Freitag, Januar 10

Längst wollte Loïc Meillard seinen Teamkollegen Marco Odermatt im Kampf um den Gesamtweltcup herausfordern. In der letzten Saison kam ihm eine neue Bindung in die Quere, in dieser sein Rücken. Dennoch startet er in Adelboden mit der Hoffnung auf einen Sieg.

Vor zehn Jahren und einem Tag debütierte Loïc Meillard im Weltcup, hier in Adelboden, im Riesenslalom. 6,34 Sekunden trennten den 18-Jährigen vom späteren Sieger und Weltcup-Dominator Marcel Hirscher, damit verpasste Meillard den zweiten Lauf.

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Nun ist er wieder am Chuenisbärgli. Im Slalom vom Samstag – die Disziplinen des Rennwochenendes wurden wegen des Wetters getauscht – trägt er die rote Startnummer, was bedeutet, dass der Walliser der beste Slalomfahrer im bisherigen Saisonverlauf ist. Zum ersten Mal trägt diese Nummer in einem Adelboden-Slalom ein Schweizer, «das ist ein schönes Gefühl», sagt Meillard, der in diesem Winter in vier von fünf Slaloms auf dem Podest stand, «aber es wird nichts ändern.» Er weiss, dass durch diese Momentaufnahme noch nichts gewonnen ist.

Die sechs Sekunden Rückstand auf die Weltspitze sind längst geschmolzen, dennoch war Meillard nie dort, wo Hirscher damals thronte: am Ende der Saison ganz oben.

Immer stand etwas zwischen Meillard und der grossen Kristallkugel: Mal war es eine neue Bindung, die in den dümmsten Momenten aufging und ihm das Selbstvertrauen raubte. Mal der Rücken, an dem er sich in Topform just vor dem ersten Saisonrennen verletzte. Oft war es sein eigener Perfektionismus. Und noch öfter sein Teamkollege Marco Odermatt. Wer den stärksten Skifahrer seiner Generation schlagen will, kann sich keine Kämpfe auf Nebenschauplätzen erlauben.

Obwohl: Auch Meillard könnte für solch einen Superlativ stehen. Der Teamkollege Daniel Yule sagt, er könne sich nicht vorstellen, wie man technisch besser Slalom fahren könne als Meillard. Der Riesenslalom-Gruppentrainer Helmut Krug sagte vor ein paar Jahren, als Meillard noch bei ihm trainierte: «Von der Gabe, der Beweglichkeit, der Technik her ist Loïc der beste Skifahrer der Welt.»

Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass er der schnellste ist. Odermatt kann während der Fahrt mit seinem Gespür reagieren. Meillard hingegen zieht seinen Plan durch, er will perfekt fahren, was zweifellos schön zum Anschauen ist. Doch in der Regel ist Odermatt schneller.

In einer TV-Dokumentation erlebt man Meillard in seltener Offenheit

Meillard weiss, dass er sich manchmal ins eigene Fleisch schneidet, wenn er alles kontrollieren will. Skifahren ist auch die Kunst, die Ski im richtigen Moment laufen zu lassen.

Und so versucht Meillard, sich von Odermatt inspirieren zu lassen. Wie Marcel Hirscher damals treibt der Dominator der vergangenen Saisons die Konkurrenz an, noch härter zu arbeiten. «Fünfzig Athleten versuchen, es ihm gleichzutun, doch bisher ist es keinem gelungen», sagt Meillard in der SRF-Dokumentation «Der Ski-Zirkus», für die er im vergangenen Winter von einem Kamerateam begleitet wurde.

In der vierteiligen Serie erlebt man Meillard in einer seltenen Offenheit. Den Walliser kennt man sonst im Umgang als stets freundlich, aber unverbindlich. Er verzichtet auf markante Sprüche und meidet emotionale Ausbrüche in Triumph oder Niederlage, die legendäre Interview-Momente schaffen könnten. Seine wahre Gefühlslage sei nichts für die Öffentlichkeit, sagte er einst dazu.

Sein Umfeld und seine Teamkollegen erleben ihn anders: zugänglich, gesprächig, immer um gute Stimmung im Team bemüht, ein Vorbildathlet. Er nimmt sich zurück, damit es für alle passt, ist «fast zu lieb für den brutalen Rennsport», sagte der Swiss-Ski-CEO Walter Reusser.

