Sonntag, September 8

Eine Heranwachsende verführt einen reifen Mann – diese Szene hat im französischen Film der siebziger und achtziger Jahre zigmal stattgefunden. Noch 2011 sprach ein Regisseur ganz unbedarft darüber, wie erregend er den Dreh mit einer jungen Schauspielerin fand. Nun ist er angezeigt worden.

«Das Verbotene» – so nannte Gérard Miller den ersten Teil einer dreiteiligen Dokumentation über ungewöhnliche Beziehungsformen. Miller ist einer von Frankreichs bekanntesten, weil umtriebigsten Psychoanalytikern, der Fernsehformate und Kolumnen bespielt und auch im Theater auftritt. In der besagten Dokumentation lässt er mehrere Personen zu Wort kommen, die ihre Beziehung zu einem deutlich älteren Partner oder einer viel jüngeren Partnerin beschreiben.

Unter ihnen ist auch Benoît Jacquot, ein französischer Regisseur mit internationalem Renommee. Er erzählt von der Zeit Ende der achtziger Jahre, als er mit der jungen Schauspielerin Judith Godrèche arbeitete. Godrèche war gemäss seinen Worten damals 15 Jahre alt – er, Jacquot, 40. Die junge Frau, in den Anfängen ihrer Schauspielkarriere, habe ihr Verlangen sehr offensiv und heftig gezeigt und das seinige geweckt, erzählt Jacquot in der Dokumentation. Er glaube, es sei nicht legal gewesen, mit ihr eine Beziehung einzugehen, ergänzt er in nonchalantem Tonfall. Aber das habe ihn nicht gestört, und er glaube, Godrèche habe dies ebenfalls sehr erregt.

Belästigung unter Hypnose?

Millers Dokumentation ist 2011 erschienen und wurde in jenem Sommer von einem privaten Sender ausgestrahlt. Grosse französische Medien besprachen sie damals; für Schlagzeilen sorgte sie nicht.

Nun, fast 13 Jahre später, stehen Millers Werk und die Aussagen des Regisseurs Jacquot in einem anderen Licht da. Die Schauspielerin Judith Godrèche, inzwischen 51 Jahre alt, hat Anfang Februar in Paris Anzeige erstattet: gegen Jacquot und auch gegen dessen Kollegen und Freund, den Regisseur Jacques Doillon. Sie wirft beiden vor, sie am Filmset und in dessen Umfeld mehrfach vergewaltigt zu haben. Ausserdem sei sie zu Beginn der Beziehung mit Jacquot nicht 15, sondern erst 14 Jahre alt gewesen – was die Gesetzeslage noch einmal verschärft.

Seit 2021 gelten sexuelle Handlungen eines Erwachsenen mit einem Kind unter 15 Jahren in Frankreich als Vergewaltigung und sind damit strafbar – unabhängig davon, ob das Kind zugestimmt hat. Der Klage gegen Doillon haben sich zwei weitere Schauspielerinnen angeschlossen.

Auch der Psychoanalytiker Gérard Miller steht seit einigen Tagen am öffentlichen Pranger. Sechs Frauen haben Klage gegen ihn eingereicht, sie sexuell belästigt beziehungsweise vergewaltigt zu haben, mehrere Dutzend beschuldigen ihn unangebrachter Gesten oder Übergriffe. Unter jenen, die Anzeige erstattet haben, ist eine ehemalige Gymnasiastin, die Miller 2001 offenbar für die Schülerzeitung um ein Interview angefragt hatte. Miller soll sie, möglicherweise durch heimlich verabreichte Drogen, gefügig gemacht und sexuell genötigt haben. Andere Frauen beschuldigen den Psychoanalytiker, sie unter Hypnose sexuell belästigt oder angefasst zu haben.

Jacquot, Doillon und Miller bestreiten sämtliche Vorwürfe. Doch unabhängig davon, ob in ihrem Fall Ermittlungen aufgenommen werden: Der Fall Godrèche und die damit in den Fokus gerückte Dokumentation von Miller entlarven so deutlich wie selten zuvor, welche Sitten in Frankreichs Kulturszene als völlig legitim hingenommen wurden – und wie lange.

«Jetzt hört man mir zu»

In der Dokumentation, die 2011 aufgenommen wurde, sagt Jacquot mit einem Lächeln, dass das Filmemachen eine Art Deckmantel gewesen sei, um diese Art von Sitten zu leben. Sprich: mit jungen Mädchen sexuelle Beziehungen einzugehen. Verbindungen wie jene zu Judith Godrèche – die beiden waren sechs Jahre lang ein Paar – hätten auch sein Werk beeinflusst. Doch damals bei der Ausstrahlung: kein Aufschrei, keine #MeToo-Welle.

