Donnerstag, August 21

Die Musikwelt tut sich schwer mit dem Unvollendeten. Trotzdem werden viele berühmte Fragmente regelmässig aufgeführt. Sie eröffnen einen einzigartigen Blick in die schöpferische Praxis.

Wenn Komponisten sterben, bleibt in ihren Nachlässen meist eine Fülle offener Enden zurück. Manche Projekte wurden durch wichtigere verdrängt, andere haben sich aus formalen Gründen als unausführbar erwiesen; gelegentlich haben es sich auch Auftraggeber anders überlegt. Für die dadurch entstandenen Fragmente interessieren sich in der Regel vor allem Fachleute. Doch gibt es eine kleine Gruppe von Werken, die ungeachtet ihres fragmentarischen Charakters regelmässig aufgeführt werden. Nennen wir sie die «legendären Unvollendeten»: Mozarts Requiem, Schuberts «Unvollendete», Bruckners 9. und Mahlers 10. Sinfonie, die Opern «Turandot» von Puccini und «Lulu» von Alban Berg.

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Sie verbindet, was die Sozialwissenschaften im Anschluss an Michel Foucault ein «Dispositiv» nennen: ein Netz von kulturellen Praktiken und Diskursen, das nicht nur den Charakter des Fragments immer wieder ins Gedächtnis ruft, sondern auch entscheidet, wie wir mit ihm umgehen. Dies beeinflusst nicht zuletzt auch das Denken und Fühlen des Publikums: Es gibt wohl keinen Musikliebhaber, den bei den ersten Takten des «Lacrimosa» aus Mozarts Requiem nicht ein Schauder rührte. Spannen wir also ein Netz aus um die legendären Unvollendeten, natürlich in Fragmenten:

·       Die legendären Unvollendeten sind Produkte des Geniezeitalters, entstanden zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. Sie setzen voraus, dass Komponisten einem Personalstil und einer individuellen Intention folgten, nicht mehr nur Konventionen einer Gattung. Wenn ein Komponist des 17. Jahrhunderts eine weitere Messe oder Oper unvollendet hinterliess, fiel sie in der Regel durchs Netz, wie gelungen sie auch sein mochte. Hätte ein Auftraggeber das Werk zwingend benötigt, hätte er es von fremder Hand vollenden lassen, gemäss den damals gültigen Regeln der jeweiligen Gattung. Ganz ähnlich geschah es in der Architektur, bei einer Kirche oder einem Schloss, wenn der ursprüngliche Baumeister starb.

·       Entsprechend suchte Constanze Mozart nach dem Tod ihres Mannes 1791 einen Komponisten, der das unfertige Requiem fertigstellte. Schon deshalb, weil sie sonst die Anzahlung auf das Honorar des anonym gebliebenen Auftraggebers hätte zurückzahlen müssen. Mozarts Schüler Franz Xaver Süssmayr erstellte schliesslich eine Fassung, die im Grossen und Ganzen bis heute überzeugt, auch wenn ihr bis heute immer wieder handwerklich stärker reflektierte Vollendungsversuche an die Seite gestellt werden.

·       Im Geniezeitalter wird der Künstler zu einem Rollenmodell für die Gesellschaft. Wie er seine Werke entwirft, entwirft der Bürger sein Leben. Es zu vollenden, war bis dahin Gott vorbehalten gewesen. Gleichgültig in welchem Alter und in welchen Projekten ein Mensch starb: Ein Leben konnte sich nur im Paradies vollenden. Erst in einer Welt, in der das Individuum mit sich selbst fertig werden muss, wird der vorzeitige Abbruch zum Skandal.

·       Das bedeutet keineswegs, dass Gott tot ist. In seinem Buch «Von realer Gegenwart» deutete der 2020 verstorbene Literaturwissenschafter George Steiner das künstlerische Werk als «Gegenschöpfung», den ästhetischen Akt als Imitation des göttlichen Schöpferakts. Der menschliche Autor wird zum Rivalen Gottes: Er macht vollkommener, was dieser an seiner Schöpfung hat fehlen lassen, zuvorderst aber an ihm selbst: dass er in der Welt ist, ohne sich selbst entworfen zu haben. Und dass er sterben muss. Das Genie überwindet symbolisch den Tod, indem seine Werke überdauern. Spinnt man Steiners Überlegungen weiter, dann bewiese im unvollendeten Fragment Gott seine Macht auf alttestamentarisch grausame Weise: Er erschlägt den Rivalen.

