Mittwoch, Oktober 9

Die höheren Lebenshaltungskosten in der Schweiz belasten viele Familien. Die Gewerkschaften sehen deshalb Aufholbedarf bei den Löhnen.

Im Tauziehen um höhere Löhne zeichnen sich im Herbst harte Fronten ab. Die Lebenshaltungskosten sind in den letzten drei Jahren deutlich gestiegen, die Bevölkerung spürt den Kaufkraftverlust. Zwar ist die Inflation, die im August 2022 ihren Höhepunkt bei 3,5 Prozent erreichte, inzwischen auf 1,3 Prozent abgeebbt. Aber die Gurken und Bananen kosten auch jetzt noch spürbar mehr als früher.

Das Leben ist teurer geworden

Die gewerkschaftliche Dachorganisation Travail Suisse ortet deshalb dringenden Nachholbedarf und fordert Lohnerhöhungen von bis zu 4 Prozent. Die Kaufkraft der Arbeitnehmenden sei aufgrund der historisch schwachen Lohnentwicklung massiv geschwächt, schrieb die Gewerkschaft am Montag in einer Medienmitteilung.

Doch wie sieht es tatsächlich mit dem Nachholbedarf aus?

Gemäss Angaben der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) liegen die Reallöhne derzeit tatsächlich leicht unter dem Niveau von 2016. Allerdings sind sie in den sechs Jahren zuvor gestiegen. Der längere Betrachtungszeitraum relativiert also die vermutete Vorteilsnahme durch die Unternehmen. Dennoch erstaunt es, dass die Reallöhne seit mittlerweile acht Jahren nicht vom Fleck gekommen sind.

Ursächlich dafür ist in erster Linie die Inflation, die die nominalen Lohnsteigerungen der Jahre 2021, 2022 und 2023 real ins Minus gekehrt hat.

Allerdings ist das Bild auch bei den Reallöhnen nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheint. «Der Teufel liegt im Detail», sagt Michael Siegenthaler, Leiter Arbeitsmarkt bei der KOF. Erstens würden die im Lohnindex ausgewiesenen Reallöhne die tatsächliche Entwicklung unterschätzen. Weder Stellenwechsel in besser bezahlte Branchen noch der Rückgang der Arbeitszeit pro Vollzeitstelle und häufigere Krankheitstage werden im Index vollständig berücksichtigt. Die effektiven Lohnsteigerungen waren also etwas höher, als der Reallohn-Index suggeriert.

Produktivität signalisiert Spielraum, die Lohnquote nicht

Relevant für die Unternehmen ist vor allem die Produktivität. Nur wenn diese steigt, verdienen die Firmen genug, um höhere Löhne zu zahlen. Tatsächlich ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Arbeitsstunde in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als die Reallöhne. Das signalisiert zumindest einen gewissen Spielraum der Unternehmen.

In der jüngsten Lohnumfrage der KOF gehen die Unternehmen für 2025 schweizweit von Nominallohnerhöhungen von 1,6 Prozent aus. Wenn die Inflation im kommenden Jahr auf 1 Prozent sinkt, wie es die KOF erwartet, würde ein bescheidener Reallohnzuwachs von 0,6 Prozent resultieren.

Nach- und aufgeholt ist damit noch nicht viel. Es wäre lediglich eine Normalisierung nach der Inflation und dem Rückgang des Reallohn-Indexes in den vergangenen drei Jahren.

Wie sieht es mit der Verteilung der Wertschöpfung zwischen den Unternehmen und den Arbeitnehmern aus? Die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am BIP, liegt derzeit bei knapp 60 Prozent. Sie ist gemäss dem Arbeitsmarktökonomen Siegenthaler langfristig stabil geblieben beziehungsweise jüngst sogar leicht gestiegen. Das lasse darauf schliessen, dass die Löhne etwa mit der Wertschöpfung gewachsen seien. Das Bild ist also nicht ganz eindeutig.

Die Teuerung gibt den Ausschlag

Doch selbst sinkende Reallöhne bedeuten nicht zwingend, dass die Unternehmen mehr Geld horten. Daniel Kalt, Chefökonom der UBS, betont, dass die Unternehmensgewinne in wirtschaftlich schwierigen Phasen deutlich stärker unter Druck kämen. In den Jahren 2011/2012 sei das bei der massiven Frankenaufwertung der Fall gewesen. Derzeit leidet vor allem der Export unter der schwachen Nachfrage in Deutschland, während es der Binnenwirtschaft bessergeht. Die Ausschläge bei den Unternehmensgewinnen sind grösser als bei den Löhnen.

Spürbare Unterschiede gibt es dabei zwischen jenen Branchen, denen es gutgeht, und denjenigen, die stärker unter Druck sind. «Da ist das Bild sehr differenziert», stellt Kalt fest. Wer seinen Mitarbeitenden mehr zahlen kann, wird attraktiver. Hingegen gibt das Hinterherhinken anderer Branchen den Arbeitnehmern ein wichtiges Preissignal, um sich in Richtung besser zahlender Branchen zu orientieren.

