Drei Zürcher Politiker von links und rechts finden, es müsse jetzt etwas gehen. Und schonen auch die eigenen Parteien nicht.
Es gibt Dinge, die scheinen unwichtig, bis sie vom Lauf der Ereignisse plötzlich in ein bedeutsames Licht gerückt werden. Der grosse Aktienkauf vor der Firmenübernahme, die Spur im Schnee vor der Lawine. Oder die Website von Andrew Katumba bis zum Montagmorgen, als Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch und ihr Stadtratskollege André Odermatt ihren Abgang ankündigten.
Katumba, SP-Kantonsrat aus der Stadt Zürich, präsentiert sich dort, als befinde er sich in einem Präsidentschaftswahlkampf. Ein gutaussehender Mann um die fünfzig in einem modischen karierten Anzug, porträtiert im goldenen Morgenlicht. Darüber gross der Slogan: «Züri für alli». Der Sohn eines Uganders und einer Ukrainerin, aufgewachsen im Kreis 4, ist «durch und durch ein Zürcher», wie er betont. Und er spricht auch so, ohne Punkt und Komma. Geht auf alle zu, gibt sich als Brückenbauer, schmiedet in der Baukommission Kompromisse. Das perfekte Bewerbungsschreiben.
Auch das Timing würde bemerkenswert gut passen: Andrew Katumba ist ab Sommer ohne Amt, weil er seinen Ratssitz aufgrund einer SP-internen Amtszeitbeschränkung nach elf Jahren abgibt. Er hat aber ausdrücklich klargestellt, dass es kein Rückzug aus der Politik sein solle.
Katumba ist einer von mehreren Zürcher Politikerinnen und Politikern, die dieser Stadt in den nächsten Wahlen so etwas wie einen Obama-Moment bescheren könnten. Den Moment, ab dem die höchsten Ämter nicht mehr reserviert scheinen für Leute, die heissen und aussehen wie zu Gotthelfs Zeiten.
Zur Erinnerung die Namen der letzten Amtsinhaber des Stadtpräsidiums: Mauch, Ledergerber, Estermann, Wagner, Widmer. Diese Ahnenreihe liesse sich beliebig verlängern, bis zum Ritter Rudolf Brun. Auch jene Stadträte, die auf die kommenden Wahlen hin ihren Sitz räumen, heissen Odermatt und Leutenegger – beides Geschlechter, die man schon in Akten aus der alten Eidgenossenschaft findet.
Dies in einer Stadt, in der gemäss letzter Zählung des Bundesamtes für Statistik mehr als 55 Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund haben.
Dass sich im Zürcher Stadtrat etwas ändern muss, steht nicht nur für Katumba ausser Frage – das finden auch zwei jüngere Polit-Aufsteiger ganz unterschiedlicher Couleur: Përparim Avdili, Stadtzürcher FDP-Präsident und geboren in einem albanischsprachigen Dorf in Mazedonien, und Mandy Abou Shoak, SP-Kantonsrätin mit Wurzeln im Sudan.
Vielen fehlt die Vorstellungskraft, dass das möglich wäre
«Wir müssen einen Schritt vorwärts machen in der Stadt Zürich», sagt Avdili. «Das Ziel muss sein, dass unsere Gesellschaft in solchen Ämtern gut abgebildet ist.» In einer perfekten liberalen Welt dürfte die Herkunft kein Kriterium sein, schiebt er nach, aber so weit sei es nicht. «Man wird immer wieder darauf reduziert. Und die Stimmung ist zurzeit so aufgeheizt, dass alles, was mit Migration zu tun hat, in einen Topf geworfen und politisch missbraucht wird.» Will heissen: Es gilt, gegenzusteuern.
Auch Mandy Abou Shoak findet es entscheidend, dass Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in Toppositionen repräsentiert sind. Nicht nur, was die Herkunft anbelangt. «Leute mit einer anderen Lebenserfahrung haben einen anderen Blick auf die Dinge – wenn sie nicht mitbestimmen, werden ihre Themen und sie selbst an den Rand gedrängt.»
