Montag, Oktober 7

Nichts Neues mehr im klassischen Konzert? Von wegen: Im KKL wagen sich die Tschechische Philharmonie und das Lucerne Festival Orchestra auf Seitenwege zum bekannten Repertoire und machen prompt Entdeckungen.

Um im klassischen Musikbetrieb Neugier zu wecken, kann man beispielsweise etablierte Werke in ausgefallenen Lesarten präsentieren; oder Altbekanntes in einen besonderen Rahmen stellen, der dann ein neues Licht auf die Werke wirft. Das ist allerdings der heute gängige Weg – eine Art Neugier der zweiten Ordnung. Wenn es freilich bei der Darbietung an Originalität hapert oder die beteiligten Künstler wenig Eigenes zu vermitteln haben, verkehrt sich die Neugier leicht in ihr Gegenteil, und man landet in der Konvention. Bei Standardwerken geschieht dies leider oft – schliesslich verlangt es aussergewöhnliche Anstrengungen, um etwa eine Beethoven-Sinfonie wieder so unmittelbar wirken zu lassen wie vor zweihundert Jahren.

Viel sicherer erregt man Neugier deshalb, wenn man abseits des Bekannten schaut: Nur ein kleiner Schritt zur Seite genügt oft, und schon tun sich selbst bei den bekannten Komponisten nahezu unbekannte Welten auf. So geschah es an diesem zweiten Konzertwochenende am Lucerne Festival, und zwar gleich zwei Mal. Nebenbei zeigte sich hier, was das recht dehnbare Festivalmotto «Neugier» konkret bewirken könnte: nämlich eine gewinnbringende Erweiterung des von Routine und Wiederholung bedrohten Repertoires.

Blick ins Kleingedruckte

Den Auftakt machte am Freitag die Tschechische Philharmonie mit ihrem Ersten Gastdirigenten Jakub Hrůša. Sie schauten bei Antonín Dvořák, sozusagen ihrem wichtigsten Exportschlager, ins Kleingedruckte. Hrůša selbst verpackte dieses Abenteuer in eine launige Ansprache, die unterstrich, wie schnell man mit ein paar erläuternden Worten das Interesse des Publikums gewinnen kann. Wo immer sie ausserhalb Tschechiens aufträten, so Hrůša, erwarte man von ihnen entweder die 9. Sinfonie «Aus der Neuen Welt», das Cellokonzert oder die Slawischen Tänze. Das sei zwar hinreissende Musik, aber bei Dvořák gebe es doch noch so viel mehr zu entdecken.

Sprach’s, drehte sich zu seinem Orchester – und dirigierte ein Werk Dvořáks, das in dieser Form tatsächlich noch nie im Luzerner Programm zu erleben war. Dabei sind die drei Einzelstücke, aus denen es besteht, sehr wohl bekannt, also nicht einfach staubige Ausgrabungen aus irgendeinem Archiv. Die Konzertouvertüren «In der Natur», «Karneval» und «Othello», kurz vor der Neunten geschrieben, haben durchaus ihren Platz in den Programmen, vor allem als muntere Warmspielstücke. Dass Dvořák sie jedoch als thematisch zusammenhängende Trias konzipierte und gemeinsam unter dem Titel «Natur – Leben – Liebe» aufgeführt sehen wollte, ist nahezu unbekannt.

Hrůša verbindet die etwa gleich langen Werke nun tatsächlich zu einer rund vierzigminütigen Programmsinfonie mit packenden dramatischen Zügen: Es ist eine Trilogie der Leidenschaften, deren Spanne vom träumerischen Naturerleben des Beginns bis zur Eifersuchtsraserei des Schlusses reicht. Die Plastizität, mit der Hrůša und das Orchester die ständig wechselnden Charaktere entwickeln, immer in klanglicher Feinzeichnung, nie mit der musikantisch groben Kelle, fördert hier wirklich ein vernachlässigtes Meisterwerk zutage. Es brauchte nicht hinter dem Cellokonzert zurückzustehen, das im ersten Teil des Konzerts erklang, allerdings auch nicht als blosse Konzession an die besagte Publikumserwartung.

Der Luzerner «Artiste étoile» Sheku Kanneh-Mason macht aus dem Paradestück aller Cellisten vielmehr ein tiefernstes, manchmal fast vergrübeltes Zwiegespräch mit dem Orchester – wiederum im Einklang mit dem programmatischen Anliegen Dvořáks, der sich immer weiter von der Tradition des auf Wirkung berechneten Virtuosenkonzerts abwandte und die Musik stattdessen zu einem Requiem für seine verstorbene Jugendliebe machte. Wie stark ein derart reflektierter und konsequent durchgeführter Interpretationsansatz ein Werk im Ganzen verändern und auch aufwerten kann, zeigte sich anderntags ähnlich bei der zweiten Entdeckung dieser Tage.

Hand in Hand

Bei der mittlerweile dritten Zusammenarbeit des Lucerne Festival Orchestra mit dem kanadischen Dirigenten Yannick Nézet-Séguin stand neben Bruckners 7. Sinfonie auch das einzige vollendete Klavierkonzert von Clara Wieck auf der Agenda – das Werk eines gerade vierzehnjährigen Wunderkindes, dessen erstaunliche Reife den Aufstieg der späteren Clara Schumann zur führenden Pianistin des 19. Jahrhunderts vorzubereiten scheint. Die Italienerin Beatrice Rana arbeitet in ihrer strengen Lesart des Soloparts heraus, wie weit sich schon die junge Clara vom Tastengeklingel des zeittypischen «Concert brillant» entfernt. Dies ist alles andere als eine Handgelenksübung – umso mehr muss man bedauern, dass es in Claras späterem Schaffen keine vergleichbar raumgreifenden Entwürfe mehr gibt.

Musikgeschichtlich hat das Werk dennoch Spuren hinterlassen: Bei der Orchestrierung arbeitet sie erstmals Hand in Hand mit ihrem späteren Mann Robert, der obendrein sein eigenes a-Moll-Konzert nach demselben Muster komponieren wird. Und noch im 2. Klavierkonzert des Haus- und Herzensfreundes Johannes Brahms kann man das berühmte Cellosolo im langsamen Satz nun rückwirkend als geheime Hommage an Clara hören. Wenn das nicht neugierig macht.

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