) Das ist eine erlaubte Zuspitzung. Aber wenn wir schon über die Wahrheit reden: Befürworter der Reform behaupten, dass alle Versicherten, deren Pensionskassen über das gesetzliche Minimum hinausgehen und einen überobligatorischen Teil haben, nicht betroffen sind. Das ist falsch. Gesamthaft macht der gesetzliche Teil der beruflichen Vorsorge knapp die Hälfte aller Guthaben aus. Wenn auf diesem Teil die Rentengarantien sinken, hat das Folgen für alle. Auch Personen in Pensionskassen mit viel überobligatorischem Kapital werden die Reform spüren. Speziell kompliziert ist sicher, dass die Versicherten – und übrigens auch die Arbeitgeber – ganz unterschiedlich betroffen sind von der Vorlage. Selbst der Bund kann nicht sagen, wer wie betroffen ist. Das macht die Debatte schwierig.

Eben. Trotzdem steht auf Ihrer Website, dass «wir alle» weniger Rente erhalten. Dabei werden manche sogar mehr erhalten. Einverstanden?

Eventuell, aber erst in 40 Jahren, das wissen wir heute noch nicht.

Die offiziellen Zahlen sagen etwas anderes: Die Reform sieht eine 15-jährige Übergangsphase mit Rentenzuschlägen vor. Gerade Personen mit tieferen Einkommen, die in dieser Phase pensioniert werden, können höhere Rente erhalten.

Diese Zahlen sind unzuverlässig. Das sind reine Simulationen, die viele Schätzungen enthalten. Niemand weiss genau, wie viele Personen einen Zuschlag erhielten. Diese Übergangsregelung ist etwas vom Schlimmsten, was das Parlament seit langem beschlossen hat. Die Voraussetzungen sind derart unklar, dass keine vernünftigen Prognosen möglich sind. Der Bundesrat hatte das Parlament gewarnt, das ist protokolliert.

Welche konkreten Probleme sehen Sie?

Zum Beispiel muss man mindestens 15 Jahre versichert sein, um einen Zuschlag zu erhalten. Was heisst das genau? Wie kontrolliert man das bei mehreren Stellenwechseln? Oder: Wie berechnet man die Zuschläge bei Scheidungen? Und bei teilweisen Kapitalbezügen? All diese Fragen hat das Parlament an den Bundesrat delegiert. Das ist Pfusch.

Trotzdem: Es wird in diesen 15 Jahrgängen Personen geben, die dank der Reform höhere Renten erhalten . . .

. . . meinetwegen, aber zu welchem Preis? Sie werden eben vor dem Rentenalter vielleicht auch 15 Jahre lang viel weniger Nettolohn haben. Die Nachteile überwiegen. Die Reform wird die Probleme, die sie angeblich lösen soll, sogar noch verschärfen.

Im Fokus stehen jene Pensionskassen, die praktisch nur das gesetzliche Minimum umfassen. Sie müssen heute wegen des Umwandlungssatzes von 6,8 Prozent überhöhte Renten sprechen. Mit der Reform sinkt der Satz auf 6 Prozent. Und Sie sagen, das sei keine Verbesserung?

Der Reihe nach. Der Umwandlungssatz ist für die Pensionskassen nicht existenziell. Sie haben sich längst mit ihm arrangiert. Sie sind agiler, als die Politik meint. Wenn man den Umwandlungssatz senken will, muss man es richtig machen – und sicher nicht so, wie es jetzt geplant ist, mit dieser katastrophalen Übergangsregelung, welche die Bürokratie aufbläht.

Sie soll grosse Rentenkürzungen verhindern. Ist das nicht in Ihrem Sinn?

Das wäre es. Aber erstens wird es trotzdem viele Kürzungen geben. Und zweitens sollen die betroffenen Pensionskassen die Rentenzuschläge in erster Linie selbst finanzieren. Das ist ein schlechter Witz! Damit werden ihre angeblich so schlimmen Finanzierungsprobleme faktisch um weitere 15 Jahre verlängert. Damit ändert sich für sie nichts. Noch dazu sollen sie Beiträge an besser situierte Kassen bezahlen, wenn diese ebenfalls Rentenzuschläge auszahlen. Wir wissen, dass zum Beispiel gewerbliche Pensionskassen Beiträge an die Migros-Kasse bezahlen müssten, obwohl sie in einer schlechteren Lage sind. Das ist absurd.

Aber die Gewerbekassen würden ebenfalls Beiträge von den anderen bekommen. Geht das unter dem Strich nicht auf?

Nein, ausgerechnet jene Pensionskassen, die nahe am Minimum sind und viele Versicherte mit tiefen Löhnen haben, sind die Verlierer der Reform. So haben es die bürgerlichen Parteien beschlossen. Sie wollen nicht den betroffenen Kassen helfen, sondern den gutsituierten Wirtschaftsbranchen. Sonst hätten sie eine faire Übergangsregelung beschlossen, in der die Rentenzuschläge für die Älteren solidarisch von allen Kassen gemeinsam finanziert würden. Ein solches Modell haben wir zusammen mit den Arbeitgebern vorgeschlagen, doch das Parlament hat diesen Kompromiss zerzaust.

