Donnerstag, Oktober 10

Wie viel hat ein Filmfest mit Politik zu tun? Ein Streifzug zwischen Bundesratsreden, Diplomaten-Apéros und Bollywood-Euphorie.

Der Merlot lockert die Zunge, die Gluthitze den Dresscode, das Kinofieber besorgt den Rest: Das Filmfestival von Locarno ist nicht nur ein Treffpunkt für Cineasten, sondern auch ein Ort des Flirts zwischen Kunst und Politik. Abseits des Dunkels der Kinosäle, in denen auch inhaltlich oft Düsternis herrscht, treffen Volks- auf Interessenvertreter. Bei Stehapéros, Partys und Diners wird diskutiert, intrigiert und lobbyiert im Dunst der Tage und der Nächte, die heuer wenig Abkühlung bieten.

Auch diverse Nationalratsmitglieder samt Präsident Eric Nussbaumer schätzen das Ambiente für den lockeren Austausch, sie eilen eher von Anlass zu Anlass als von Film zu Film. Umgekehrt ist es wohl bei Altbundesrätin Ruth Dreifuss, die nach eigener Aussage seit sicher 35 Jahren keine Ausgabe dieses Filmfests verpasst hat. Man trifft sie auch diesmal an der inoffiziellen Eröffnung, dem Stelldichein von Gästen aus Politik, Kultur und Wirtschaft, dem Empfang auf dem Monte Verità. Hier pflegten sich in den letzten zehn Jahren Alain Berset und Marco Solari einen hochintellektuellen Schlagabtausch zu liefern.

Ein Frauenduo gibt neu den Ton an

Nun sind bekanntlich im Kulturministerium Elisabeth Baume-Schneider und im Festivalpräsidium Maja Hoffmann eingewechselt worden. Die beiden gestalten ihren ersten gemeinsamen Auftritt als französischen Dialog (mit Amselgesang als Hintergrund) – weniger unterhaltsam, aber nicht weniger substanziell als der rhetorische Hahnenkampf der letzten Jahre. Baume-Schneider, einst langjährige Präsidentin der Eidgenössischen Filmkommission, verblüfft mit einigen Voten. So sagt sie etwa sinngemäss, im heimischen Filmschaffen müsse sich nicht viel ändern, es solle weitermachen wie bisher, statt sich von seinen «nicht so vibrierenden» Kinostatistiken verunsichern zu lassen.

Hoffmann formuliert unter anderem ihr Lieblingsziel, in Locarno alle Kunstdisziplinen willkommen zu heissen. Sie mag im Vergleich zum sprühenden Vorgänger weiterhin spröd wirken, ist aber eindeutig besser disponiert als bei ihrer bestürzend fahrigen Eröffnungsrede einige Tage vorher. Und es besteht ja immer Hoffnung auf weitere Steigerung – eine Gewährsfrau dafür sitzt auf dem Boden im Publikum: Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch, die beim Amtsantritt vor fünfzehn Jahren eine miserable Rednerin war, ist in dieser offiziellen Rolle längst souverän.

Aber im Grund gibt es ohnehin ein paar Reden zu viel an diesem Festival; das ist halt so, wenn die Politik involviert ist. Bei Risotto und Prosecco schwirren die Mottos serienweise, mantraartig wird repetiert, dass die Filmkunst Barrieren niederreisse oder Grenzen sprenge; die zeitgenössische Schlagwortkiste wird geplündert, von «Diversität» über «Inklusion» bis zum «Spirit». Immer wieder hört man auch, der Friede brauche den Film. Oder der Film den Frieden? Und im Hintergrund fletscht der Leopard sein Gebiss. Solche Widersprüche hält das Festival spielend aus – vielleicht ist das Kätzchen ja auch neutral und verteidigt sich bloss.

Fast schon verträumt zeigt sich der Pardo im offiziellen diesjährigen Plakat, gestaltet von der amerikanischen Fotografin Annie Leibovitz: Sie hat das Raubtier an den Lago Maggiore verpflanzt, als wär’s das natürliche Habitat. Ob’s ein Männlein oder ein Weiblein ist, können wohl nur Fachleute sagen, aber so oder so scheint das weibliche Element in dieser Ausgabe gestärkt – auch dank vielen starken Frauenrollen im Filmprogramm und dem Besuch der neuseeländischen Meisterregisseurin Jane Campion.

Omnipräsent ist das Leopardenmuster in den Strassen und Schaufenstern, kaum eine Stadt wird derart von ihrem Filmfest geprägt wie Locarno. Und die Enge kann auch eine Stärke sein: Welches andere grosse Festival vermittelt dem Besucher dieses Gefühl, Teil einer dichten Geschichte zu sein, die gerade in einer Gemeinschaft geschrieben wird? Die regionale Verwurzelung spiegelt auch der Empfang fürs Tessiner Kantonsparlament, einer der wichtigsten institutionellen Anlässe im Programm. Also richtet sogar Maja Hoffmann ein paar Worte an die Gäste, ehe Tessiner Produkte wie der erstklassige Prosciutto crudo von der Alp Piora und Gnocchi an Luganiga-Ragout kredenzt werden.