Der Ski-Zirkus – Neue Saison, neues Glück | Folge 1 | DOK | SRF

Dass man in der Dokumentation einen emotionalen Meillard erlebt, liegt am Winter 2023/24, der für ihn eine ganze Palette an Gefühlen bereithielt. Die Saison, in der er Odermatt den Titel streitig machen wollte, begann mit einem Schock: Beim Saisonstart in Sölden verlor er plötzlich einen Ski. Meillard nutzte als einziger Athlet den Prototyp einer Bindung, die sein Ausrüster Rossignol entwickelt hatte. Im Training überzeugte sie ihn, weil er sich freier bewegen konnte, er spielerischer agieren konnte. Geöffnet hatte sie sich vor Sölden nie.

In seiner Wut gingen im Zielraum von Sölden die Pferde mit Meillard durch. «Ich bring ihn um», sagte er in einer ersten Reaktion und meinte damit seinen Servicemann, der vermeintlich etwas an der Materialeinstellung geändert hatte. Doch diesen traf keine Schuld, man fand keinen Grund für die Fehlfunktion der Bindung; Meillards Selbstvertrauen war angeschlagen.

Ein paar Wochen später passierte es wieder, ausgerechnet im Riesenslalom von Adelboden, als er bestechend unterwegs war, endlich wieder mit Selbstvertrauen fuhr. Und dann noch einmal, eine Woche darauf im Abfahrtstraining am Lauberhorn in voller Fahrt. Meillard fiel in ein Loch. «Ich bin an dem Tag so tief gefallen. Sämtliche Hoffnungen haben sich in Luft aufgelöst.» Und doch wollte er mit der neuen Bindung weitermachen.

Es folgt der bemerkenswerteste Teil der Geschichte: 17 Tage nach dem letzten Skiverlust fuhr er in Garmisch-Partenkirchen im Super-G aufs Podest. Von den letzten zwölf Rennen der Saison beendete er sieben auf dem Podium. Er siegte zum ersten Mal in einem Slalom und gewann zum Saisonende just jenes Rennen, das Odermatts lange Siegesserie im Riesenslalom beendete. Der Lohn für die Aufholjagd im Schatten des Dominators war der zweite Platz im Gesamtweltcup. Und wenn auch Odermatt fast doppelt so viele Punkte sammelte: Meillard sah, dass er ebenso gut sein kann, wenn alles passt.

Bis zu dieser Erkenntnis brauchte es Zeit. Sein Umfeld sagt, Meillard müsse spüren, dass er Weltklasse sein könne. Er brauche Ermunterung, nicht Druck, und Menschen um ihn herum, die ihn bestärkten und mit ihm daran arbeiteten, dass er sich ob den eigenen Fehlern nicht zerfleische. Sein Gruppentrainer Matteo Joris sagt: «Das geht Schrittchen für Schrittchen voran.»

Der Riss in der Hülle einer Bandscheibe beeinträchtigt ihn noch immer

Der Sommer nach seiner bislang besten Saison verlief gut für Meillard, Marco Odermatt bezeichnete ihn danach als seinen grössten Konkurrenten. Doch auch die gegenwärtige Saison begann mit einem bitteren Aus: Beim Einfahren vor dem Rennen von Sölden erwischte Meillard einen Schlag, der einen Riss in einer Bandscheibenhülle verursachte. Der Schmerz zwingt ihn, das Rennen auszulassen, beim Comeback in Levi von Mitte November steht er aber bereits wieder auf dem Slalom-Podest.

Meillard hat das Problem im Griff, aber nicht gelöst: Die Schmerzen variieren. Joris sagt, sein Athlet habe nach dem Riesenslalom in Alta Badia kaum mehr gehen können. Immerhin: Die Weihnachtspause half. Im Slalom funktioniert es auch wegen der Körperposition am besten, im Riesenslalom war es bisher in dieser Saison schwierig, Super-G hat er erst einen bestritten. In Adelboden erklärt Meillard, die Probleme entstünden auch, weil er wegen der Schmerzen kompensiere und dadurch andere Verspannungen im Körper entstünden.

Meillard und sein Team schauen von Tag zu Tag, welche Belastung am meisten Sinn hat, grundsätzlich braucht er im Training öfter eine Pause. Dank den guten Slalom-Resultaten belegt er im Gesamtweltcup Rang drei; er liegt 236 Punkte hinter Odermatt und 120 hinter Henrik Kristoffersen.

In der TV-Dokumentation sagt Meillard am Ende der Saison 2023/24: «Man ist das ganze Jahr über auf der Jagd nach dem perfekten Lauf, nach dem Gefühl der Freiheit, Herr über die Ski zu sein. Aber es sind die weniger guten Momente, in denen man am meisten über sich lernt.» Dass er so schnell wieder auf seine Fähigkeiten im Krisenmanagement zurückgreifen muss, hätte er damals wohl nicht gedacht.

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