Ihr «Kompromiss» sah vor, die Querfinanzierung von den Jüngeren zu den Älteren ausserhalb der AHV auszubauen. Nötig wäre das Gegenteil: Diese Umverteilung, die in der beruflichen Vorsorge systemfremd ist, soll mit der vorliegenden Reform beendet werden.

Jede Pensionskasse ist anders aufgestellt, jede hat einen Stiftungsrat, der dafür sorgen muss, dass die verschiedenen Altersgruppen fair behandelt werden. Selbst die Oberaufsicht des Bundes sagt, dass es dieses Problem nicht mehr gibt. Heute sorgt sie sich um das Vertrauen der Versicherten in die zweite Säule und ruft die Pensionskassen auf, die Benachteiligung von Personen, die kürzlich pensioniert wurden, zu verhindern. Weil die Renten stark gesunken sind – und es ihnen finanziell hervorragend geht.

Nicht ganz: Bei den Pensionskassen, die nur das gesetzliche Minimum umfassen, ist das Problem der Quersubventionierung laut Oberaufsicht ungelöst.

Das ist eine theoretische Sichtweise. In der Praxis haben die betroffenen Pensionskassen je individuell für sie passende Lösungen gefunden. Manche erheben zusätzliche Beiträge, andere ziehen Risikobeiträge oder einen Teil der Rendite heran. Wenn man das korrekt macht, sind die Jungen nicht benachteiligt. Diese ganze Debatte hinkt der Realität hinterher. Die Lage hat sich in den letzten Jahren massiv verbessert, die Pensionskassen sind wieder prall gefüllt. Statt zu lamentieren, sollten wir endlich über Leistungsverbesserungen reden. Das ist die Diskussion, die wir führen müssen.

Ernsthaft? Der Bundesrat sagt, die Renten im gesetzlichen Minimum seien nicht ausreichend finanziert.

Ich kenne keine Pensionskasse, die zeitnah auf eine Reduktion des Umwandlungssatzes angewiesen ist. Und die vorliegende Reform würde ihnen sowieso nicht helfen. Allein der administrative Aufwand und die Kosten, um das Monster der Übergangsregelung zu zähmen, würden das System mehrere Jahre lähmen.

Ein Ziel der Reform ist eine bessere Vorsorge für Frauen. Exakt das fordern die Gewerkschaften seit Jahren. Doch jetzt sagen sie Nein. Wieso?

Weil die Vorlage das Ziel verfehlt. Die Rentenlücke zwischen Mann und Frau hat primär zwei Gründe: Im Gegensatz zur AHV werden in der zweiten Säule die Guthaben von Ehepaaren vor der Pensionierung nicht mit dem Splitting aufgeteilt. Zudem ist unbezahlte Arbeit nicht versichert. An beidem würde sich mit dieser Reform nichts ändern.

Aber die bezahlte Arbeit wäre besser abgesichert: Für tiefe Löhne und Teilzeitjobs wird die berufliche Vorsorge ausgebaut. Das soll primär Frauen helfen.

Ja, aber auch das gilt nur für den gesetzlichen Teil. In 90 Prozent der Pensionskassen werden Teilzeitpensen heute schon besser versichert. Natürlich wäre es gut, das auch im Gesetz nachzuvollziehen. Aber wenn gleichzeitig der Umwandlungssatz sinkt, führt das gerade für Frauen zu einer Verschlechterung.

Seltsam ist, dass die Frauenverbände das Gegenteil sagen. Ihr Dachverband Alliance F kämpft vehement für die Reform. Können die Frauenverbände nicht rechnen?

Ich kann nur unsere Analyse erklären: Gerade für die Frauen, die am stärksten betroffen sind von der Erhöhung des Rentenalters auf 65, ist die vorliegende Reform schlecht. Selbst der Bund schätzt, dass in der Übergangsphase die Hälfte der Frauen keine volle Kompensation erhielte.

Experten sagen das Gegenteil: Gerade Personen mit tiefen Löhnen und kleinen Pensen könnten von den Rentenzuschlägen massiv profitieren.

Auch die Experten sprechen von Rentenunsicherheit bei der Übergangsgeneration. Das weiss also niemand so genau, weil die Regeln so unklar sind.

Eine Studie von Alliance F sagt, die grosse Mehrheit der Frauen werde höhere Renten erhalten, nur eine Minderheit müsse mit Verlusten rechnen.

Diese Studie hat methodische Mängel, ihre Aussagen sind so pauschal, dass sie wertlos sind. Sie blendet vornweg 85 Prozent aller Versicherten aus, weil sie voraussetzt, dass sie alle nicht betroffen sind. Sogar der Bundesrat sagt, dass ein Drittel die Senkung des Umwandlungssatz spürt. Auch das Hauptresultat der Studie ist wenig aussagekräftig: Es kann sein, dass die zusätzlichen Lohnbeiträge weit höher ausfallen als die von Alliance F hervorgehobene Rentenverbesserung. Wenn ich 15 Jahre lang 200 Franken im Monat mehr einzahlen muss, um im Alter 100 Franken mehr Rente zu haben, ist das kein gutes Geschäft.

