Montag, September 30

Die Berufslehre droht an Attraktivität zu verlieren. Wer seinen Lohn steigern möchte, macht am besten einen Hochschulabschluss.

«Es ist ein absolut krasses Gefühl, die Besten der Welt zu sein», jubelten die beiden jungen Luzerner Reto Dali und Samuel Binder. An der Weltmeisterschaft der Berufe haben sie in der Disziplin Gartenbau die Goldmedaille gewonnen. Vor 20 000 Zuschauern wurden sie im Fussballstadion von Lyon gefeiert.

Insgesamt 15 Medaillen hat die Schweizer Delegation erobert, unter ihnen ein Gipser, ein Schreiner und eine Carosserielackiererin. Sogar Bundesrat Guy Parmelin besuchte die Wettkämpfe diesen Monat und lobte die Berufsbildung der Schweiz. Kein anderes europäisches Land hat so viele Titel geholt.

In der realen Arbeitswelt allerdings erhalten die Berufsleute deutlich weniger Wertschätzung. Bei den Löhnen schneiden sich schlecht ab. Ein junger ausgebildeter Gärtner zum Beispiel kann mit einem Einstiegslohn von 4400 Franken rechnen. Mit 30 Jahren Berufserfahrung steigt sein Gehalt auf 5400 Franken im Monat.

Erfahrung zählt wenig

In einer neuen Studie warnt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) davor, dass die Löhne der Büezer im Vergleich zu den Akademikern immer mehr ins Hintertreffen geraten. Erwerbstätige mit Berufsabschluss starten bereits mit einem tieferen Salär: Im Schnitt verdient man als Einsteiger 4300 Franken, während der Absolvent einer Universität mit 6000 Franken beginnt.

Als problematisch bezeichnet es der SGB, dass auch die berufliche Erfahrung bei den Gelernten deutlich weniger zählt als bei den Akademikern. Für Berufsleute steigt der Lohn mit dem Alter um lediglich 40 Prozent und erreicht bis zur Pensionierung durchschnittlich 6000 Franken.

Bei der Fachhochschule erreicht die Zunahme immerhin 50 Prozent. Um einiges besser dagegen ist die Lohnperspektive bei den Uni-Abgängern: Sie können ihr Gehalt mit der zunehmenden Erfahrung um volle 70 Prozent auf 10 300 Franken im Monat steigern. Die Auswertung beschränkt sich zur besseren Vergleichbarkeit auf Beschäftigte ohne Kaderfunktion.

«Während die Politik gerne Sonntagsreden über die Vorteile der Berufsbildung hält, beobachten wir in der Praxis einen schleichenden Attraktivitätsverlust», kritisiert der Studienautor und SGB-Zentralsekretär David Gallusser. «Die tiefen Löhne schrecken auch viele Jugendliche ab: Sie treten entweder gar keine Lehre mehr an oder verlassen den Beruf nach dem Abschluss wieder.»

Der Schweizerische Arbeitgeberverband dagegen kritisiert in einer schriftlichen Stellungnahme, die SGB-Studie sei irreführend und zeige ein verzerrtes Bild: «Mit den verhandelten Löhnen werden teilweise auch bewusst Anreize gesetzt, sich tertiär weiterzubilden, und daher müssen je nach Struktur der Branchen unterschiedliche Aussagen zu den Lohnentwicklungen gemacht werden.»

Immer mehr Akademiker

Weiter betont der Arbeitgeberverband, das Schweizer System sei äusserst durchlässig und biete auch nach der Berufslehre viele Aufstiegsmöglichkeiten, namentlich via Fachhochschule. So habe sich der Anteil der 25- bis 34-Jährigen mit einem tertiären Abschluss seit der Jahrtausendwende verdoppelt und erreiche inzwischen 52 Prozent.

David Gallusser fordert stattdessen eine bessere Bezahlung für die Beschäftigten mit einer Lehre: «Es ist weder möglich noch wünschenswert, dass alle Gelernten zu Akademikern werden.» Höhere Löhne würden die Berufslehre zudem wieder attraktiver machen.

Doch wie ist es ökonomisch zu erklären, dass Akademiker ihren Verdienst mit steigender Erfahrung stärker steigern können als Coiffeusen oder Köche? Michael Siegenthaler von der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich sieht einen wichtigen Faktor darin, dass jene Beschäftigten, die einen höheren Abschluss mitbringen, öfter beruflich aufsteigen und sich später häufiger weiterbilden.

