Die Schweizerin Bice Curiger verabschiedet sich als Leiterin der Fondation Vincent van Gogh in Arles mit einer Ausstellung ihres Künstlerfreundes Sigmar Polke.

In Arles geht eine Ära zu Ende: Nach vierzehn Jahren gibt Bice Curiger die künstlerische Leitung der Fondation Vincent van Gogh ab. Mit ihrer letzten umfassenden Ausstellung, die Sigmar Polke gewidmet ist, setzt sie nochmals ein Zeichen ihres kenntnisreichen kuratorischen Engagements. Im rhythmischen Wechsel lösen sich Bilder, Objekte, Fotoarbeiten und Filme ab und lassen Sigmar Polke als Künstler und Mensch lebendig werden.

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Bice Curiger war eine Art Schwester im Geist von Sigmar Polke. Die beiden begegneten sich in ihrer Jugend und blieben sich zeitlebens verbunden. Die Schweizer Kuratorin widmete dem Künstler Ausstellungen und Artikel. Von diesem umfassenden Wissen profitiert nun die Schau in Arles.

Da trafen zwei Rebellen aufeinander, zwei Sympathisanten der 68er Bewegung. Davon zeugt auch der Titel der Ausstellung, «Unter dem Pflaster liegt die Erde», der sich auf den Slogan der späten sechziger Jahre «Unter dem Pflaster liegt der Strand» bezieht. Er verbindet Protest am Bestehenden und Sehnsucht nach Befreiung. Die beiden «skeptischen Utopisten», wie Bice Curiger sich und ihren Künstlerfreund nannte, brauchten die Realität, um sich dann kritisch-ironisch von ihr zu distanzieren.

Hommage an die Kartoffel

Polkes waches und kritisches Bewusstsein für die Wirklichkeit verbindet ihn mit Vincent van Gogh, dem Namensgeber des Museums, der in der Stadt Arles lebendige Spuren hinterlassen hat. Seine ernste Anteilnahme an den Mitmenschen seiner Umgebung floss in die frühen Bilder wie «Kartoffelesser» (1885) und «Bauer und Bäuerin beim Pflanzen von Kartoffeln» (1885) ein.

Die beiden in der Ausstellung gezeigten Bilder sind in den Niederlanden entstanden und wirken dumpf, dunkel und erdverbunden. Noch wusste van Gogh nichts von der Befreiung der Farbe im Licht, wie er sie im Süden Frankreichs kennenlernen sollte. Auch Polke hatte in seiner frühen Jugend wenig zu lachen. Er wurde in Niederschlesien (heute Polen) geboren und floh mit seiner Familie aus der DDR nach Westberlin. In Düsseldorf fand er im Austausch mit Künstlerkollegen wie Gerhard Hoehme und Karl Otto Götz, Gerhard Richter, Konrad Lueg und Joseph Beuys bald zu einem eigenen bildnerischen Ausdruck.

Wie für van Gogh spielte auch für ihn die Kartoffel als Motiv und Symbol eine Rolle. Er liess sich von der staubigen Knolle zu seinem luftig-lichten «Kartoffelhaus» inspirieren. Ein einfaches Holzgestell ist an den Ecken der Verstrebungen mit Kartoffeln bestückt. Augenzwinkernd kommen hier dadaistische Spielfreude und minimalistische Formreduktion zusammen und verbinden sich zu Polkes Hommage an die Kartoffel, die für ihn wie für van Gogh als Metapher für das Armeleuteessen steht.

Beide beziehen sich damit auf ihre unmittelbare Wirklichkeit. Mit der Kartoffel wie mit einfachen Wolldecken als Bildgrund beschwor Polke die Tristesse der deutschen Nachkriegsgesellschaft herauf. Was van Gogh nicht gelungen ist, schaffte Sigmar Polke einige Generationen später. Der Deutsche konnte sich vom Sog des oft beklemmenden Alltags loslösen und sich in andere, allein der Kunst zugehörige Dimensionen katapultieren.

Während Künstlerkollegen wie Joseph Beuys oder Bruce Nauman stets mit ernstem, nachdenklichem Blick in die Kamera schauten, mokiert sich Sigmar Polke in der Selbstdarstellung über die eigene Person genauso wie über die Gattung. Er zeigt sich einmal als sein eigener Doppelgänger, dann wieder nur mit einer weiten Unterhose und einem flatternden Papierschal bekleidet als Palme, die Lieblingspflanze der 68er Bewegung. Polkes unverwechselbarer, von Ironie durchzogener Humor trieb ihn auch zum Spiel mit dem Publikum. So behauptet er auf einer Bildtafel, dass 1+1=3 oder 1+5=2 sei, und betitelt die auf Sackleinen gemalten Zahlenreihen als «Lösungen», womit er sein Gegenüber vollends vor den Kopf stösst.

Die elementaren Gewissheiten werden über Bord geworfen. Es tut aber gut zu merken, dass man auch Axiomen nicht blind vertrauen sollte und sie infrage stellen darf. Auf diese hintersinnige Weise hat Sigmar Polke die Welt durcheinandergeschüttelt und sie für neue künstlerische Lösungen geöffnet.

Der Künstler als Alchemist

Polkes Bilder geben oft Rätsel auf. Das eine fragt «Wo ist der Hirsch?», das andere verspricht «Lumpi hinter dem Ofen». Man kann die Tiere zwar erahnen, aber nicht im Bild erkennen. Umso genauer schaut man hin, und es entpuppt sich dabei als wahres Palimpsest. Hinter jeder Bildebene verbirgt sich eine weitere und eröffnet einen Raum, der zwischen Tiefe und Fläche, Nähe und Ferne oszilliert.

Im experimentierfreudigen Umgang mit den verschiedensten Materialien und Stoffen, den aus der Natur gewonnenen genauso wie den künstlich hergestellten, stiess Polke in rätselvolle, oft verführerisch schöne Bildwelten vor. Mit ihnen erweist er sich als Alchemist, der aus Blei Gold herstellt. Er selbst mochte diesen Vergleich und trug immer ein Blatt Gold bei sich.

Der Ausstellungsparcours endet mit einer Filmdokumentation über Polkes Kirchenfenster für das Grossmünster in Zürich. Auch der Zürcher Fensterzyklus ist der Initiative von Bice Curiger (zusammen mit Jacqueline Burckhardt) zu verdanken und bildet als letztes Werk im Schaffen des 2010 verstorbenen Künstlers ein eindrückliches Finale. Nochmals verbindet sich hier der von Wissen und Erfahrung geleitete Einsatz der Materialien mit höchster Gestaltungslust und Ausdruckskraft.

Die Achatfenster in Zürich speichern das Tageslicht, der Turmalin hingegen funkelt im Licht. Sowohl die Ausstellung in Arles wie der Zyklus der Kirchenfenster in Zürich sind aus der inspirierenden Begegnung eines Ausnahmekünstlers mit einer kongenialen Kuratorin gewachsen. Beide vermögen die Wirklichkeit mit einer anderen Brille zu sehen.

«Sigmar Polke», Fondation Vincent van Gogh, Arles, bis 26. Oktober. Katalog: € 46.–.

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