So werden etwa in der Lohnrunde 2025 im Detailhandel, der als klassischer Tieflohnsektor gilt, gemäss KOF-Lohnumfrage lediglich Lohnsteigerungen von 1,1 Prozent erwartet. Die Margen der Unternehmen geben schlicht weniger her als in ertragsstärkeren Branchen wie der Informatik und Kommunikation (+1,8 Prozent), der Chemie (+1,7 Prozent) oder den Banken (+1,6 Prozent). Über die Jahre ergeben sich aus kleinen Differenzen spürbare Unterschiede.

Der Fachkräftemangel war kein starkes Faustpfand

Überraschend am Bild ist, dass die Arbeitnehmer in den letzten Jahren nicht stärker mit dem Faustpfand des Fachkräftemangels wuchern konnten. Dieser hat sich seit dem Höhepunkt im zweiten Quartal 2022 inzwischen zwar abgeschwächt. Dennoch bleibt der Arbeitsmarkt eng.

Sichtbar ist der Knappheitseffekt derzeit vor allem in der Gastronomie, wo mit einer erwarteten Lohnsteigerung von nominal 2,7 Prozent der höchste Anstieg erwartet wird. Erstmals seit zwanzig Jahren gibt es hier einen Arbeitskräftemangel; zudem handelt es sich um eine Branche, in der die Menschen dem Job-Hopping zuneigen. Innerhalb eines Jahres verlässt jeder vierte Arbeitnehmer das Unternehmen. Damit liegt die Fluktuationsrate bei rund 25 Prozent verglichen mit gut 10 Prozent in der Gesamtwirtschaft. In den letzten Jahren hatten auch die Informatik und das Gesundheitswesen, beides Bereiche mit einem besonders starken Fachkräftemangel, bei den Löhnen überproportional zugelegt.

Unter dem Strich ist der Aufwärtsdruck auf die Löhne trotz des Mangels an Fachkräften aber weniger stark, als man erwarten könnte.

Ein Grund dafür dürfte die Zuwanderung aus dem Ausland sein. Die Arbeitgeber sind nicht zwingend auf die Schweizer Wohnbevölkerung angewiesen. Sie können im ganzen Teich der EU fischen beziehungsweise rekrutieren. Gemäss dem Arbeitsmarktökonomen Siegenthaler hat die Personenfreizügigkeit mit der EU zwar gemäss verschiedenen Studien keinen Abwärtsdruck auf das Schweizer Lohnniveau ausgelöst.

Die offenen Grenzen haben aber wohl im Auf- und Abschwung eine dämpfende Wirkung auf die Löhne. Läuft es gut in der Wirtschaft, steigen die Löhne wegen der Zuwanderung weniger stark. Während einer konjunkturellen Durststrecke sinken sie aber auch weniger, weil ein Teil des Abschwungs quasi exportiert wird.

«Die Migration war für die Schweiz immer ein Ventil, um offene Stellen zu besetzen», bestätigt der UBS-Ökonom Kalt. Damit würden die offenen Grenzen dazu führen, dass die Knappheit auf dem Arbeitsmarkt nicht so schnell durchschlage. Die Löhne steigen dann weniger schnell. Aus Arbeitnehmersicht ist dies ein Nachteil. Langfristig positiv ist allerdings, dass der Schweiz so Arbeitsplätze erhalten bleiben, die sonst ins Ausland verlagert würden.

Kommt hinzu, dass immer mehr Unternehmen Lohnbänder für definierte Positionen aufstellen. Würden sie einen neuen Kollegen mit einem 20-Prozent-Zuschlag von der Konkurrenz abwerben, entstünden interne Ungerechtigkeiten. Um bei der ganzen Belegschaft gleichermassen grosszügig draufzulegen, reicht das Geld auch nicht.

Ferner vermeiden es Unternehmen nach Möglichkeit, Fachkräfte von der Konkurrenz mit höheren Löhnen abzuwerben, um nicht anschliessend im Sinne einer Retourkutsche das Gleiche zu erleben.

So wird dann eher versucht, Fachkräfte durch Automatisierungen oder eine Verlagerung der Produktion ins Ausland einzusparen. Wo das, wie in der Gastronomie oder Hotellerie kaum möglich ist, versuchen experimentierfreudige Betriebe beispielsweise mit einem reduzierten Menu-Angebot oder einem nicht mehr täglichen Zimmerservice Personal zu sparen.

Belastungsfaktor Krankenkassenprämien

Wie viel die Gewerkschaften vor diesem Hintergrund herausholen können, bleibt abzuwarten. Was die gestiegenen Lebenshaltungskosten angeht, mit denen so viele Haushalte kämpfen, sind auch die Krankenkassenprämien ein grosser Belastungsfaktor. Diese sind wegen der Ausweitung der Mengen weit stärker gestiegen als die allgemeine Inflation. Das aber spiegelt sich nicht in der Wertschöpfung der Unternehmen.

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