Dass Godrèche gerade jetzt an die Öffentlichkeit ging, erklärt sie unter anderem damit, dass sie im vergangenen Jahr eine Serie produziert habe, die sich stark an ihrem eigenen Werdegang orientiere. Daraufhin habe sie auch Millers Dokumentation entdeckt, die sie in diesen frühen Rollen zeige. Das habe sie «wirklich durchgeschüttelt», sagte sie kürzlich im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung». Durch ihre eigene heranwachsende Tochter sei ihr bewusst geworden, wie schutzbedürftig man mit 14, 15 Jahren noch sei. Und: Sie habe bereits in den neunziger Jahren einen Roman veröffentlicht, in dem sie «ziemlich offensichtlich» ihre Geschichte beschreibe. Jetzt höre man ihr zu.

Tatsächlich hat sich Frankreich in den vergangenen Jahren etwas verändert. Hatte man die Amerikaner noch als hysterisch und prüde belächelt, als die Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein 2017 die erste #MeToo-Welle lostraten, so reihen sich Benoît Jacquot, Jacques Doillon und Gérard Miller nun in eine ganze Liste ein. Auch in Frankreich sehen sich zahlreiche Persönlichkeiten der Kultur- und der Medienszene, aber auch aus der akademischen Welt oder der Politik mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung, der Nötigung oder der Vergewaltigung konfrontiert. Auch über Gewalt in Beziehungen wird viel offener gesprochen. Die Enthüllungen treten seit etwa vier Jahren in Wellen auf: Meist animiert eine Frau, die das Schweigen bricht, zahlreiche weitere.

Das Schema ist stets ähnlich: Ältere Männer sollen Frauen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen standen, sexuell belästigt, genötigt oder vergewaltigt haben. Oft, aber nicht immer liegen die mutmasslichen Übergriffe Jahre zurück. Vom Starmoderator Patrick Poivre d’Arvor über den Schriftsteller Gabriel Matzneff bis zu Gérard Depardieu: Sie alle streiten die Vorwürfe ab. Manche sehen sich als Rufmordopfer linker Feministinnen. In einigen Fällen laufen Ermittlungen bis heute, doch zu Verurteilungen von prominenten Tätern ist es bisher nicht gekommen.

Macron, der Depardieu-Fan

Frankreichs Gesellschaft ist vergleichsweise spät dran. Wie Millers Dokumentation zeigt, wurden länger als anderswo gewisse Dinge toleriert – oder aber verschwiegen. Kulturministerin Rachida Dati schrieb zu den jüngsten Enthüllungen in einem Beitrag für eine Filmzeitschrift, ein ganzes System nehme heute Kenntnis von seiner kollektiven Blindheit; einer Blindheit, die Jahre gedauert habe.

Die Soziologin Alice Debauche, die am Institut Sage der Universität Strassburg zu sexueller Gewalt und Geschlechterbeziehungen forscht, sagt, in Frankreich hätten sich gewisse Milieus lange gegenseitig geschützt. Das sei nun offenbar vorbei. Doch in der Gesellschaft gebe es auch Vorbehalte gegenüber Frauen, die Prominente beschuldigten. Der Verdacht, sie handelten aus Rachsucht oder Karrieregründen, sei selten weit.

Daraus haben sich auch Gegenbewegungen ergeben. Als #MeToo in Amerika losbrach, reagierten prominente Stimmen aus der französischen Filmwelt entsetzt, unter ihnen auch viele Frauen: Sie sahen die Galanterie und die französische Tradition in Gefahr. So weit wagt sich heute zwar niemand mehr vor. Aber als im Januar neue Anschuldigungen gegen die Filmikone Gerard Depardieu bekannt wurden, trat eine seiner früheren Partnerinnen im Fernsehen auf und erklärte, Gerard könne unflätig sein und habe einen manchmal etwas grenzwertigen Humor, aber er sei unfähig, einer Frau weh zu tun.

Und damit nicht genug. Auch der Präsident setzte einen Kontrapunkt. Emmanuel Macron bekannte sich in einem Interview als grosser Fan des französischen Filmstars Depardieu und wies darauf hin, dass bis zum Beweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung gelte. «Es gibt eine Sache, bei der Sie mich nie sehen werden: Hetzjagden», sagte Macron. Die Demontage einer berühmten Persönlichkeit ist in Frankreich schwieriger als anderswo.

Für Miller, Jacquot oder Doillon hat bisher allerdings niemand Partei ergriffen. Die Geschichte der sehr jungen, eventuell gar minderjährigen Frau, die einen älteren Mann verführt, will zumindest öffentlich niemand mehr verteidigen. Auch der französische Film hat sich den heutigen Moralvorstellungen weitgehend angepasst.

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