Freitag, Oktober 4

Susanna Mälkki und die Staatskapelle Berlin lassen Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker überraschend routiniert wirken. Die Pointe dabei: Thielemann ist der neue Chefdirigent der Staatskapelle.

Der Reigen grosser Orchester am Lucerne Festival führt gelegentlich zu Begegnungen der besonderen Art: An diesem Wochenende gastierten die Wiener Philharmoniker mit zwei Konzerten im KKL, am Pult stand jeweils der deutsche Dirigent Christian Thielemann. Ihn verbindet eine jahrelange, offenbar für beide Seiten erfüllende Zusammenarbeit mit den Wienern, die erst jüngst mit einem herausragenden Bruckner-Zyklus gekrönt wurde. Strenggenommen war Thielemann aber zwei Tage zu früh in Luzern.

Am Sonntag kam es hier nämlich zu einem denkwürdigen Auftritt der Staatskapelle Berlin – das Orchester der Staatsoper Unter den Linden hat Thielemann mit Beginn der Spielzeit 2024/2025 zum Nachfolger von Daniel Barenboim ernannt, der das Amt des Chefdirigenten nach über dreissig Jahren aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt hat. Am Pult der Berliner stand jedoch nicht Thielemann, sondern Susanna Mälkki – die Finnin zählt neben Simone Young zu den ersten Dirigentinnen, die sich international durchsetzen konnten. Ihr Luzerner Debüt mit dem Orchester war vermutlich schon vor Thielemanns Berufung vereinbart worden. Und die Staatskapelle wollte sich offensichtlich auch ohne den neuen Chef nicht lumpen lassen: Ihr gelang ein Gastspiel, das die Wiener überraschend alt aussehen liess.

Routine auf höchstem Niveau

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Da stürzt die ehemalige preussische Hofkapelle mit 450-jähriger Geschichte das österreichische Eliteorchester vom Thron – immerhin das Ensemble, das international nach wie vor als Richtschnur punkto Klangkultur, Traditionspflege und Stilempfinden im klassischen Repertoire gilt. Aber zumindest an diesem besonderen Festivalwochenende war es so: Die Berliner präsentierten sich in ihrem ausschliesslich Gustav Mahler gewidmeten Programm derart wach, auf den Punkt konzentriert und im Einvernehmen mit ihrer Dirigentin, dass das Spiel der Philharmoniker im Vergleich dazu lediglich routiniert erschien.

Bei einem Orchester der obersten Kategorie führt Routine zu einem eigenartigen Phänomen: Noch immer klingt jeder Moment musikalisch erfüllt, technische Schwierigkeiten sind etwas für Mittelklasse-Ensembles, nicht für die Wiener. Aber darin liegt bei diesem Orchester von jeher eine Gefahr: Man begnügt sich mit der verführerischen Schönheit des eigenen Klangs, der berühmte Funke aber – er will einfach nicht überspringen. Mag sein, dass das auch mit der Arbeitsbelastung des Orchesters zu tun hatte, das seit Mitte Juli nicht weniger als vier Opernpremieren und zahlreiche Konzerte bei den Salzburger Festspielen bestritten hat. Vielleicht lag es auch an den spröden Programmen der Luzerner Abende, die wenig schlüssig wirkten.

So suchte man am Freitag vergeblich nach einer Verbindung zwischen Mendelssohns «Schottischer» und der Tondichtung «Ein Heldenleben» von Richard Strauss. Beide Stücke standen nebeneinander wie kostbare Ausstellungsstücke in hell erleuchteten Vitrinen – und genauso klangen sie: perfekt poliert, aber wie hinter Glas. Überwältigend die Klangkultur, zumal im fordernden «Heldenleben» – aber ging es hier um etwas? Wiederholt deutete die Zeichengebung Thielemanns schon bei Mendelssohn an, dass er sich mehr Geheimnis, weniger Unmittelbarkeit wünschte. Das Orchester erfüllte ihm den Wunsch nur bedingt. Übrig blieb der etwas kalte Glanz einer CD-Einspielung.

Vibrierendes Nachleuchten

Noch grösser die Unwucht im zweiten Programm: Hier erdrückte die massive, stellenweise intransparente Wiedergabe der 1. Sinfonie von Anton Bruckner die herbstnebelverhangene Poesie von Robert Schumanns Cellokonzert im ersten Teil. Das war doppelt schade, denn zum einen stellte es das feinfühlige Monologisieren der Solistin Julia Hagen in den Schatten – man hätte der mit dem UBS Young Artist Award ausgezeichneten Cellistin ein weniger undankbares Stück für ihr Debüt gewünscht. Zum anderen klang Bruckners «keckes Beserl» gerade nicht nach einem unkonventionellen Erstling, sondern, verstärkt durch die Wiener Spätfassung, arg gediegen.

Wie viel mehr Innovationsgeist weiss Susanna Mälkki anderntags mit den Berlinern zu entdecken: schon in dem frühen, aber visionären Sinfoniesatz «Blumine», den Mahler nachträglich aus seiner Ersten entfernt hat. Mälkki überträgt diesen kalligrafisch genauen Zugriff dann auf dessen spätes «Lied von der Erde», das hier so radikal fortschrittlich wirkt wie selten. Doch gleichzeitig brennt und glüht die Musik in jedem Ton, nicht zuletzt dank den ausgezeichneten Gesangssolisten, der Altistin Wiebke Lehmkuhl und dem Tenor Eric Cutler.

Namentlich Lehmkuhl scheint jede Wendung mit solcher Intensität zu durchleben, dass sie sich mehrmals verstohlen die Augenwinkel tupfen muss. Sie bleibt nicht die Einzige bei dieser Aufführung. Am Ende des existenziell aufwühlenden «Abschieds» mit seiner Jenseitsvision herrscht auch im Saal eine kleine Ewigkeit lang Stille, ein vibrierendes Nachleuchten der Musik, wie man es nur ganz selten erlebt. Dann bricht sich Jubel Bahn, das sichtlich mitgenommene Orchester kann sein Glück anfangs kaum fassen.

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