Bei einem Gastspiel von Esa-Pekka Salonen mit dem Orchestre de Paris gibt es volles Haus und Jubel für ein zeitgenössisches Stück – bei anderen Konzerten mit neuer Musik bleiben viele Plätze im KKL leer. Das zeigt: Es braucht mehr Brückenschläge zwischen Alt und Neu.
Das Haus tobt, der Jubel ist gross. Offensichtlich hat es wieder gefunkt zwischen dem Dirigenten Yannick Nézet-Séguin und dem Lucerne Festival Orchestra (LFO), so dass man bei der inzwischen vierten Zusammenarbeit in Luzern nahtlos an die Erfolge früherer Jahre anknüpfen kann. Das Publikum im ausverkauften KKL reisst es jedenfalls vor Begeisterung von den Sitzen, als die letzten Töne von Anton Bruckners 4. Sinfonie, der «Romantischen», verklungen sind.
Tatsächlich wird man bei diesem sechsten LFO-Programm des Sommers Zeuge eines besonderen Moments: einer völlig eigenständigen, durchaus auch eigenwilligen Interpretation, die Bruckners Musik emotional entfesselt und ihr alles Weihevolle austreibt. Hier werden, anders als üblich, keine Klangkathedralen errichtet, die in ihrer Erhabenheit überwältigen, aber auch einschüchtern können. Stattdessen entfalten Nézet-Séguin und das Orchester ein ungeheuer reiches Panorama wechselnder Stimmungen und Naturbilder vor den Ohren der Hörer. Das hat etwas Einladendes, ja Verführerisches – das «Romantische» ist in dieser Lesart nicht bloss die Losung einer vergangenen Epoche, sondern ein packendes, sehr gegenwärtiges Lebensgefühl.
Konzerte, die in so profilierter Weise neues Licht auf Werke des gängigen Kanons werfen, sind Glücksfälle. Denn sie widerlegen die Behauptung, wonach sich der klassische Musikbetrieb im Reproduzieren des immergleichen Standardrepertoires erschöpft habe. Gleichwohl wissen alle Veranstalter, dass der Vorwurf einen wahren Kern hat: Es braucht nämlich nicht nur frische Ideen bei der Interpretation etablierter Werke; der Kanon selbst braucht Frischluftzufuhr – in Gestalt neuer Stücke. Und wie mühselig dieses Geschäft sein kann, erlebt man in Luzern nur einen Tag später.
Vor leeren Rängen
Auch hier, beim traditionellen «Räsonanz»-Stifterkonzert, ist die Begeisterung des Publikums gross, es feiert sowohl die gespielten Kompositionen wie auch die Mitwirkenden nahezu einhellig. Dennoch ist der Unterschied nicht zu übersehen: Die Zahl der Besucher reicht knapp aus, um die Plätze im Parkett zu füllen, die vier Ränge des KKL sind geschlossen. Ohne einen potenten Sponsor wie die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung wäre solch eine Veranstaltung für ein privates Festival kaum zu finanzieren.
Gestern volles Haus, heute leere Reihen – der Kontrast ist frappierend. Und er wird noch verschärft durch den Umstand, dass die künstlerische Leistung am zweiten Abend der am ersten in keiner Weise nachsteht. Der Chor und das Philharmonische Orchester des Niederländischen Rundfunks stellen unter dem präzisen Dirigat von Karina Canellakis ihre Expertise für das hier erklingende Repertoire unter Beweis. Obendrein ist das Programm eine kluge, aber zu keinem Zeitpunkt elitär wirkende Hommage an den Komponisten Pierre Boulez, einen der prägenden Neuerer des 20. Jahrhunderts, der zugleich Mitgründer der Lucerne Festival Academy war.
