Montag, November 25

An die Stelle des Verrückten, der sich ein Ohr abschnitt, ist jetzt in der National Gallery ein gelehrter Postimpressionist getreten. Derweil vergleicht das Zürcher Kunsthaus van Gogh mit dem Werk des chinesisch-kanadischen Malers Matthew Wong.

Die berühmten Sterne über der Rhone punktieren die blauschwarze Nacht. Erleuchtete Fenster am Ufer spiegeln sich im Wasser wie Lichtsäulen. Unten rechts im Bild scheinen zwei kleine menschliche Figuren auf dem Wasser zu wandeln. Gleich ist klar, dass es seinem Schöpfer um mehr ging als um die Darstellung einer mitternächtlichen Szene. «In einem Bild möchte ich etwas Tröstendes sagen», schrieb Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo, «wie bei einem Musikstück.»

Doch nur wenn man das Original seiner «Sternennacht über der Rhone» (1888) sieht, erfasst man es wirklich. Keine Reproduktion reicht an eine wirkliche Begegnung mit van Goghs Kunst heran. Die Sterne und die Lichter in den Fenstern sind in dicken, unregelmässigen Farbklecksen aufgetragen und geben dem Bild eine dreidimensionale, fast haptische Qualität. Die «Sternennacht über der Rhone» (1888) möchte man am liebsten anfassen.

Das versuchten Klima-Aktivisten. Unterbrochen wurde die grosse Ausstellung in der Londoner National Gallery nämlich durch eine massive Stör-Aktion. Mitglieder der Gruppe «Just Stop Oil» attackierten mehrere Gemälde des niederländischen Künstlers mit Suppe. Nur Stunden vor der Tat waren zwei Mitglieder der Aktivisten-Gruppe wegen eines vorherigen Suppenangriffs auf eines von van Goghs Sonnenblumengemälden im Oktober 2022 zu Haftstrafen verurteilt worden. Der erneute Angriff wurde von der Gruppe als «Zeichen des Trotzes» bezeichnet.

Atemberaubende Bilderfülle

Van Goghs Meisterwerke haben diese Attacken unbeschadet überstanden: die Sonnenblumen, der Sternenhimmel, die Zypressen und Bauernstühle und der «Sämann bei untergehender Sonne» (1888) aus Zürich. Alle sind sie jetzt in der National Gallery zu sehen. Die Schau würdigt das Werk des Niederländers umfassend. Sie ist Teil der Zweihundertjahrfeier des Londoner Kunstmuseums, das der junge van Gogh als Besucher schon selber gekannt hatte.

Die sechzig gezeigten Bilder schuf der Maler in den zwei turbulenten Jahren, die er von Februar 1888 bis Mai 1890 in Südfrankreich verbrachte. Er malte schnell, drückte die Farben oft direkt aus der Tube auf die Leinwand. Man sieht das Gemachte, Handgefertigte, auch ohne besonders nah heranzutreten. Diese Bilder verleugnen den Herstellungsprozess nicht und erlauben fast so etwas wie einen Blick über die Schulter des Malers, der am liebsten unter freiem Himmel arbeitete. Das verleiht seinen Gemälden Unmittelbarkeit, aber auch – bei aller Neigung zur Transzendenz – Bodenständigkeit.

Nach van Goghs Ankunft in Frankreich hellte sich unter dem Einfluss der Impressionisten seine Palette auf. Er begann, in den für ihn typischen kräftigen, unverbundenen Pinselstrichen zu malen, die jedes Motiv in Bewegung zu versetzen scheinen. In kurzer Zeit entstanden Meisterwerke von enormer Intensität, rund zweihundert Gemälde und etwa hundert Zeichnungen – ein atemberaubendes Werk.

Der Titel der Londoner Schau – «Van Gogh: Poets and Lovers» – leitet sich von den beiden Porträts ab, mit denen der Parcours beginnt: einerseits dem Bildnis eines Soldaten namens Leutnant Milliet. Van Gogh gab dem Gemälde den Titel «Der Liebhaber» (1888), weil ihm die Frauen nachliefen. Anderseits ist da das Bild eines hohlwangigen Malerfreundes, Eugène Boch, das er «Der Dichter» (1888) nannte, weil er ihn an Dante erinnerte. Zwischen den beiden Männerköpfen hängt das «Paar im Park von Arles». Darauf spaziert ein gesichtsloses Liebespaar aus der Ferne auf den Betrachter zu.

Bemerkenswert ist nicht nur die Dichte der gezeigten Werke, sondern auch, dass die Schau auf Bildunterschriften und Wandtexte verzichtet. Das Ziel ist es wohl, die Kunst selber sprechen zu lassen. Spärliche Hinweise auf die Biografie sind in die Begleitbroschüre gewandert. Darin erscheint van Goghs Leben sonderbar beruhigt. An die Stelle des Verrückten, der sich selber sein Ohr verstümmelte, ist ein gelehrter, von Büchern und Farbtheorie genährter Postimpressionist getreten, ein kultivierter Progressiver, der die neuesten Entwicklungen in der Kunst aufnimmt und perfektioniert.