·       Fragmente wie Mozarts c-Moll-Messe oder Schönbergs Oper «Moses und Aron» werden nicht den legendären Unvollendeten zugerechnet: Beide sind nicht in unmittelbarer Todesnähe entstanden, sondern aus anderen Gründen nicht beendet worden. Daneben darf das Fragment nicht zu vollständig oder unvollständig sein, um ins Dispositiv eingesponnen zu werden: Béla Bartóks Drittes Klavierkonzert gilt nicht als unvollendet, weil nur die letzten 17 Takte und einige Spielanweisungen fehlten; ebenso wenig Beethovens zehnte Symphonie, zu der die Skizzen nie über dreissig aufeinander folgende Takte hinausreichen. Und mindestens latent muss das Werk vollendbar sein: Für Alexander Skrjabins unabgeschlossenes Projekt «Mysterium» hat noch niemand zweitausend Mitwirkende auftreiben wollen, die es unter einer Halbkugel in Indien aufführen.

·       Ein Fragment auch als solches veröffentlichen, also mit offenem Ende oder mit erkennbaren Fehlstellen, war noch Mitte des 18. Jahrhunderts ohne Präzedenz. Carl Philipp Emanuel Bach schrieb deshalb Musikgeschichte, als er 1751 die «Kunst der Fuge» seines Vaters Johann Sebastian in den Druck gab, samt einer unfertigen Fuge am Schluss. Immerhin hätte der Sohn sie auch einfach zu Ende komponieren können, wie es dann nach ihm viele versucht haben. Zur Rechtfertigung schuf der Bach-Sohn im Vorwort einen Mythos: Der «selige Herr Verfasser» sei, bereits erblindet, über dem Werk gestorben. Die Musikwissenschaft weiss schon lange, dass das nicht wahr ist; sie konnte den Befund aber bislang nicht deuten. Im vergangenen Jahr hat Meinhard Brüser eine faszinierende neue These vorgelegt: Johann Sebastian Bach habe die letzte Fuge bewusst unvollendet gelassen, als Zeichen der Demut. Der gläubige Komponist hätte somit freiwillig auf die letzte Rivalität mit seinem Schöpfer verzichtet.

·       Ins Netz der legendären Unvollendeten hat sich ein Werk gemogelt, das eigentlich nicht hineingehört: Bei seinem Tod im Jahr 1828 arbeitete Franz Schubert keineswegs an seiner «Unvollendeten» in h-Moll, vielmehr an einer anderen Sinfonie in D-Dur. Die zwei (statt der üblichen vier) Sätze der «Unvollendeten» entstanden bereits 1822 als Abschluss einer Reihe von weiteren Fragmenten, in denen sich der junge Komponist an der Gattung Sinfonie erprobte. Dennoch wurde die «Unvollendete» lange als Schuberts achte Symphonie gezählt, die später komponierte «Grosse» C-Dur-Symphonie in vier Sätzen als siebte. Das Dispositiv war hier wirkmächtiger als die Realität: Schuberts früher Tod mit 31 Jahren wurde auf das Werk rückprojiziert, zumal h-Moll als Tonart der Schicksalsergebenheit galt.

·       Neun Symphonien hat Beethoven abgeschlossen, der dem 19. Jahrhundert als Vollender der gesamten Gattung galt. Wer eine Neunte schrieb, konkurrierte deshalb nicht nur mit der göttlichen Dreifaltigkeit, multipliziert mit sich selbst, sondern auch noch mit dem irdischen Gott der Symphonie. «Dem lieben Gott» wollte Anton Bruckner laut mündlicher Überlieferung seine Neunte widmen, wofür er laut Auskunft seines Arztes «einen Kontrakt abgeschlossen» habe: Stürbe er vor dem Finale, so habe «sich das der liebe Gott selber zuzuschreiben, wenn er ein unvollendetes Werk bekommt». Doch der Allmächtige hatte wieder einmal andere Pläne und liess Bruckner über den Entwürfen zum Finalsatz sterben.

·       Todesangst löste die Neunte auch bei Gustav Mahler aus. Um die Zahlenfolge etwas zu verschleiern, schob er zuvor sicherheitshalber das «Lied von der Erde» ein, das von höherer Warte als Symphonie betrachtet werden konnte oder auch als Zyklus von Orchesterliedern. Mit der Neunten wurde er fertig, mit seiner Zehnten nicht mehr.