Dies passiere meist nicht aus bösem Willen. Vielen sei zum Beispiel nicht klar, was es bedeute, dass antimuslimischer Rassismus laut einer aktuellen Untersuchung des Bundes besonders weit verbreitet ist. «Ich kann das den Menschen nicht einmal übelnehmen», sagt Abou Shoak, die selbst Muslimin ist, «sie sind einfach nicht davon betroffen.»
Avdili sieht es ähnlich: «Die Diskriminierung – wenn es denn eine ist – geschieht unbewusst.» Vielen fehle die Vorstellungskraft, dass auch Leute mit einem anderen Hintergrund politische Verantwortung übernehmen könnten. Und zwar auf beiden Seiten. «Bekannte aus meinem Umfeld, die Migrationshintergrund haben, waren verblüfft, als ich ins Stadtparlament gewählt wurde.»
Für Abou Shoak sind darum Vorbilder wichtig: «Das zeigt einem migrantischen Kind, dass es nicht nur Sängerin oder Sportlerin werden kann, sondern auch Politikerin oder Ärztin.»
Seit Barack Obama 2009 zum ersten schwarzen US-Präsidenten gewählt wurde, hat sich in den Stadtregierungen weltweit einiges getan. Ende 2022 hatten die vier grössten Städte der USA – New York, Los Angeles, Chicago und Houston – erstmals durchs Band schwarze Bürgermeisterinnen und Bürgermeister.
Paris wird seit über zehn Jahren von Anne Hidalgo regiert, die in Spanien geboren ist. Der Bürgermeister von London heisst Sadiq Khan, er stammt aus einer Familie pakistanischer Immigranten. In Frankfurt am Main regiert Mike Josef, der unter dem Namen Yusuf in Syrien zur Welt kam, in Hannover ist es der deutsch-türkische Doppelbürger Belit Onay.
In Genf steht Christina Kitsos an der Spitze, eine Tochter griechischer Einwanderer; ihr Vize heisst Sami Kanaan und ist in Libanon geboren. In Basel-Stadt hat es der aus der Türkei stammende Mustafa Atici in die Kantonsregierung geschafft.
Die meisten dieser Politikerinnen und Politiker wurden von linken Parteien aufgestellt. Besonders auffällig ist es darum, dass dies bei der Zürcher SP bisher kein Thema war.
Bei einer Partei also, die nicht nur volle vier Sitze in der neunköpfigen Stadtregierung besetzt, sondern sich auch die «ausgewogene Vertretung verschiedener Lebensrealitäten» ins Programm geschrieben hat und in Zürich bisher Pionierin in puncto Gleichberechtigung war: Sie stellte mit Emilie Lieberherr die erste Frau im Stadtrat, mit Corine Mauch die erste Stadtpräsidentin, mit Mauch und André Odermatt die ersten Stadtratsmitglieder, die offen in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben.
Dass Mauch genaugenommen Migrationshintergrund hat, da ihre Eltern bei ihrer Geburt in den USA lebten, dürfte Zürcherinnen und Zürchern mit Wurzeln in Albanien, Portugal oder Sri Lanka wenig sagen.
Chancengleichheit – ein blinder Fleck der Zürcher SP?
Wird jetzt die Herkunft in der SP zu einem wichtigen Selektionskriterium, da sich das Kandidatenkarussell für die Wahlen 2026 zu drehen beginnt? Andrew Katumba hat Zweifel. «Chancengleichheit, die über die Geschlechterfrage hinausgeht, ist ein wunder Punkt der Zürcher SP», sagt er. «In ausländischen Städten ist das Verständnis für Vielfalt tiefer verankert.» Von Katumba ist bekannt, dass er Nationalrat werden wollte und seinen Anspruch parteiintern mehr als einmal auch mit seiner Herkunft begründete. Ohne Erfolg.
Um in der SP nach oben zu kommen, müsse man zu einer der einflussreichen Sektionen gehören, in denen Stadträte gemacht würden, und dort die Ellbogen ausfahren, sagt er. Es mangle an einer Willkommenskultur, um auch politisch Interessierte aus anderen Kreisen zu fördern. «Man muss sich fragen, warum wir zum Beispiel nicht mehr Leute aus Sri Lanka haben.»