Seelenlandschaften

Nur ein einziges Selbstbildnis ist in der Ausstellung zu sehen – wenn man von seinem Strohstuhl mit der Pfeife (1888/89) absieht, das als symbolisches Selbstporträt gilt. Die Menschen auf den versammelten Leinwänden sind eher rar. Die National Gallery konzentriert sich auf van Goghs südfranzösische Gärten und Landschaften, die zugleich auch immer Seelenlandschaften sind.

Den Garten des Hospitals, in das van Gogh nach seinem seelischen Zusammenbruch freiwillig zieht, lässt er auf dem Bild «Der Garten des Asyls in Saint-Rémy» (1889) wie einen Paradiesgarten aussehen. In der Version desselben Jahrs wiederum zeigt er ihn wie eine trostlose Einöde, in der nach den Worten des Malers ein Baum «wie ein dunkler Riese» wächst, «wie ein stolzer Mann, der erniedrigt wurde».

Van Gogh intensiviert in seinen Bildern das beschauliche Leben, das sich vor seinen Augen abspielt. Eine städtische Grünanlage vor seinem Haus, von der er zugibt, dass sie nichts Besonderes ist, wird zum Park («Pfad im Park», 1888), in dem Paare in der Art der Fêtes galantes von Jean-Antoine Watteau wandeln. Im «Olivenhain» in Saint-Rémy von 1889 malt er die Erde in horizontalen Pinselstrichen, die Olivenbäume in vertikalen und den Himmel in diagonalen – eine herrliche Symmetrie in Braun, Grün und Gelb.

Trotz dem Versuch der National Gallery, van Goghs Biografie zu beschönigen, ist es kaum möglich, diese Gemälde ohne die Erinnerung an dessen mühsames, 37-jähriges Leben zu betrachten, das ihn zum Inbegriff, Klischee und Mythos des verkannten Künstlers zwischen Genie und Wahnsinn werden liess. Zu seinen Lebzeiten verkaufte er fast nichts, ihn würdigte nur ein einziger Kritiker. Gabriel-Albert Auriers Aufsatz in der Kulturzeitschrift «Mercure de France» sollte künftige Einschätzungen vorwegnehmen.

Aurier nannte 1890 van Goghs Werk «beunruhigend, verwirrend, von einer seltsamen Natur, die zugleich wahrhaftig und fast übernatürlich ist». Er sprach von einer «exzessiven Natur, in der alles, Wesen und Dinge, Schatten und Farben, sich in einem wütenden Willen aufbäumt, sein wesentliches und eigenes Lied zu schreien». Aurier schloss seinen Artikel mit dem Bedauern, dass van Gogh wohl nie ganz verstanden werden würde, denn er sei «zu einfach und gleichzeitig zu subtil für den zeitgenössischen bürgerlichen Geist».

Van Gogh in Zürich

Und wie versteht man Vincent van Gogh heute? «Ich sehe mich selbst in ihm. Die Unmöglichkeit, in diese Welt zu gehören»: Mit diesen Worten bezog sich der chinesisch-kanadische Maler Matthew Wong (1984–2019) auf van Gogh. Auch Wongs Schwerpunkt lag auf Landschaften von expressiv-lyrischer Kraft. Und wie van Gogh kam auch Wong als Autodidakt zur Kunst. Anregungen für seine Malerei fand er zwar auch bei Henri Matisse, Shitao, Gustav Klimt, Yayoi Kusama oder Alex Katz. Van Gogh aber ist in Wongs Malstil besonders präsent.

Wong ist sein Seelenverwandter von van Gogh. Beide litten an psychologischen Herausforderungen, beide schieden relativ jung aus dem Leben. Parallelen gibt es aber auch, was die direkte, ungefilterte Art und Weise betrifft, den eigenen Gemütszustand zum Ausdruck zu bringen. Das lässt sich jetzt in der Schau des Kunsthauses Zürich überprüfen. Die Präsentation gönnt zwar beiden Künstlern ihre jeweils eigene Autonomie, setzt aber die rund 40 Werke Wongs mit dem guten Dutzend Arbeiten van Goghs mittels Sichtachsen in einen spannenden optischen Dialog.

MATTHEW WONG – VINCENT VAN GOGH

«Van Gogh: Poets and Lovers», National Gallery, London, bis 19. Januar 2025; Katalog: 35 Pfund. «Matthew Wong – Vincent van Gogh. Letzte Zuflucht Malerei», Kunsthaus, Zürich, bis 26. Januar 2025; Katalog: Fr. 49.

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