·       Zu jeder legendären Unvollendeten gibt es eine Vielzahl von Vollendungsversuchen. Komponisten und Musikwissenschafter, die sich der Sache annehmen, studieren dafür jede erhaltene Skizze und noch die kleinste Notiz des ursprünglichen Schöpfers. Dennoch löst jeder Vollendungsversuch zuverlässig Kritik aus. Er wird als Sakrileg gewertet, so aufführungspraktisch er auch gedacht sein mag. Die Diskussion um eine richtige Ausführung der ursprünglichen Intention des Urhebers kommt – siehe Mozart, siehe Bach – nie an ein Ende, sie geht potenziell immer weiter.

·       Als Giacomo Puccini 1924 über seiner «Turandot» starb, arbeitete Franco Alfano das Finale der Oper aus. Doch der Dirigent Arturo Toscanini brach nicht nur die Uraufführung an der Stelle ab, an der Puccinis Reinschrift der Partitur endet, er strich auch für die Folgeaufführungen Alfanos Komposition rüde zusammen. Bis heute wird sie meist in dieser gekürzten Version gespielt, begleitet von der immer gleichen Kritik: Die Titelfigur wandele sich allzu rasch von der männermordenden zur liebenden Frau. 2002 entwarf Luciano Berio eine neue Version mit einer ausgiebigen Verwandlungsmusik, die ambivalenter ausklingt. Dabei ist Alfanos ungekürztes Finale nicht nur kompositorisch gelungen. Es vertont vor allem auch den vollständigen Originaltext, der Turandots Wandlung motiviert. Toscaninis Geniekult verhinderte auf Jahrzehnte die theaterpraktisch sinnvolle Lösung.

·       Selbst grösste philologische Akribie führt nicht notwendig zum Ziel. Jahrelang vertiefte sich der Komponist Friedrich Cerha in Alban Bergs Notizen zum dritten Akt der «Lulu» und studierte sogar die unterschiedliche Dicke der Bleistiftstriche im Autograf. Als das Ergebnis schliesslich erklang, wurde Cerhas Instrumentation allgemein als zu üppig kritisiert. Berg selbst hätte sicher nicht jeden orchestralen Einfall weiterverfolgt, den er sich während des Kompositionsprozesses notiert hatte.

·       Ende des 19. Jahrhunderts wurde in London Beethovens 10. Sinfonie uraufgeführt, erlebte allerdings ein Fiasko. Der Meister hatte sie angeblich einem Medium vom Jenseits aus diktiert, schien im Paradies allerdings einen erheblichen Teil seiner irdischen Fähigkeiten eingebüsst zu haben.

·       Weitere Versuche, Beethovens spärliche Skizzen zu einer zehnten Symphonie fortzuspinnen, wurden davon naturgemäss nicht verhindert. Vor vier Jahren verkündete eine bekannte deutsche Telekommunikationsgesellschaft, Beethovens erhaltenes Material mithilfe einer Künstlichen Intelligenz vervollständigt zu haben. Als das Ergebnis der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ging ein Aufatmen durch den Musikbetrieb: Obwohl der digitale Output bereits von einem menschlichen Komponisten betreut und überwacht worden war, glich es eher einem harmonischen Auffahrunfall als einer Symphonie von Beethoven. Die KI hatte versagt. Um eine plausiblere Version vorzuschlagen, müsste sie nicht nur die schöpferischen Intentionen im Skizzenmaterial verstehen, sondern zusätzlich auch selbst welche entwickeln.

·       In jüngerer Zeit scheint sich eher die Tendenz zu etablieren, Fragmente als solche auszustellen. «Turandot» wird nun gelegentlich ganz ohne Finale gespielt, wie 2023 am Opernhaus Zürich. Hörbare Lücken liessen auch die Bearbeiter Eberhard Kloke und Detlef Heusinger, als sie 2010 und 2019 Neufassungen zum dritten Akt der «Lulu» vorlegten. Kloke distanziert sich dabei vom Anspruch einer «Vollendung», indem er an manchen Stellen unterschiedliche Varianten anbietet. Heusinger setzt sogar neuere Instrumente wie E-Gitarre und Keyboard ein, um zu betonen, dass Bergs Intentionen sich nicht mehr vollständig umsetzen lassen.

· Über das Geniezeitalter wird gern gespottet. Doch im Umgang mit den legendären Unvollendeten scheint das Dispositiv wirkmächtiger denn je: Der finale Wille der Komponisten bleibt so unergründlich wie der Wille Gottes.

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