Donnerstag, August 21

Seit 1999 steht Michael Haefliger an der Spitze des Lucerne Festival. Doch die Saison 2025 soll auf eigenen Wunsch die letzte seiner Luzerner Intendanz sein. Im Gespräch erklärt Haefliger, wie man nach 26 Jahren einen Abschied gestaltet, ohne einfach die Tür hinter sich zuzuwerfen.

Herr Haefliger, Goethe hat in seinem Gedicht «Unbegrenzt» den schönen Satz geprägt: «Dass du nicht enden kannst, das macht dich gross.» Ist das der geheime Sinn hinter dem diesjährigen Festival-Motto «Open End»?

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Michael Haefliger: Es fragt sich immer was endet, nicht? Intendanzen enden – die müssen auch irgendwann einmal enden. So wie meine nach dieser Saison. Aber das Festival endet nie. Es geht immer weiter.

Jedenfalls, solange es genügend Geld hat.

Ja, aber das ist die Aufgabe des jeweiligen Intendanten: die Organisation hochzuhalten, das Festival, die Kunst; aber eben auch, die wirtschaftliche Situation so abzusichern, dass es weitergehen kann. Und nicht zuletzt dafür zu sorgen, dass man einen guten Übergang hat, wenn es zu einem Wechsel kommt. Das meine ich mit «Es hört nie auf».

Sobald es in der Kulturwelt zu solch einem grösseren Einschnitt kommt, wird oft befürchtet, nun breche alles zusammen.

Als Claudio Abbado 2014 gestorben ist, haben viele gemutmasst, nun könne es ja wohl mit dem Lucerne Festival Orchestra nicht weitergehen. Weil das Orchester seit 2004 so umfassend durch Abbado geprägt worden war. Aber es ging weiter. Es kommt immer etwas Neues. Auf Abbado folgte Riccardo Chailly, und in meinem Fall ist «der Neue» auch schon benannt: Mein Nachfolger Sebastian Nordmann ist schon emsig am Planen. So muss es sein.

Nehmen Sie die Sache wirklich so gelassen? Immerhin werden Sie das Festival nach dieser Saison 26 Jahre lang geleitet haben.

Wie man selbst damit umgeht, das ist dann wieder etwas anderes. Das ist meine persönliche Herausforderung. Aber es ist ja nicht so, dass man in der Schweiz nicht schön verabschiedet wird. Das Festival versammelt zum Abschluss noch einmal wichtige Weggefährten aus diesen Jahren. In Anspielung auf Beethoven haben wir das Konzert «Les Adieux» genannt.

Die gleichnamige Beethoven-Sonate mündet allerdings in ein Finale mit dem Titel «Das Wiedersehen» oder «Le Retour». Geht es Ihnen bei dem Motto «Open End» zentral um das Paradox, dass ein «offenes Ende» eigentlich keines ist?

Das ist zum einen der Versuch, die Situation des Übergangs in diesem Jahr auf den kürzesten Nenner zu bringen. Eine Intendanz endet, aber die Zukunft des Festivals ist gesichert und damit im weitesten Sinne offen. Und das Thema spiegelt sich, wie bei den früheren Saison-Mottos, auch konkret in vielen Programmen wider.

Wie muss man sich das vorstellen?

Wir haben zahlreiche Werke bedeutender Komponistinnen und Komponisten im Programm, die aus unterschiedlichen Gründen nicht fertig sind. Entweder, weil sie die Arbeit daran abgebrochen haben – wie Schubert bei der «Unvollendeten». Oder weil sie immer wieder neue Fassungen erstellt haben – wie Anton Bruckner, aber auch Pierre Boulez. Oder weil ihnen, leider wohl der häufigste Anlass, der Tod sozusagen die Feder aus der Hand genommen hat. Eines der berühmtesten Beispiele ist natürlich Mozarts Requiem; aber auch Alban Bergs «Lulu» und Gustav Mahlers 10. Sinfonie, die Chailly gleich im Eröffnungskonzert in der Vervollständigung von Deryck Cooke dirigieren wird.

Strenggenommen fällt das Beiseitelegen oder das fortwährende Überarbeiten eines Stücks aber in eine andere Kategorie als ein Fragment, das durch den Tod des Urhebers entsteht. Wo liegt die Verbindung?

Für mich liegt sie in der Frage der Niederschrift, also in der Notwendigkeit, ein Projekt oder ein Werk in einer finalen Form auf dem Papier zu fixieren. Wir wissen aus der Kulturgeschichte, dass dies für viele Künstler oft ein intensiver Kampf mit sich selber ist. Wann ist der Endzustand erreicht, wo setzt man einen Schlusspunkt? Bei allen genannten Werken ist es aus unterschiedlichen Gründen nicht dazu gekommen.

