Freitag, Oktober 18

Claudia Sheinbaum, die Kandidatin des scheidenden Präsidenten, liegt in Umfragen deutlich vorne. Die Opposition kann die Schwächen der Regierung nicht ausnutzen.

Am Sonntag sind knapp 100 Millionen Stimmberechtigte aufgerufen, über die Neubesetzung von rund 21 000 Ämtern in Mexiko zu entscheiden. Dabei ist fast sicher, dass das grösste spanischsprachige Land ab Oktober erstmals von einer Frau regiert wird. Als klare Favoritin gilt die Kandidatin der regierenden Bewegung der nationalen Erneuerung (Morena), Claudia Sheinbaum. Die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt liegt in Umfragen klar vor Xóchitl Gálvez, der Kandidatin eines breiten Bündnisses der drei wichtigsten traditionellen Parteien, das vom rechtskonservativen PAN über die ehemalige Einheitspartei PRI bis zur Mitte-links-Partei PRD reicht.

Sheinbaum gilt seit langem als Wunschkandidatin von Präsident Andrés Manuel López Obrador, der Anfang Oktober nach einer sechsjährigen Amtszeit abtreten muss. Eine Wiederwahl des Präsidenten ist in Mexiko nicht erlaubt. Die Essenz von Sheinbaums Programm lautet «Continuidad»: Alles möge so weiter laufen wie unter López Obrador. Dieser geniesst hohe Zustimmungsraten zwischen 50 und 60 Prozent, und es scheint ihm gelungen zu sein, seine Popularität auf die 61-jährige Physikerin zu übertragen.

Das gilt aber nicht für sein Charisma. Während der Präsident das Bad in der Menge geniesst und tagtäglich die politische Agenda durch stundenlange Monologe vor der Presse setzt, zeigt sich die wenig wortgewandte Sheinbaum steif und mit aufgesetztem Lächeln. Der Kontrast zur Oppositionskandidatin Gálvez ist gross. Die 61-jährige Unternehmerin mit indigener Abstammung wirkt gut gelaunt und in sich ruhend. Dass sie sich aus armen Verhältnissen hochgearbeitet hat, sollte eigentlich ein Pluspunkt an den Urnen sein.

Regierung geeint, Opposition gespalten

Doch Gálvez ist es nicht gelungen, Sheinbaum gefährlich zu werden. Der Wahlkampf werde sehr ungleich geführt, urteilt Hans-Hartwig Blomeier von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko-Stadt. Zum einen hat Präsident López Obrador die Reihen sowohl der Partei wie auch der Regierung hinter Sheinbaum geschlossen. Zum anderen regiert Morena in 23 der 32 Gliedstaaten, was Sheinbaum landesweit grosse Bühnen und hohe Medienpräsenz im Wahlkampf bietet, über die Gálvez nicht verfügt, wie Blomeier sagt.

Von geschlossenen Reihen kann bei der Opposition nicht die Rede sein. Gálvez hat es schwer, das breite politische Spektrum ihres Dreierbündnisses unter einen Hut zu bringen. Gerade für das rechte Lager ist sie eigentlich zu progressiv. Zudem nimmt ihr der drittplatzierte Kandidat, Jorge Álvarez Máynez von der Bürgerbewegung Movimiento Ciudadano, Stimmen weg.

Gálvez’ Parteienbündnis trägt historische Altlasten mit sich. So hatte der PRI Mexiko über siebzig Jahre als Staatspartei regiert, dabei die Institutionen des Staates unterwandert und kooptiert und war so zum Protagonisten zahlreicher Korruptionsskandale geworden. Danach stellte der PAN mit Vicente Fox und Felipe Calderón zwei Präsidenten, die ebenfalls in Korruptionsskandale verwickelt waren. Calderón setzte zudem mit dem von ihm erklärten Krieg gegen die Drogenkartelle die sich bis heute drehende Gewaltspirale in Bewegung.

Zwar ist die erst 2014 als Partei zugelassene Morena ein Sammelbecken übergelaufener Politiker der traditionellen Parteien, und ihr Gründer López Obrador gehörte selber einst dem PRI und danach dem PRD an. Doch es gelang ihm, sich des Stallgeruchs der «vieja política», der alten Politik, zu entledigen. 2018 habe er die Präsidentschaft auch deshalb gewonnen, weil viele Mexikaner endlich etwas Neues hätten ausprobieren wollen, erklärt Blomeier.