«Eine Lehre ermöglicht einen guten Einstieg ins Berufsleben, weil die erworbenen Fähigkeiten sehr genau zum Jobprofil passen», erklärt der Arbeitsmarktexperte. Der Nachteil sei allerdings, dass man aufgrund der teilweise recht spezifischen Ausbildung weniger leicht den Beruf oder die Branche wechseln könne. Dadurch werde man auch eher zum Opfer des Strukturwandels. Mit dem Aufkommen der Elektrofahrzeuge wird zum Beispiel ein Teil der Kompetenzen, die ein Automechaniker vor zehn Jahren gelernt hat, im Arbeitsmarkt weniger gebraucht.

Frühe Selektion ist unfair

Umgekehrt verhalte es sich mit den Akademikern, erklärt Siegenthaler. «Ihre Qualifikationen nach der Universität sind eher breit und unspezifisch. Das ist am Anfang der Arbeitskarriere zwar ein Nachteil. Dafür jedoch profitieren sie von einer grösseren Flexibilität in ihrer späteren Laufbahn.» Denn wer sich mit Lernstrategien auskenne und die Fähigkeit besitze, sich eigenständig Wissen anzueignen, erhalte in der Berufswelt eine breitere Auswahl an Optionen.

Zwar lobt auch der KOF-Experte die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems. Aus seiner Sicht liesse sich die Chancengerechtigkeit gleichwohl dadurch verbessern, dass die schulische Selektion nicht in zu jungen Jahren erfolge. «Je früher die Triage für das Gymnasium stattfindet, desto eher begünstigt sie jene Kinder, die selbst aus einem Akademikerhaushalt stammen.»

Die Kluft zwischen den handwerklichen und den akademischen Berufen lässt sich nicht so leicht überwinden. Dies zeigt sich auch bei den unterschiedlichen Gehaltssystemen. Insbesondere öffentliche Arbeitgeber, welche überdurchschnittlich viele Hochschulabsolventen beschäftigen, koppeln den Lohn an die berufliche Erfahrung: So steigt das Gehalt der Staatsangestellten in der Regel mit jedem Altersjahr um 0,5 bis 1 Prozent an.

Für Gymnasiallehrer bedeutet dies zum Beispiel: Während sie mit einem durchschnittlichen Jahreslohn von 101 000 Franken starten, kann ihr Salär bis zur Pensionierung auf 155 000 Franken ansteigen. Gemäss der Studie des Gewerkschaftsbundes fällt dieser Lohnanstieg bei handwerklichen Berufen wesentlich geringer aus: So verdient eine erfahrene Heimbetreuerin nur gerade 14 Prozent mehr als eine Einsteigerin.

Sind Akademiker gegenüber den Gelernten privilegiert? Der Arbeitgeberverband verneint dies: «Beschäftigte mit Universitätsabschluss verdienen im Schnitt zwar mehr als solche mit Lehrabschluss. Dafür haben sie fünf Jahre (und häufig mehr) in ein Studium investiert und auf Lohn verzichtet.» Umgekehrt findet der emeritierte Basler Professor George Sheldon, die Ausbildung an der Uni sei eigentlich zu billig. Die Denkfabrik Avenir Suisse hat ebenfalls errechnet, dass der Staat für ein Studium im Schnitt 120 000 Franken mehr ausgibt als für eine Berufslehre.

«Ein Universitätsabschluss kostet in der Schweiz fast nichts», sagt Sheldon. «Eine gewisse Erhöhung der Studiengebühren fände ich daher sinnvoll, wenn dies sozialverträglich geschieht. Dies würde auch die Fairness gegenüber den Berufsschülern verbessern.» Zudem, so der Arbeitsmarktökonom, würde eine solche Gebühr ein Preissignal aussenden. Dies erhöhe den Druck auf die Studierenden, solche Fächer zu wählen, welche volkswirtschaftlich einen höheren Nutzen erbringen, etwa in den Bereichen Technik oder Naturwissenschaften.

Mit dem Fachkräftemangel wird es künftig noch wichtiger, jene Berufe zu fördern, die in der Wirtschaft effektiv gefragt sind. Das duale Bildungssystem mit der Berufslehre kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Vorausgesetzt, dass sich auch weiterhin viele talentierte Jugendliche für eine Lehre begeistern können.

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