Bei den notorischen Überarbeitern, die den Endpunkt immer aufs Neue infrage stellen, spricht man von einem «Work in Progress». Ist das mehr als eine schöne Umschreibung dafür, dass jemand nicht zum Ende kommen konnte oder wollte?

Es geht tiefer. Für Wolfgang Rihm, den langjährigen Leiter unserer Festival Academy, der leider im vergangenen Sommer verstorben ist, war das Konzept essenziell. Er verstand Musik als etwas Organisches, das potenziell unaufhörlich weiterwuchert und -wächst. Oder denken Sie an Boulez, dem wir anlässlich seines 100. Geburtstags einen Schwerpunkt widmen. Für viele seiner wichtigsten Kompositionen hat Boulez unablässig neue Fassungen erstellt, ohne übrigens die früheren immer ausdrücklich zu verwerfen. Eines der Kern- und Schlüsselwerke für diesen Sommer ist «Poésie pour pouvoir», das wir erstmals seit 1958 wieder aufführen.

Was macht das Stück zum Schlüsselwerk?

Boulez hat darin erstmals versucht, instrumentale und elektronische Klänge zu verbinden. Nach der Uraufführung in Donaueschingen hat er das Stück zurückgezogen, weil ihm die Möglichkeiten der damaligen Tontechnik nicht genügten. Marco Stroppa, unser Composer-in-Residence, hat die Tonspur nun mit Billigung der Boulez-Erben rekonstruiert und gleichzeitig auf das heutige, viel höhere Niveau bei elektroakustischen Zuspielungen gebracht. Durch die notwendige Aktualisierung entsteht hier eine besondere Form von «Work-in-Progress».

Postume Bearbeiter wie Stroppa, aber auch schon Franz Xaver Süssmayr beim Mozart-Requiem und Cooke bei Mahlers Zehnter, bringen zwangsläufig eigene Vorstellungen und Lösungsideen in die jeweiligen Kompositionen ein, um sie möglichst «vollendet» erscheinen zu lassen. Ist das nicht problematisch?

Bearbeiter müssen sich in das Vorhandene einfühlen, sie denken zunächst einmal das weiter, was vorliegt. Vom Prinzip her macht das inzwischen auch künstliche Intelligenz. Bloss ist KI nie so kreativ, weil sie bislang vor allem Kopien und immer vielfältigere Varianten von vorgegebenen Mustern erzeugt, aber keine eigenen schöpferischen Ideen entwickelt. Noch nicht.

Bereits 2021 wollte man aus vorhandenen Entwürfen mithilfe von KI eine zehnte Sinfonie von Beethoven entwickeln. Das Ergebnis klang allerdings nach drittklassigem Bonner Kleinmeister.

Der Versuch an sich ist trotzdem interessant. Vielleicht sollten wir uns grundsätzlich von der Idee der «Vollendung» verabschieden. Das ist eine romantische Vorstellung und in erster Linie ein Gefühl. Wir empfinden eine Interpretation möglicherweise als «vollendet», weil sie so stimmig wirkt. Jeder selbstkritische Musiker weiss jedoch, dass es die «perfekte» Wiedergabe nicht gibt, allenfalls Annäherungen. Ähnlich ist es mit Bearbeitungen: Sie sind Aufführungsfassungen, die ein sonst nicht spielbares Stück für die musikalische Praxis erschliessen. Gleichzeitig repräsentieren sie den jeweiligen Stand der Technik wie bei Boulez’ «Poésie pour pouvoir» und im besten Fall auch den der Forschung zu einem Werk, die immer wieder Neues ans Licht bringt.

Wenn Aufführungsfassungen also in gewisser Weise Momentaufnahmen sind: Was halten Sie von dem radikalen Gegenkonzept, bei unfertigen Werken dort aufzuhören, wo die Niederschrift abbricht oder nicht mehr umsetzbar ist? Bei Puccinis «Turandot» wird das häufiger gemacht, beim Mozart-Requiem auch. Die Wirkung ist oft verstörend.

Aber sie schärft unseren Sinn dafür, was überhaupt ein Ende ist. Und es kommt auch darauf an, wie es jeweils konzeptionell eingebettet wird. Das Mindeste ist sicher ein Hinweis im Programmheft, damit man nicht kalt erwischt wird. Und der Interpret kann den Abbruch auch gestalterisch so vorbereiten, dass man nicht in ein Loch fällt. Ausserdem würde ich kein Dogma daraus machen. Ebenso interessant finde ich das Experiment, wenn andere Komponisten versuchen, etwas weiterzuführen und sogar etwas Neues dazuzuschreiben. Wie es Luciano Berio bei der «Turandot» oder Friedrich Cerha bei Bergs «Lulu» getan haben. Das bedeutet gerade für etablierte Komponisten ein Risiko: Sie müssen das Eigene bis zu einem gewissen Grad hinter der Kreativität eines Kollegen zurückstehen lassen. Diesen Mut bewundere ich gerade bei Cerha sehr.

