Mittwoch, Juli 16

Der Psychologe Rob Henderson seziert die Lebenslügen der kulturellen und akademischen Eliten. Sein Buch hat das Zeug zum Klassiker.

Kürzlich reiste ich nach Deutschland, um über Demokratie zu diskutieren. Die Moderatorin fragte mich gleich zu Beginn, ob es denn wirklich gerecht sei, Steuerzahler vom nationalen Wahlrecht auszuschliessen, bloss weil sie Ausländer seien. Ich gab zu bedenken, dass eine Nation – von ihren kulturellen und legitimatorischen Voraussetzungen her – etwas anderes sei als ein Bund der Steuerzahler. So verdanken sich unsere Sozialstaaten keiner universalen Ethik, sondern einer partikularen. Man kann das beklagen, es ist aber so. David Hume hätte das dank seiner Anthropologie verstanden, Immanuel Kant eher nicht. Gemeinwesen gründen auf Vertrauen, was ein Mass an Identifikation mit nationalen Werten und Befindlichkeiten voraussetzt. Wo diese Identifikation schwand, blühten die populistischen Bewegungen.

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Dem fügte ich noch bei, dass ich bei meiner Einbürgerung in Grossbritannien den geforderten Loyalitätseid gerne geleistet hätte. Und dasselbe gilt für den «UK Citizenship Test», eine Mischung aus Staatskunde- und Verständnistest. Niemand hatte mich gezwungen, die britische Staatsbürgerschaft anzustreben. Ein Land, das von seinen potenziellen Neubürgern nichts erwartet als Geld und Wohnsitz, hat sich überlebt. Meine Diskussionspartner fanden es dagegen ungerecht, dass Ausländer auf nationaler Ebene nicht wählen dürfen. Einig waren sie sich auch darin, dass eine Demokratie vor allem dazu da sei, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Bei diesen beiden Voten – für die Inklusion und die Umverteilung – gab es tosenden Szenenapplaus.

Die Kosten tragen die anderen

Hier signalisierten erfolgreiche Kulturschaffende im Duktus der Weltoffenheit eine Überzeugung, die der Integration von Migranten kaum zuträglich ist. Gutsituierte und entsprechend gebildete Bürger haben hier buchstäblich leicht reden. Doch die Kosten für die von ihnen geäusserten Überzeugungen tragen andere und oft jene, die sich in einem Land integrieren wollen. Denn wer sich einer neuen Gemeinschaft vor allem mit dem Stellen von Ansprüchen empfiehlt, wird auf wenig Akzeptanz stossen.

Genau um dieses Phänomen der wohlfeilen Attitüde und ihrer Kosten dreht sich Rob Hendersons souverän komponierte Lebensgeschichte. Henderson studierte in Yale Psychologie und doktorierte 2022 in Cambridge über den Zusammenhang zwischen psychischen und sozialen Bedrohungen und moralischen Urteilen.

Doch sein Leben begann alles andere als vielversprechend. Er wurde 1990 in Los Angeles als Kind einer aus Südkorea stammenden Mutter und eines Vaters mit mexikanisch-spanischen Wurzeln geboren. Von seinen leiblichen Eltern verlassen, wuchs er in zehn verschiedenen Pflegeheimen in kalifornischen Kleinstädten auf. Seine Kindheit war geprägt von Drogen, Gewalt und Depression und vor allem von der Sehnsucht nach einer intakten Familie. Seinen Schmerz kompensierte der begabte Junge mit auffälligem Verhalten und durchzogenen Leistungen in der Schule.