Seinem Schaffen ist anlässlich von Boulez’ 100. Geburtstag ein eigener «Kosmos» innerhalb des Programms gewidmet. Beim «Räsonanz»-Konzert stehen die frühe Kantate «Le Soleil des eaux» und der Eröffnungssatz aus Boulez’ Hauptwerk «Pli selon pli» für die immer noch beispielhafte Strenge seines musikalischen Denkens, aber auch für dessen subtile poetische Kraft. In dem Programm wird zudem die Idee der «Resonanz», des künstlerischen Widerhalls, mustergültig umgesetzt: in der Kantate «L’Azur», die der Niederländer Robin de Raaff als Auftragswerk des Festivals nach einem Gedicht von Stéphane Mallarmé geschaffen hat – einem Autor, der wiederum für Boulez herausragende Bedeutung hatte.
Man hätte de Raaffs klangsinnlichem, dabei immer zugänglichem Stück eine breitere Hörerschaft gewünscht, zumal darin der Prozess des Weiterdenkens künstlerischer Ideen, der von jeher für Musikgeschichte zentral war, wunderbar anschaulich zu verfolgen ist. Wäre es wirklich eine zu grosse Zumutung, wenn ein derartiges Stück auch einmal im Programm eines traditionellen Sinfoniekonzerts erklänge?
Die Frage stellte sich am Samstag noch nachdrücklicher bei Dieter Ammanns Violakonzert «No templates», das seine Luzerner Erstaufführung im Rahmen der Festival-Akademie erlebte. Das erst im Januar in Basel uraufgeführte Werk ist ein originelles Spiel mit tonalen Systemen und der Rollenverteilung im klassischen Konzert, es wird getragen von einer pulsierenden Rhythmik, die entfernt an Rockmusik und Minimal Music erinnert. Die Aufführung, die souverän von der preisgekrönten Bratschistin Tabea Zimmermann bestritten wird, müsste niemanden verschrecken, obschon die Musik keinerlei Kompromisse beim künstlerischen Anspruch macht.
Das Wagnis, das keines ist
Ein solches Stück also neben einer Bruckner-Sinfonie im Programm des LFO? Warum eigentlich nicht – denn genau um diesen Sprung aus der Nische ins Rampenlicht geht es für die zeitgenössische Musik. Wie reizvoll ein solches Experiment sein kann, zeigte just am selben Tag das Gastspiel des Orchestre de Paris in der Reihe der grossen Sinfoniekonzerte.
Esa-Pekka Salonen, wie Boulez Komponist und Dirigent in Personalunion, leitet hier die Uraufführung seines eigenen Hornkonzerts. Das überwiegend lyrische Stück erreicht zwar nicht die Dichte und Stringenz von Ammanns Bratschenkonzert, bietet aber dem Solisten Stefan Dohr vielfältige Möglichkeiten, sein Instrument in allen Facetten vorzuführen. Dies ist ein Erfolgsgeheimnis vieler repertoiretauglicher Konzerte, auch in Ammanns Werk trägt das Ausreizen des spezifischen Instrumentalklangs zur Suggestivität bei.
Salonens Hornkonzert wird überdies eingebunden in eine schlüssige Programmfolge mit dem «Don Juan» von Richard Strauss und der 5. Sinfonie von Jean Sibelius. Sie weist dem Hornklang und der virtuos geforderten Horngruppe eine Schlüsselrolle zu. Dank dieser vorbildlichen Dramaturgie gelingt das Experiment; mehr noch, es zeigt sich, dass sich das Wagnis in Grenzen hält, wenn sich Neu und Alt derart gegenseitig erhellen. Das Publikum im nun wieder bis unters Dach ausgelasteten KKL lässt sich mit Begeisterung darauf ein.
Die Voraussetzungen für solche Brückenschläge erscheinen gerade am Lucerne Festival ideal, da man hier seit Jahrzehnten das Zeitgenössische mit dem gleichen Anspruch pflegt wie das traditionelle Repertoire. Nur muss die Musik von heute auch die Chance erhalten, irgendwann selber Teil des Repertoires zu werden – so, wie es einst den Werken von Bruckner, Strauss oder Sibelius vergönnt war.