Woher rührt der Wunsch, dass ein Werk formal befriedigend beendet werden muss?

Das kommt sicher zum einen aus Hörgewohnheiten. Wahrscheinlich wird es aber schon viel früher und grundsätzlicher in unserer Erziehung angelegt. Man muss etwas fertig machen, diese Maxime begleitet uns durchs Leben. Man macht die Schule fertig, eine Ausbildung, ein Studium. Ein Projekt muss abgeschlossen, ein Vertrag erfüllt werden. Das gesellschaftliche Zusammenleben basiert auf solchen organisatorischen Strukturen oder Denkmustern, und die sind in den seltensten Fällen offen angelegt. Wir brauchen in vielen Prozessen einen Anfang und ein klares Ende, das gibt uns nicht zuletzt ein Gefühl von Sicherheit.

Sie selbst haben Klarheit geschaffen und das Ende Ihrer Luzerner Intendanz nach dieser Saison schon im November 2022 angekündigt. Was war der ausschlaggebende Impuls?

Mir war schon vor dem Ausbruch der Pandemie 2020 völlig klar, dass ich 2025 aufhören möchte. Doch dann waren erst einmal die Herausforderungen zu bewältigen, die Corona für das Festival wie für den gesamten Kulturbetrieb mit sich gebracht hat. Wir mussten genau überlegen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, meinen Entscheid öffentlich zu machen. Damit setzt man nämlich unweigerlich etwas in Gang, das eine eigene Dynamik entwickelt und kaum mehr abgebrochen werden kann – von Diskussionen über die Zukunft der Institution bis zur Ausschreibung der Intendantenstelle und dem anschliessenden Berufungsverfahren. Ich wollte das nicht in einer so schwierigen Situation wie 2020 anstossen, als wir das Festival wegen der Pandemie absagen mussten. Dennoch stand für mich stand nie zur Debatte, dass 26 Jahre an der Spitze des Festivals das Maximum sind.

Warum sehen Sie da eine Grenze erreicht?

Mit dem regulären Auslaufen meines Vertrages wird es halt wirklich mehr als ein Vierteljahrhundert geworden sein – ohne dass ich das je so geplant hätte. Noch länger fände ich fast schon unanständig. Natürlich hat man immer noch Ideen, man möchte Dinge weiterentwickeln oder neu aufstellen. Aber mit dieser Begründung immer weiterzumachen und dann irgendwann die 30 Jahre anzupeilen oder noch mehr, das fand ich grundfalsch. Das ist für keine Institution gut. Es braucht auch den Wechsel. Sonst entsteht eine Fixierung auf die jeweilige Leitungsperson oder ein Machtvakuum. Auch die Institution könnte stagnieren, weil sich jeder in der Organisation in eingespielten Abläufen eingerichtet hat. Es müssen neue Kräfte kommen, und wir müssen ja auch den natürlichen Wechsel der Generationen aufrechterhalten.

Wenn solche Wechsel anstehen, gibt es, gerade bei Kulturinstitutionen, zwei Strategien. Die eine ist disruptiv, macht im Extremfall Tabula rasa und baut institutionell wie personell das meiste neu auf. Die andere ist evolutionär und versucht, das Bestehende unter neuen Vorzeichen weiterzuentwickeln. In Luzern hat man sich für die zweite Option entschieden. Wäre ein kompletter Neustart für das Festival undenkbar gewesen?

Denkbar wäre es schon gewesen. Aber es ist das eine, so etwas theoretisch oder als Konzept einzufordern. Es dann in der Praxis umzusetzen, ist jedoch anspruchsvoll und ausgesprochen heikel. Gerade bei einem Festival, das sich, wie wir, weitestgehend privat finanziert. Denn Sie müssen alle erst einmal für den neuen Kurs gewinnen: von den treuen Besuchern, die uns mit ihren Kartenkäufen wesentlich mittragen, bis hin zu den Sponsoren. Auch in der Zusammenarbeit mit den beteiligten Künstlern und Ensembles ist während der Jahre vieles gewachsen. Ich bin froh, dass dies nicht vorschnell geopfert wird.