Botschafter und der Duft der weiten Welt

Die Pflege des Lokalen, so viel ist klar, ist nicht die Stärke der neuen Präsidentin, von der wir allerdings gelernt haben: «Locarno ist grösser als die Schweiz.» So hat sie es jüngst im «Tages-Anzeiger» formuliert, mit Verweis auf den Ruhm, den dieses verträumte Städtchen in der weiten Kinowelt geniesse. Für die Sehnsucht nach dieser steht das Filmfest ebenfalls, und die Hoffnungen ruhen auf Hoffmanns weltweitem Beziehungsnetz, seit sie wie eine Dea ex Machina herabgestiegen ist in die Niederungen des Lago Maggiore.

Marco Solari hingegen hat für die internationale Beziehungspflege vor über zwanzig Jahren die Giornata della diplomazia geschaffen, keinen Crashkurs für Trampel, sondern eine Einladung für alle ausländischen Botschafterinnen und Botschafter in der Schweiz. Auch hier tritt Hoffmann kurz und wenig vorbereitet auf und sagt sinngemäss, noch nicht recht zu wissen, was der Zweck dieses Treffens sei. Später sprechen Aussenminister Ignazio Cassis und sein italienisches Pendant Antonio Tajani, die gleichentags auf den Brissago-Inseln eine gemeinsame Ukraine-Deklaration unterzeichneten.

Tajani betont, dieses Filmfest stärke den Dialog der Kulturen, und sein Botschafter Gian Lorenzo Cornado preist die Freundschaft der beiden Länder, die nebst Werten und einer Sprache das «zweifellos schönste Grenzgebiet Europas» miteinander teilten. Wenn Politik und Kunst sich treffen, wird’s manchmal etwas blumig, fast immer aber geht es auch ums Geld. Für Diskussionen sorgt diesmal die Nachricht, dass das EDA seine Fördergelder für das internationale Filmschaffen, die auch in die internationale Locarno-Sektion «Open Doors» fliessen, um fast die Hälfte auf 2 Millionen Franken kürzt. Dies wird damit begründet, dass das Geld bei der Hilfe für den Wiederaufbau der Ukraine benötigt werde. Der oscargekrönte mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón («Roma») jedoch ermahnt den Bundesrat am Festival öffentlich, den Entscheid zu überdenken.

Womit wir bei der Frage sind, wie politisch so ein Festival sein kann und muss angesichts der Weltlage. Die Welt bleibt nicht draussen, ihre Erschütterungen prägen Gespräche. Das Programm streifen sie höchstens – und kaum die Piazza Grande, die Baume-Schneider bei der Eröffnung als Schaufenster und Symbol einer «weltoffenen, lebendigen Schweiz» bezeichnet hat. Dieser völkerverbindende Charakter zeigt sich auch an einem der letzten Abende: Während im hinreissend lakonischen Piazza-Film «Gaucho Gaucho» Cowboys und -girls durch die Weiten der Pampas reiten, mischt sich der Schmusesong des italienischen Sängers Gianluca Grignani ein, der in der nahen Rotonda gerade ein Konzert gibt.

Shah Rukh Khan rockt das Festival

Diese kleine Kulturbrücke ist allerdings nichts gegen jene, die eine mit dem Ehrenleoparden geköderte Bollywood-Ikone schlägt: Bloss ein Bruchteil der Besucher dürfte auch nur einen der hundert Filme mit Shah Rukh Khan gesehen haben, es wird auch keiner auf der Piazza gezeigt. Doch seinem Charme erliegen sie reihenweise (Corine Mauch entfährt, auf seinen Auftritt angesprochen, ein «Hammer!»). Auf der Piazza Grande beschwört der indische Superstar die grenzensprengende Macht der Filmkunst, die weder politisch noch intellektuell sein müsse. Tags darauf platzt das Kino Gran Rex aus allen Nähten, Festivaldirektor Giona A. Nazzaro lädt zum Gespräch, viele sind aus dem Häuschen, schreien und rufen dazwischen – und fressen ihr Idol am Ende fast auf, ehe Nazzaro zur Besonnenheit mahnt: «He loves you, and you can show him your love by letting him breathe!»

Swiss Cinema, Identity in Diversity - Elisabeth Baume-Schneider Meets Maja Hoffmann

Dem Filmfest, das diesen Samstag endet und voraussichtlich mehr Besucher verzeichnet als die letzte Ausgabe, ist mit diesem Stargast ein Coup geglückt. Und eine Horizonterweiterung für alle, die den Westen als Nabel dieses Planeten sehen: Gemessen daran, dass Khans Filmpublikum fast die Hälfte der Weltbevölkerung umfassen dürfte, ist der fast gleichaltrige Brad Pitt eine Lokalgrösse. Bei seinen Auftritten punktet der 58-jährige Inder mit Humor, der im Filmprogramm des Festivals leider rar gesät ist. Einmal bricht er so überzeugend eine Lanze für die Frauen, im Filmgeschäft wie anderswo, dass man es fast schon politisch nennen muss. Und von seiner Fähigkeit, locker mit dem Volk zu interagieren, könnten sich viele Politiker ohnehin etwas abschauen.

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