Dienstag, November 19

Bei der diesjährigen «Forward»-Reihe am Lucerne Festival gestaltet die in Bern lebende Geigerin ein verstörend gegenwärtig wirkendes Programm. Es geht mit radikaler Konsequenz um Krieg und Frieden.

Als 2008 im Rahmen der Münchner Reihe «musica viva» das Stück «Halat Hisar» von Dror Feiler uraufgeführt werden sollte, war der Wirbel gross. Der arabische Titel bedeutet «Belagerungszustand», und das meint der israelisch-schwedische Komponist wörtlich. Es werden sogar Salven aus Maschinengewehren eingespielt. Einigen Mitgliedern im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ging das zu weit. Die Aufführung wurde kurzerhand abgesagt, aber nach heftigen Kontroversen dann doch ein Jahr später nachgeholt – mit Ohrstöpseln, die an alle verteilt wurden.

Feiler ist Kontroversen gewohnt. Als Soldat hatte er sich geweigert, in den von Israel besetzten Gebieten zu dienen, und wurde dafür angefeindet. Seit 1973 lebt er in Schweden. Nun, sechzehn Jahre nach dem Skandal um «Halat Hisar», stellt sich die Frage, wie die Reaktionen auf Feilers Stück heute ausfallen würden. Ob der russische Krieg in der Ukraine, die Katastrophe im Nahen Osten seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel oder die Drohgebärden Chinas gegen Taiwan und Nordkoreas gegen Südkorea: Die Welt erscheint gegenwärtig vielerorts im Belagerungszustand.

«Dona nobis pacem»

Insofern wäre es sinnfällig gewesen, «Halat Hisar» jetzt bei «Forward» in Luzern zu erleben. Bei der diesjährigen Ausgabe des Festivals für Gegenwartsmusik des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) kreiste das Programm um die brennenden Themen Krieg und Frieden, und das inszenierte Finalkonzert trug ausdrücklich den Wunsch «Dona nobis pacem» im Titel. Dafür arbeitete man diesmal mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja zusammen, die zwei Abendprogramme gestaltete. «Halat Hisar» erklang darin zwar nicht, war aber auf fast schon unheimliche Weise im Hintergrund präsent.

Kopatchinskajas komprimierte Residenz war neu in der noch jungen «Forward»-Geschichte, das Prinzip aber gibt es schon länger: Das Festival lädt jeweils Persönlichkeiten ein, die gemeinsam mit dem LFCO-Team ein exklusives Programm kuratieren. Kopatchinskaja hatte zwar am vergangenen Montag am Berliner Konzerthaus bereits ihr halbszenisches Programm «Im Namen des Friedens» präsentiert, aber die dort ausgewählten Werke und Komponisten unterschieden sich vom Luzerner «Dona nobis pacem».

Hier setzte Samir Odeh-Tamimi den beklemmenden Ton: Mit «Li-Sabbrá» für Blasinstrument und Schlagzeug hat der palästinensisch-israelische Komponist 2005 ein klanggewaltiges Werk vorgelegt, das an ein Massaker im September 1982 in den Palästinenserlagern Sabbrá und Shatila im Süden Beiruts erinnert. Der Nahostkonflikt beschäftigt Odeh-Tamimi in seinem Werk immer wieder; gleichzeitig wird hörbar, wie sehr er auch um das kulturell Verbindende ringt – gerade in Zeiten der Gewalt.

Nicht minder beklemmend die Uraufführung «Fasma» für 27 Stimmen von Anna Korsun, die vom Chor «Prostir» des gleichnamigen ukrainischen Zentrums in Luzern gestaltet wurde. Die Ukrainerin hat ein feines Gespür für den Klang der menschlichen Stimme, lotet selbst wortlos oder lautmalerisch existenzielle Ausdrücke aus. Das titelgebende Werk für das Finalkonzert war jedoch Galina Ustwolskajas «Komposition Nr. 1 – Dona nobis pacem» für Piccoloflöte, Tuba und Klavier.

Ustwolskaja verweigerte sich in der Sowjetunion dem repressiven System, sie wählte das innere Exil und schuf kompromisslose Werke, auch ohne Rücksicht auf Hindernisse bei der Aufführung. So wirkt die klanglich extrem divergierende Besetzung in «Dona nobis pacem» grotesk, die clusterhaften Schläge des perkussiv genutzten Klaviers bringen jedoch einen unerbittlichen Zug in die Musik.

Musik im Bunker

Das alles erklang im Grossen Saal des KKL, der für dieses Konzert andeutungsweise zu einem Bunker umgestaltet wurde. Hier waren die Mitwirkenden und das Publikum gewissermassen gefangen, die Bühne wirkte wie ein Schützengraben. Auch künstliche Bombengeräusche wurden zugespielt – ein «Belagerungszustand», ganz ähnlich wie in dem Stück von Dror Feiler. Der Konzertsaal, subtil aufgeteilt in Hör- und Ereignisinseln, war ab sofort keine Komfortzone mehr.

Diese Kulmination war zudem in den vorangegangenen Konzerten dramaturgisch geschickt vorbereitet worden. Etwa mit den bizarre Fanfaren in Sofia Gubaidulinas «Quattro» für zwei Trompeten und zwei Posaunen von 1974, das eine Brücke zum grotesken «Dona nobis pacem» von Ustwolskaja schlug. Und schon an der Eröffnung gab Anna Korsuns Werk «Signals» für Stimmen mit Megafon von 2019 eine schauderhafte Vorahnung auf ihr neues Stück «Fasma». In «Signals» dringen durch die maschinell-verzerrende, hart und militärisch wirkende Megafon-Akustik teilweise ukrainische Gebete oder Wiegenlieder – ein verstörendes Hörerlebnis.

Das belagerte Ich

Geräuschhafte Klangaktionen wie in Yu Kuwabaras «Time Abyss» von 2019/20 oder ein Late-Night-Konzert mit Catherine Lambs meditativ-kontemplativem «line/shadow» von 2011 brachten einen eigenen, irritierend stillen Ton in die Luzerner Bunker-Welten. Wenn zudem der Multi-Instrumentalist Anthony Braxton in seiner «Second Species Syntactical Ghost Trance Music» Jazz, Folklore, Blaskapellen- und Militärmusik übereinanderschichtet, wähnt man sich im makabren langsamen Satz aus Gustav Mahlers 1. Sinfonie.

Die grelle Aussenwelt belagerte hier buchstäblich das Ich der Zuhörer. Beim ersten Abendkonzert mit Kopatchinskaja und dem LFCO unter Mariano Chiacchiarini drehte sich alles um «Schmerz». Dabei stand das hochexpressive Violinkonzert von Michael Hersch von 2015/17 im Fokus. Kopatchinskaja selbst, die aus der inzwischen ebenfalls bedrohten Republik Moldau stammt und heute in Bern lebt, spielte sich dabei nie in den Vordergrund. Sie agierte auch in Luzern immer auf einer Ebene mit den Mitwirkenden des LFCO. Jegliche Routine ist ihr fremd, sie gewinnt, indem sie viel riskiert, zumal in diesem Programm. Damit ist sie gerade für die Moderne und die Gegenwartsmusik eine herausragende Exegetin – und nicht zuletzt ein flammendes Vorbild für die jungen Nachwuchskräfte, die in Luzern geschult werden. Ihre Residenz war ein grosser Gewinn für die «Forward»-Reihe.

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