Das heisst, es gab während der Regelung Ihrer Nachfolge die «heiligen Kühe» namens Lucerne Festival Orchestra und Academy, die nicht angetastet werden durften?

Die «Kühe» sind Ihre Wortwahl. Doch es ging nie bloss um ein Konservieren des Status quo, sondern immer ums Weiterdenken. Davon sollte sich jede Kultureinrichtung leiten lassen, die Kultur selbst bleibt ja nicht stehen. So ist die Festival Academy beispielsweise zu Beginn meiner Intendanz aus den Meisterkursen hervorgegangen, die in Luzern schon länger gepflegt wurden. Das Engagement für die kommenden Generationen ist immer bedeutsamer geworden. Heute ist die Academy eine der grössten Einrichtungen für die Nachwuchsförderung und für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik. Das ist organisch gewachsen und dann immer weiter ausgebaut worden. Ich bin sicher, dass mein Nachfolger es ähnlich handhaben wird. Und ich bin froh über den Zeitpunkt, ab dem er dies tun wird.

Wieso ist dies der richtige Zeitpunkt? Sind Sie doch ein bisschen amtsmüde?

Das wird ja immer in solchen Situationen vermutet. Keine Sorge, ich hätte noch Pläne. Es ist der richtige Moment, weil das Festival sehr solide aufgestellt ist und mit seinen Programmsparten ein klares Profil hat, auf dem man aufbauen kann. Das Gegenteil wäre schlimm: wenn erst ein Troubleshooter nötig wäre, der seine konzeptionelle Energie darauf verwenden müsste, die Finanzen oder die Organisation in Ordnung zu bringen. Das ist alles nicht der Fall. Wir hatten auch Glück, dass wir die Folgen der Pandemie, die viele Institutionen lange gespürt haben, etwa beim Kartenverkauf, vergleichsweise schnell überwinden konnten.

Sie steigen, bildlich gesprochen, im vollen Galopp vom Pferd?

Nicht ganz einfach, aber besser im vollen Galopp als von einer lahmenden Mähre. Ich würde mich grässlich fühlen, wenn ich jetzt wüsste, dem Festival ginge es nicht gut und wir kratzten sozusagen am Existenzminimum.

Wird auch Wehmut dabei sein, wenn Sie das Festival-Ross davongaloppieren lassen?

Ja, ich glaube schon. Es hat schon eine gewisse Melancholie, aber es ist auch eine grosse Freude dabei. Natürlich werde ich verfolgen, was aus den Institutionen des Festivals wird. Doch das liegt dann nicht mehr in meiner Hand, und ich werde mich nicht einmischen. Vielmehr freue ich mich darauf, irgendwann in diesen wunderbaren Saal zu gehen und ein Konzert im KKL zu geniessen, ohne dass ich das Ganze organisieren muss. Wir konnten hier eine Menge aufbauen, das ist eine grosse Genugtuung. Aber mir wurde schon in meinem Elternhaus eine gewisse Bescheidenheit gegenüber beruflichen Erfolgen vorgelebt.

Sie sprechen von Ihrem Vater, dem berühmten Schweizer Tenor Ernst Haefliger.

Mein Vater hat am Abend auf der Bühne einen berührenden Tamino in der «Zauberflöte» oder einen Evangelisten in einer der Bach-Passion gesungen, und am nächsten Morgen war er da und hat den Müll geleert. Wir konnten das als Kinder manchmal gar nicht fassen. Heute weiss ich, dass diese Gelassenheit gegenüber dem Beruf meinem Bruder Andreas und mir überhaupt den Freiraum eröffnet hat, dass wir uns auch künstlerisch entwickeln konnten. Und vielleicht ist das sehr schweizerisch. Wir lassen es gerne mal krachen, aber dann ist auch Schluss.

Als Gustav Mahler 1907 als Direktor der Wiener Oper zurücktrat, hat er sich von der Belegschaft mit dem Satz verabschiedet: «Statt etwas Ganzem hinterlasse ich Stückwerk, Unvollendetes, wie es dem Menschen bestimmt ist.» Haben Sie das Gefühl, etwas Unvollendetes zu hinterlassen?

Nein, das Gefühl habe ich eigentlich nicht. Ob es am Ende eine runde Sache geworden ist oder ob eben auch manches offenbleibt, dürfen andere beurteilen. Ich kann meinen Platz in dem Bewusstsein räumen, dass hier vieles entstanden ist, das mittlerweile prägend für die Institution geworden ist. Aber es ist genauso wichtig, dass eine neue Person die Chance hat, das weiterzuentwickeln. Mit neuen Führungskräften, mit neuen künstlerischen Leitgedanken. Die Aussicht gefällt mir gut.

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