Ist das ein fiktives Beispiel?

Es entspricht den Zahlen des Bundes für eine 50-jährige Frau mit einem Monatslohn von rund 3000 Franken. Was ich damit sagen will: Es gibt Lohnkategorien, für die die berufliche Vorsorge nicht funktioniert. Für tiefe Löhne ist das Kapitaldeckungsverfahren nicht attraktiv. Früher gab es in dieser Frage breiten Konsens, doch leider ging diese Einsicht verloren. Dabei ist das Preis-Leistungs-Verhältnis für tiefe Einkommen heute noch schlechter als früher.

Finden Sie es denn besser, wenn Pensionierte im Alter Ergänzungsleistungen beantragen müssen, weil sie nicht genug Rente angespart haben?

Natürlich nicht. Aber es kommt schon auch darauf an, wie man das finanziert. Für Personen mit tiefen Löhnen müssen wir eine Lösung über die solidarisch finanzierte AHV finden. Wenn wir sie zum Zwangssparen in den Pensionskassen verpflichten, tun wir ihnen keinen Gefallen. Die Lohnabzüge sind zu hoch im Vergleich zu dem bisschen Rente weit unter 1000 Franken, das sich damit finanzieren lässt. In diesen Lohnkategorien fallen die Verwaltungskosten zu stark ins Gewicht.

Ihre Argumentation spiegelt die Vorbehalte der Gewerkschaften gegenüber der zweiten Säule. Manche sagen, Sie möchten die Pensionskassen am liebsten abschaffen und die AHV zur Volkspension ausbauen.

Das ist lächerlich. Die zwei letzten grossen Kompromissvorschläge des Bundesrats, die eine faire Reduktion des Umwandlungssatzes ermöglicht hätten, haben wir unterstützt – ganz im Gegensatz zu den rechten Parteien. Und jetzt sollen wir schuld sein, wenn keine Reform gelingt? Natürlich ist uns die AHV wichtig, aber die berufliche Vorsorge ist es auch. Wir sitzen in den Stiftungsräten, arbeiten mit grosser Energie und haften persönlich. Wenn uns die zweite Säule nicht wichtig wäre, würden wir sie nicht mitgestalten. Wir wissen: Die Arbeitnehmenden sind froh, am Ende der beruflichen Laufbahn ein Guthaben aufgebaut zu haben. Nur wollen sie davon auch eine faire Rente.

Der Chef des Pensionskassenverbands Asip, Lukas Müller-Brunner, wirft Ihnen ein Doppelspiel vor: Die Gewerkschaften würden in den einzelnen Kassen gut kooperieren, öffentlich aber deren Leistungen wider besseres Wissen schlechtreden.

Es ist unsere Aufgabe, auf wunde Punkte aufmerksam zu machen. Wenn überall die Umwandlungssätze sinken, müssen wir darauf hinweisen, dass wir ein Problem mit der Leistungsfähigkeit der zweiten Säule haben.

Ihre eigenen Vertreter in den Stiftungsräten haben die Reduktionen der Umwandlungssätze unterstützt.

Teilweise. Wenn es vor Ort konkrete Probleme gibt, suchen wir partnerschaftliche Lösungen. Das heisst nicht, dass die Folgen nicht dramatisch sind. Es gab einen massiven Leistungsabbau.

Sie übertreiben. Avenir Suisse zeigt mit einer Studie, dass die Situation viel besser ist als angenommen. Man muss einfach die zunehmenden Kapitalbezüge und die Ausbreitung der Teilzeitarbeit berücksichtigen.

Das erklärt nicht alles. Die Statistiken zeigen immer noch einen Rückgang, auch die Studie von Avenir Suisse bestätigt: Bei jenen Personen, die das ganze Guthaben als Rente bezogen haben, sind die Renten seit 2015 um 9 Prozent gesunken. Aber natürlich hoffen auch wir, dass diese Phase vorbei ist und es jetzt wieder aufwärtsgeht.

Rechnen Sie mit steigenden Umwandlungssätzen?

Es gibt erste positive Beispiele. Aber gesamthaft gehen die Diskussionen leider eher in die andere Richtung. Viele Kassen tendieren dazu, nur einmalige Zahlungen zu gewähren, weil sie die Risiken gern an die Versicherten verlagern. Das darf nicht sein. Wir verlangen echte und dauerhafte Verbesserungen.

Befürchten Sie nicht, dass bei einem Scheitern der Reform die Blockade in der beruflichen Vorsorge anhalten wird?

Welche Blockade? Nur weil das Gesetz nicht verändert werden kann, heisst das nicht, dass nichts passiert. In der beruflichen Vorsorge spielt die Musik nicht im Bundeshaus, sondern in den einzelnen Pensionskassen. Sobald auch politisch vernünftige Lösungen möglich sind, werden wir gern Hand bieten.

* Nach dem Interview hat der SGB den zitierten Satz leicht angepasst und das Wörtchen «alle» gestrichen. Die ganze Geschichte dazu hier.

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