Gálvez kämpft derzeit gegen den Ruf an, das verhasste Establishment zu repräsentieren, sowie gegen das von Morena verbreitete Narrativ, dass die Wahl längst entschieden sei. Morena wolle damit unentschlossene Wähler von der Wahl abhalten, glaubt Blomeier. Dabei habe die Opposition durchaus eine Chance, wenn es ihr gelinge, die Anti-Morena-Stimmen unter den Nichtwählern zu mobilisieren.

Durchwachsene Bilanz von López Obrador

Unmut gegenüber der Regierung ist jedenfalls durchaus vorhanden. Beim Thema öffentliches Gesundheitssystem geben ihr in einer kürzlichen Umfrage nur 28 Prozent eine gute Note, und eine grosse Mehrheit sieht keine Verbesserung bei der Korruptionsbekämpfung.

Am schlechtesten schneidet die Regierung aber beim Thema Sicherheit ab. Nur 22 Prozent sehen hier eine Verbesserung, für 50 Prozent ist die Lage schlechter geworden. López Obradors Amtszeit ist laut dem nationalen Statistikamt bereits vier Monate vor ihrem Ende mit über 180 000 Morden die blutigste seit Beginn der Datenerfassung 1990. Zum Vergleich: Unter seinen drei Vorgängern ist die Zahl der Mordopfer kontinuierlich gestiegen von 60 000 unter Vicente Fox auf 120 000 unter Felipe Calderón und auf 156 000 unter Enrique Peña Nieto.

An den Urnen scheint das Morena jedoch nicht zu schaden. Die Mexikaner sähen die Gewalt als historisches Problem an, besonders in den Grossstädten habe man sich längst an sie gewöhnt, sagt der in Mexiko-Stadt ansässige Sicherheitsexperte Falko Ernst: «Das schockiert nicht mehr.» Zudem konzentrierten sich die Todesopfer auf einige arme Regionen, während es im Rest des Landes ruhig sei. Politisch wenig kostspielig sei das Problem zudem, weil es auch für Mexikos Eliten und ausländische Investoren weit weg sei.

López Obrador argumentiert, dass seine Sozialpolitik am besten geeignet sei, die aus Armut entstehende Gewalt zu bekämpfen. Gálvez will dagegen auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit den amerikanischen Behörden setzen. Populär ist das in Mexiko nicht, wo man Kommentare des nördlichen Nachbarn zur Sicherheitslage sofort als Einmischung in mexikanische Angelegenheiten abkanzelt.

Immun scheint Morena auch gegenüber Korruptionsvorwürfen zu sein. Medien beschuldigten López Obrador, er habe sich von Drogenkartellen seine Wahlkämpfe finanzieren lassen. Allerdings gebe es keine Beweise, weil Mexikos Justiz kaum ermittle und die Straffreiheit bei über 95 Prozent liege. Auch Ermittlungen der amerikanischen Justiz in dieser Sache wurden eingestellt, sagt Falko Ernst, der für Mexiko zuständige Senior Analyst der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. Dabei dürften Drogengelder im Wahlkampf aller Parteien stecken. Das sei Teil der DNA der politischen Elite in Mexiko, so Ernst.

Politisch profitieren kann Gálvez von dem Thema auch deshalb nicht, weil ihre Partei PAN für einen der grössten Skandale der jüngeren mexikanischen Geschichte verantwortlich war. Genaro García Luna, der Sicherheitsminister von Präsident Calderón und Architekt des Krieges gegen die Drogenkartelle, wurde in den USA verurteilt, weil er während dieser Zeit heimlich mit dem Sinaloa-Kartell zusammengearbeitet hatte.

Grosses Vertrauen in Präsident und Militär

Auch Korruptionsvorwürfe rund um die durch das Militär ausgeführten Infrastrukturprojekte prallen an der Regierung ab. Zum einen hat der Präsident sämtliche Dokumente unter dem Argument der nationalen Sicherheit unter Verschluss gelegt. Das Militär wird in Mexiko als die am wenigsten korrupte Institution angesehen, wie Umfragen zeigen. Dagegen schneiden Medien und Justiz deutlich schlechter ab. López Obradors behauptet, dass diese selber korrupt seien und ihn stürzen wollten.

Ein ähnlich hohes Vertrauen wie das Militär geniesst derweil nur der Präsident selber. Ihn halten 73 Prozent der Befragten für ehrlich, wie eine gemeinsame Erhebung der Nichtregierungsorganisation Mexicanos contra la Corrupción y la Impunidad und der Mediengruppe Reforma von September 2023 zeigt. Die gleich hohe Zahl hält dagegen Senatoren und Abgeordnete für korrupt. Politische Parteien gelten gar als die korrupteste Institution überhaupt, noch vor Drogenbanden. Auch Justiz und Wahlbehörden schneiden schlecht ab.

