Samstag, Oktober 5

Dem Team von Ronald Koeman fehlt das Talent zur Spielkontrolle. Der Bondscoach selbst sprach schon von «kopflosen Hühnern» auf dem Platz. Doch der Sommertraum, wie ihn die Nation bereits 1988 in Deutschland entdeckte, lebt auch in diesem Jahr.

Fast jede Fussball-EM hat ja ihren Kultsong, und waren es sonst meistens britische Fans, die ihn prägten («Don’t Take Me Home», «Will Grigg’s on Fire», «Sweet Caroline»), so haben dieses Mal die Niederländer den Job übernommen. «Links, rechts» heisst der Schlager des Sängers Snollebollekes, zu dem sich Tausende Anhänger hin und her in beide Richtungen bewegen. Man sieht das auf den Strassen und in den Fankurven Deutschlands inzwischen ansatzweise auch von anderen Nationen, aber natürlich schlägt nichts das Original – zumal wenn gerade der Halbfinal erreicht wurde.

🧡 Heute ging's nach links, nach rechts und einmal um den Olympiapark herum. 🧡

Nach dem hart erkämpften 2:1-Sieg der Niederländer im Berliner Olympiastadion gegen die Türkei am Samstagabend mischten auch die Spieler bei der Tanzeinlage mit. Cody Gakpo, wohl der stärkste Angreifer im bisherigen Turnierverlauf, kam als Erster vor den orangen Block gehüpft, ihm folgte der Mittelstürmer Wout Weghorst, der wie an der WM 2022 als eingewechselter Spezialagent für komplizierte Partien fungiert.

Der elegante Gakpo und der wuchtige Weghorst waren passende Delegationsleiter, denn sie waren am Siegtor beteiligt gewesen; Weghorst durch ein öffnendes Zuspiel, Gakpo durch seine Präsenz am langen Pfosten, die den Türken Mert Müldür zum nächsten spielentscheidenden Eigentor an dieser EM zwang. Nun folgte ihnen das gesamte Team vor die Kurve und tanzte im Reigen, Bondscoach Ronald Koeman inklusive.

Der Captain und Abwehrpatron Virgil van Dijk wirkt bisweilen ungewohnt behäbig

Die Party der Niederländer ist so weit besser als ihr Fussball. «Wir haben Glück gehabt», musste Koeman später einräumen, nachdem die Türken über weite Strecken den Match kontrolliert hatten, mit einer 1:0-Führung den Pfosten trafen und nach dem 1:2 noch etliche hochkarätige Ausgleichschancen besassen. «Wir mussten leiden», gestand Koeman, lobte den Gegner und erlaubte sich eine kleine Spitze gegen die gewohnt scharfzüngigen Kritiker in der Heimat: «Manchmal wird uns vorgeworfen, dass wir ohne Herz spielen. Die Spieler haben heute Nacht ihr grosses Herz bewiesen.»

Tatsächlich scheint sich seine Mannschaft immer mehr in ein Turnier zu arbeiten, in dem ihr das Schicksal eine grosse Chance gegeben hat. Nach der 2:3-Niederlage gegen Österreich in der letzten Runde der Gruppenphase und dem Abrutschen auf Platz drei schien das Ausscheiden nahe, die Experten in der Heimat zogen über alle Aspekte des Spiels her, Koeman selbst sprach von «kopflosen Hühnern» auf dem Platz und wurde von der Journaille schon zu Rücktrittsgedanken befragt.

Doch dann bescherten die Schrullen des Turniermodus seiner Equipe einen machbaren Weg durch das Tableau. Mit Siegen gegen Rumänien und die Türkei hat sich «Oranje» erstmals seit 2004 für die EM-Halbfinals qualifiziert, nun stehen nur noch die Engländer vor der Tür, die ins Endspiel führt. Dieses Duell wird am Mittwoch in Dortmund ausgetragen.

Die spielerischen Probleme der Niederländer sind dadurch jedoch nicht weggeblasen, sie waren auch gegen die gut organisierte Türkei zu sehen. Zwar agieren sie keineswegs so destruktiv wie die Engländer oder die Franzosen, die Partien der Niederländer sind im Vergleich geradezu erfrischend chaotisch. Dank ihren talentierten Offensivspielern wie Gakpo, Memphis Depay oder Xavi Simons kreieren sie in jedem Match ihre Torchancen. Doch ohne die verletzten Teun Koopmeiners, Marten de Roon und insbesondere ohne den Regisseur Frenkie de Jong fehlt ihnen das Talent zur Spielkontrolle.

Koeman probierte schon mehrere Formationen und sorgte für einen Aufreger, als er gegen Österreich schon nach 35 Minuten den überforderten Joey Veerman auswechselte. Doch bislang kann Koeman nicht vermeiden, dass die Partien seiner Elf in offene Feldschlachten mutieren – mit entsprechend ungewissem Ausgang, zumal sich auch die an sich exzellent besetzte Verteidigung immer wieder Auszeiten nimmt.

Der Captain und Abwehrpatron Virgil van Dijk wirkt bisweilen ungewohnt behäbig, der offensivstarke Rechtsverteidiger Denzel Dumfries schenkte vor der türkischen Führung einen Eckball her, weil er nicht mitbekommen hatte, dass ein Teamkollege zuletzt am Ball gewesen war. Vielleicht versagte unter dem infernalischen Lärm der türkischen Fanmehrheit im Olympiastadion aber auch einfach die teaminterne Kommunikation.

Koemans Fortüne lässt das Land wieder träumen

Doch der Glaube, mit dem die Niederländer diesen Match von Kampf und Leidenschaft drehten, und die Verve, mit der sie sich während der furiosen türkischen Schlussoffensive in jeden Schuss warfen – das sind Turnierqualitäten, die manchmal auch strukturelle Schwächen kompensieren können.

Koeman jedenfalls scheint sich nur zu gern der Aussenseiterrolle anzunehmen. «Wir sind eine kleine Nation und stehen mit Spanien, Frankreich und England in den Halbfinals», sagte er mit einer Demut, die man aus dem stolzen Fussballland eher nicht gewohnt ist.

Koeman war Libero der einzigen niederländischen Fussball-Nationalmannschaft, die je einen internationalen Titel gewonnen hat. An der EM 1988 startete ein Team mit ihm und weiteren Stars wie Frank Rijkaard, Ruud Gullit und Marco van Basten ähnlich schleppend ins Turnier und verlor sogar das Auftaktspiel gegen die Sowjetunion, ehe es letztlich verdient zum Titel stürmte.

Viele niederländische Fans erinnern an jenen Sommer mit ihren Vintage-Trikots von 1988, die in ihren gescheckten Orangetönen ein schillerndes Stück Modegeschichte repräsentieren und bevorzugt mit der Nummer 12 von van Basten oder der Nummer 10 von Gullit beflockt sind. In den Niederlanden denkt man in diesen Tagen nur allzu gern in historischen Kategorien, denn wie heute wurde 1988 die Endrunde in Deutschland gespielt. Koemans Fortüne lässt das Land wieder träumen.

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