Familie ist wichtiger als Bildung

Was uns Henderson vorlegt, ist jedoch keine Neuauflage des amerikanischen Traums. Eher handelt es sich um eine der Erfahrung entsprungene Kritik am linksliberalen Amerika und an seiner Moral. Der erste Abschnitt seines Buches setzt den Leser ins Bild: «Als jemand, der nie wirklich eine hatte, bin ich vielleicht die am wenigsten qualifizierte Person, um die Bedeutung der Familie zu verteidigen. Aber als jemand, der mehr Bildung genossen hat, als ich je erwartet hätte, bin ich vielleicht besser qualifiziert zu sagen, dass wir der Bildung zu viel Bedeutung beimessen.» Und er fügt an: «Ich bin dankbar für die wundersame Entwicklung meines Lebens, aber ich musste den Aufstieg am eigenen Leib erfahren und den Gipfel der Bildung erreichen, um ihre Grenzen zu verstehen. Ich habe verstanden, dass eine warmherzige und liebevolle Familie unendlich viel mehr wert ist als das Geld oder die Leistungen, von denen ich hoffte, dass sie mich dafür entschädigen würden.»

Henderson kennt die Forschung zur sozialen Mobilität. Er weiss, dass die Familie diesbezüglich prägender wirkt als soziale Klassenzugehörigkeit: Wo die Familie intakt ist, stehen die Aufstiegschancen auch bei Angehörigen bildungsferner Schichten gut.

Der Absprung aus seiner zerrütteten Existenz gelingt ihm, als er mit achtzehn in die amerikanische Luftwaffe eintritt. Im Militär findet er Mentoren, die seine Leistungsbereitschaft mit Vertrauen belohnen. Vor allem lehrt ihn der Dienst bei der Luftwaffe jene Disziplin, die es ihm erst ermöglicht, sein Potenzial zu entfalten: «Das Militär lehrte mich, dass Menschen keine Motivation brauchen: Sie brauchen Selbstdisziplin. Motivation ist lediglich ein Gefühl. Selbst-Disziplin dagegen bedeutet: ‹Ich werde das jetzt tun, unabhängig davon, wie ich mich fühle.›»

Gespielte Ohnmacht

Auch bei Hendersons Aufnahme zum Psychologiestudium in Yale hat das Militär die Hand im Spiel. Als Veteran der US-Army hat er Zugang zu einem universitären Vorbereitungskurs, der es ihm ermöglicht, die äusserst selektive Aufnahmeprüfung zu bestehen. Vor allem bietet ihm die berühmte Ostküsten-Uni jene Kontrasterfahrung, die seine Vergangenheit in ein neues Licht setzt. Sie ist der Beginn seines Buchprojekts. In Yale macht er sich Notizen, in Cambridge beginnt er mit dem Schreiben.

Es sind Milieu-Erfahrungen, die sein Denken bestimmen. In der Luftwaffe hat es der Kalifornier vornehmlich mit hochintelligenten Aussenseitern aus der unteren Mittel- und Arbeiterschicht zu tun, deren Wertekorsett sich nicht wöchentlich an der «New York Times» abgleicht. Seine Kommilitonen in Yale sind die Sprösslinge betuchter Eltern, von denen viele an Elite-Unis studiert haben, manche ebenfalls in Yale. Hendersons Mitstudenten sind fleissig, gescheit und strategisch versiert. Gezielt lesen sie die Kommentare progressiver Zeitungen. Nicht unbedingt, weil sie die darin vertretenen Standpunkte teilen würden. Doch diese Medien vermitteln ihnen jene Denk- und Redeweisen, mittels deren sie ihre Zugehörigkeit zur Elite signalisieren. Eine selbstreferenzielle Moral dient hier als Bedingung für soziale Akzeptanz.

An diesem Ort des Privilegs kommen ihm die Ideen für das theoretische Kapitel elf seines Buches. Hier entwickelt er seine vom französischen Soziologen Bourdieu mit inspirierte Statustheorie der spätmodernen amerikanischen Elite. Dazu kreiert er den Begriff der «Luxusüberzeugungen» («luxury beliefs»). Diese definiert er als «Ideen und Meinungen, die der Oberschicht mit sehr geringem Aufwand Status verleihen, während sie der Unterschicht oft Kosten verursachen».

