Mittwoch, Oktober 9

In Luzern sollten zwanzig Jahre Festival Academy und das 25-jährige Bestehen des West-Eastern Divan Orchestra gefeiert werden. Doch beide Institutionen stehen vor Umbrüchen. Der Auftritt von Daniel Barenboim und Anne-Sophie Mutter machte betroffen.

Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts. Für dieses Lebensmotto konnte sich Goethe auf die alten Römer berufen. Sie feierten die Neugier als «Mutter der Weisheit». Das West-Eastern Divan Orchestra (WEDO), das seinen Namen von Goethes später Gedichtsammlung leiht, und die Lucerne Festival Academy (LFA) sind nach diesem Verständnis wahre Werkstätten der Neugier. «Wir müssen vor allem Neugier und Wissen teilen, die beiden wichtigsten Komponenten der Kommunikation», sagte Pierre Boulez 2002 und rief zwei Jahre später mit dem Luzerner Intendanten Michael Haefliger eines der heute wichtigsten Nachwuchsprojekte in der Musikwelt ins Leben.

Beim West-Eastern Divan Orchestra, noch fünf Jahre älter als die LFA, hat die Idee des Austauschs auch noch eine politische Komponente. 1999 von dem argentinisch-israelischen Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim sowie dem palästinensischen Literaturwissenschafter Edward Said ins Leben gerufen, möchte der Klangkörper gezielt junge Talente aus Israel und der arabischen Welt zusammenbringen. So sollen Gräben zwischen Religionen, Systemen und Weltanschauungen überwunden werden.

Gedenken an Wolfgang Rihm

Beide Institutionen übertragen dabei die Idee des Aufeinander-Hörens, die für gemeinsames Musizieren von jeher unabdingbar ist, auf den sozialen Umgang ihrer Mitglieder untereinander. Wer dem Partner am Nachbarpult ebenso aufmerksam ausserhalb von Konzertauftritten zuhört, kann womöglich auch dessen Lebenssituation besser verstehen. Ein bestechender Gedanke, zumal angesichts der derzeitigen Weltlage.

Allerdings zeigte sich bei den Jubiläumskonzerten am Lucerne Festival auch, dass beide Institutionen vor einschneidenden Weichenstellungen stehen. Für die LFA ist der Tod von Wolfgang Rihm, der Boulez 2016 als künstlerischer Leiter nachfolgte, ein gewaltiger Verlust. Nur wenige Komponisten konnten Musik derart reflektiert und gleichzeitig inspirierend vermitteln. Das Geburtstagskonzert mit Solisten des Lucerne Festival Contemporary Orchestra wurde zum eindringlichen Gedenken an Rihm.

In ihren Ansprachen machten Michael Haefliger, die Pianistin Helga Karen sowie Dieter Ammann und Unsuk Chin, die das «Composer Seminar» betreuen, noch einmal deutlich, wie umfassend Rihm eine unbedingte künstlerische Freiheit vorlebte. Er lehnte ästhetische und stilistische Dogmen ab, forderte von jungen Talenten ein Höchstmass an Unabhängigkeit.

Wie sehr er sich gegen Einordnungen verwahrte, offenbarte auch die Aufführung von Rihms «Stück für drei Schlagzeuger» von 1989. Da kauern die Ausführenden auf dem Boden, trommeln und wirbeln zusehends rauschhaft, bis sie die Schlägel in die Luft werfen. Es folgt eine humoristisch-groteske Performance, bei der schliesslich laut gebrüllt wird. Diese Seite Rihms erlebt man im allgemeinen Konzertbetrieb selten. Auch die übrigen Werke von Boulez, den diesjährigen Residenz-Komponisten Beat Furrer und Lisa Streich sowie eine Uraufführung von Raimonda Žiūkaitė für Tuba und Lautakrobatik entsprachen ganz dem experimentellen Geist der Luzerner Akademie.

Die Lücke zu füllen, die Rihms Tod bei der LFA hinterlässt, wird eine Herausforderung, zumal auch noch nicht bekannt ist, was der designierte Intendant Sebastian Nordmann ab 2026 mit der Academy vorhat. Mit der Komponistin Unsuk Chin verfügt das «Composer Seminar» freilich schon jetzt über eine Persönlichkeit, die eine ähnlich grosszügige Empathie für unterschiedliche Haltungen vorlebt wie Rihm.

Beklemmend hoffnungslos

Beim West-Eastern Divan Orchestra sind die Herausforderungen noch komplexer. In Luzern erlebte man dessen Gründer und Leiter Daniel Barenboim schwer angeschlagen, und das war wohl nicht allein seiner seit längerem angegriffenen Gesundheit geschuldet. Tatsächlich lässt sich kaum ermessen, welchen Schmerz der inzwischen 81 Jahre alte Künstler empfinden muss angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen Osten, die auch alle Früchte seiner jahrzehntelangen Versöhnungsarbeit infrage stellen.

Beim Gastspiel des WEDO im ausverkauften KKL schien das auch seine durchweg verhaltene Sicht auf die Werke zu prägen. Nun ist Barenboim zwar bekannt für getragene Tempi, aber in Luzern wandelte sich dies stellenweise beklemmend in einen Ausdruck von Hoffnungslosigkeit. Der revolutionäre Funke, der normalerweise in Beethovens 7. Sinfonie glüht, wollte nicht zünden. Ein kraftvoll-trotziges «Jetzt erst recht», so typisch für Beethoven, stellte sich kaum ein. Im Violinkonzert von Brahms wiederum war es die Solistin Anne-Sophie Mutter, die der manchmal wie entrückt klingenden Lesart Barenboims feinfühlige Impulse gab.

Ein menschlich berührendes, auch aufwühlendes Konzert, bei dem die Frage nach der Stimmigkeit der Interpretation zweitrangig schien. Vielleicht war man hier sogar Zeuge eines unausgesprochenen Abschieds. So oder so steht das West-Eastern Divan Orchestra vor der brennenden Frage, wer Barenboims Anliegen eines Tages weiterführen könnte. Nur wenige Persönlichkeiten in der Musikwelt verfügen über derart reichhaltige Kontakte zur internationalen Politik und Wirtschaft wie Barenboim. Davon hängt die Zukunft des Projekts ab.

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