Auch Abou Shoak bedauert, dass es in der SP noch keine Richtlinien gibt. Die Partei werde dies aber im Frühling diskutieren. Denn: «Es ist klar, dass es Hürden gibt.» Nicht alle könnten es sich leisten, den ganzen internen Hindernisparcours zu durchlaufen. Ihre Wahl in den Kantonsrat oder jene des Behindertenrechtsaktivisten Islam Alijaj in den Nationalrat seien eher die Produkte glücklicher Zufälle gewesen.
Genauso wie auch die starke Vertretung von Homosexuellen im Stadtrat nicht das Ergebnis gezielter Förderung war, sondern Folge einer allgemeinen Entkrampfung.
Der Stadtzürcher SP-Präsident Oliver Heimgartner sagt: «Die Zürcher Stimmbevölkerung wäre bereit für ein Stadtratsmitglied mit Migrationshintergrund.» Zugleich gibt er zu bedenken, dass Kandidaturen für Exekutivämter langfristig aufgebaut werden müssten. Und die Nomination liege letztlich bei den Delegierten.
Die Parteileitung habe die Sektionen generell angewiesen, sich vor Wahlen nicht nur auf etablierte Mitglieder zu konzentrieren, sondern auch mögliche Kandidaten aus der Basis oder von ausserhalb der Partei anzusprechen. Man sei auf einem guten Weg. Heimgartner räumt aber ein, dass es noch mehr Engagement brauche, damit unterrepräsentierte Gruppen stärker in der Politik vertreten seien. Dies gelte nicht nur für die SP, sondern für alle Parteien.
Bei Përparim Avdili rennt er damit offene Türen ein. Die Secondas-Plattform, der er vorsteht, lässt nächste Woche alle Parteien eine Absichtserklärung unterzeichnen, in der es darum geht, mehr Kandidaten mit Migrationshintergrund aufzustellen. Eine Quote steht Avdili als Freisinnigem fern, aber auch seine Partei unterschätze das Potenzial, das hier für die FDP schlummere: Unter Migranten sei etwa der Leistungsgedanke besonders wichtig.
Das Amt würde sie alle offensichtlich reizen
Der 37-Jährige hat es selbst vorgemacht, indem er im Wahlkampf die albanische Gemeinschaft direkt ansprach. Eine Zielgruppe mit unterdurchschnittlicher Stimm- und Wahlbeteiligung. Viele unterstützten ihn, weil für sie klar war: Das ist einer von uns. «Ich will diese Leute für die Schweiz politisieren», sagt Avdili. «Es gibt auf beiden Seiten Defizite. Man kann nicht nur motzen, man muss Verantwortung übernehmen.»
Avdili sagt es nicht, aber es ist klar, dass ihn der Zürcher Stadtrat reizen würde – erst recht, wenn er dadurch der SP auf ihrem Spezialgebiet zuvorkommen würde. Er hat ein ähnliches Problem wie der Sozialdemokrat Andrew Katumba, der offensichtlich am Amt interessiert ist und es sich auch zutrauen würde. Beiden Männern wird parteiintern vorgehalten, dass sie sich selbst zu sehr ins Zentrum stellten.
«Vielleicht ist da etwas dran», sagt Katumba. Er sei im Herzen halt ein Unternehmertyp, habe sich nie taktisch zurückgehalten, um in der Partei gut anzukommen. Auch das kann man als Bewerbung lesen. Aber Katumba winkt ab, ihm fehle eine «Homebase» in der SP. Andererseits: So etwas kann sich ändern.
Mandy Abou Shoak ist da unbeschwerter. Sie hat sich im letzten Jahr profiliert, indem sie im Kantonsrat mit Erfolg einen kantonalen Massnahmenplan betreffend Rassismus verlangte. Und sie sagt zu einer möglichen Stadtratskandidatur: «Ich überlege mir, ob das für mich infrage kommt.»
Alle drei wissen aus Erfahrung, dass man als Wegbereiter eine dicke Haut haben muss. Oder noch besser: «eine Teflonschicht», wie Avdili sagt. Ihm wird in den sozialen Netzwerken immer wieder an den Kopf geworfen, er solle zurück in sein Land gehen – obwohl er hier aufgewachsen ist. Katumba bekam bei seiner Kandidatur als Nationalrat Morddrohungen.
Aber alle drei sind sich einig: Die Angst vor negativen Gegenreaktionen darf kein Hinderungsgrund sein.