Sie leben das Gegenteil dessen, was sie predigen

In Yale beginnt er sich für die Diskrepanz zwischen fortschrittlichem Reden und eigennützigem Handeln zu interessieren. Dort trifft er täglich Leute, die das Gegenteil dessen predigen, was ihre privilegierte Stellung begründet. Also zum Beispiel intakte Familien, Monogamie, Disziplin, Selbstverantwortung, ein Schuss Patriotismus. Hier verkehrt er mit Studenten, die sich bei jener Investmentbank (Goldman Sachs) bewerben, die sie auf dem Campus als Ausgeburt kapitalistischer Unterdrückung verschreien. Doch auch dahinter vermutet Henderson Kalkül: «Allmählich kam ich zu der Überzeugung, dass viele dieser Studenten die Überzeugung verbreiteten, dass solche Firmen verwerflich seien, um ihre Konkurrenten zu unterbieten. Wenn es ihnen gelang, sie davon zu überzeugen, dass ein bestimmter Beruf korrupt und daher zu meiden sei, dann hatten sie einen Konkurrenten weniger in ihrem Bestreben, angestellt zu werden.»

Hier, an einer der reichsten Universitäten der Welt, trifft er auf Leute, die sich als bedrohte Spezies begreifen. Bedroht von Menschen, die ihre moralischen Präferenzen nicht teilen, sie vielleicht sogar ablehnen. Soziologisch gesehen besteht ihr Lebensstil aus einem Gemisch aus Performance und Strategie: «Der Hauptzweck luxuriöser Überzeugungen besteht darin, die soziale Schicht und die Bildung des Gläubigen anzuzeigen. Wenn eine wohlhabende Person sich für Mittelkürzungen bei der Polizei, die Legalisierung von Drogen, offene Grenzen, Plünderungen oder freizügige Sexualnormen ausspricht oder Begriffe wie ‹weisses Privileg› verwendet, zeigt sie damit ihren Status.»

Zur sexuellen Moral der Generation der 1960er Jahre, an der sich seine Mitstudenten verbal orientieren, schreibt Henderson: «Im Allgemeinen experimentierten sie auf dem College und wurden dann später sesshaft, während die Familien der unteren Klassen auseinanderfielen.» Die grosse Mehrheit der amerikanischen Absolventen amerikanischer Spitzenuniversitäten heiratete, wenn sie Kinder hatte; dennoch trifft Henderson gerade in dieser Gruppe besonders viele, die der Ehe eine geringe Bedeutung beimessen. Dieser Befund ist nicht neu. Der in Yale lehrende Rechtsprofessor Daniel Markovits beschrieb in seinem Buch genau diesen Vorgang: Man gibt sich progressiv, lebt jedoch konsequent bürgerliche Werte.

Die Kosten wohlfeiler Moral

Freilich ist Amerika mit Westeuropa und der Schweiz kaum vergleichbar. Dort ist die soziale Ungleichheit grösser als bei uns, die wir eine selbstreferenzielle Bildungsaristokratie à la USA kaum kennen. Die Selektion ist bei uns deutlich milder, die soziale Mobilität wohl – trotz fortschreitender Akademisierung aller Lebensbereiche – im Moment noch besser. Doch auch bei uns haben Luxusüberzeugungen Konjunktur. Etwa im Bereich von Schule und Bildung. Und natürlich beim Thema Migration und nationale Loyalität. Auch bei uns signalisiert man seine Zugehörigkeit zur progressiven Elite vermehrt mit Haltungen, die man selbst nicht lebt. Oder wie die Angelsachsen zu sagen pflegen: «They don’t walk their talk.» Die Kosten dieses Statusspiels tragen andere.

Rob Henderson: Troubled. A Memoir of Foster Care, Family, and Social Class. Harper Collins, New York 2024. 336 S., Fr. 38.90.

Oliver Zimmer war von 2005 bis 2021 Professor für moderne europäische Geschichte an der Universität Oxford. Heute ist er Forschungsdirektor bei Crema.

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