Parteien, Justiz und Wahlbehörden – sie sind López Obradors liebste Feindbilder, da sie angeblich im Dienste des korrupten Establishments stehen. Und sie dienen als Beweis dafür, dass Mexiko dringend mehr direkte Demokratie durch mehr Bürgerbeteiligung braucht. Diesem Ziel sei sie verpflichtet, verspricht Sheinbaum.

Wirtschaft läuft dank Nearshoring

Für die Wirtschaftspolitik erhält die Regierung ihre besten Noten. Auch wenn das Wachstum über die gesamte sechsjährige Amtszeit betrachtet enttäuschte. Das lag jedoch vor allem an den tiefen Einbrüchen während der Pandemie. Bei vielen Mexikanern in Erinnerung geblieben ist dagegen die danach einsetzende kräftige Erholung.

Wirtschaftswachstum unter López Obrador

Veränderung des BIP gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Dabei profitiert Mexiko vom sogenannten Nearshoring-Effekt, also der Verlagerung der Produktion für die USA aus Regionen wie Asien nach Mexiko. Nach den durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg verursachten Unterbrechungen der globalen Lieferketten suchen immer mehr Unternehmen die Nähe zum nordamerikanischen Absatzmarkt. Die steigenden ausländischen Direktinvestitionen haben dabei zur derzeitigen historischen Stärke des Peso gegenüber dem Dollar beigetragen.

Für López Obrador ist der «Super-Peso» der Beweis für Mexikos angeblich florierende Wirtschaft. Die Regierung verweist zudem auf den Rückgang der Armutsrate von 42 Prozent bei López Obradors Amtsantritt 2018 auf 36 Prozent im Jahr 2022. Und die Arbeitslosigkeit liegt mit unter 3 Prozent auf einem historischen Tiefstand.

Doch am meisten punktet die Regierung durch die deutliche Erhöhung des Mindestlohns und der Renten sowie die Aufstockung von Sozialprogrammen, die von alleinerziehenden Müttern über Studenten bis hin zu Kleinbauern Morenas Wählerbasis bedienen.

Die Opposition wirft der Regierung vor, durch staatliche Sozialarbeiter unter den Wählern das Gerücht streuen zu lassen, dass ein Sieg der Opposition das Ende der Programme bedeuten würde. Gálvez betont zwar, dass die Fortführung der Programme durch die Verfassung garantiert sei und sie diese nicht anrühren werde. Doch es fällt ihr schwer, aus der Defensive zu kommen. Auch wenn sie als Unternehmerin bei Mexikos Wirtschaftselite gut angesehen ist, kann sie mit dem Thema Wirtschaft bei den Wählern kaum punkten.

Opposition setzt auf Kongress und Gliedstaaten

Von grosser Bedeutung sind am Sonntag auch die Kongresswahlen. Es geht dabei um die Frage, ob Morena die Zweidrittelmehrheit erreicht, die für Verfassungsänderungen nötig ist. Experten bezweifeln dies jedoch.

Xóchitl Gálvez warnt davor, dass eine solche qualifizierte Mehrheit für Morena im Kongress eine Gefahr für die Demokratie bedeutete. Denn dann könnte Sheinbaum etwa die bereits von López Obrador angedachte Direktwahl von Richtern beschliessen lassen. Für Morena wäre dies ein weiterer Schritt hin zu mehr direkter Bürgerbeteiligung. Kritiker warnen jedoch davor, das Volk bei der Besetzung von Justizposten entscheiden zu lassen. Das könnte das Ende einer unabhängigen Justiz bedeuten.

Schliesslich könnte es bei den in 9 der 32 Gliedstaaten stattfindenden Regionalwahlen zu Überraschungen kommen. Die Opposition hat Chancen, dabei die drei bisher von ihr regierten Staaten zu halten. Bei den sechs zurzeit von Morena regierten Entitäten könnte es teilweise enger als erwartet werden.

Dazu gehört auch die traditionelle Morena-Hochburg Mexiko-Stadt, wo der deutliche Vorsprung der Kandidatin von Morena zusammengeschmolzen ist. Ein Verlust der Hauptstadt würde Sheinbaum und Morena die Siegesfeier bei den Präsidentschaftswahlen zumindest ein wenig versalzen.

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