Mittwoch, April 23

Der Fünf-Meter-Wagen aus Kalifornien bringt frischen Wind in den Markt der oberklassigen E-SUV. Ob er sich gegen die Konkurrenz aus Europa und China behaupten kann, entscheidet vor allem der Preis.

Ein elektrisches SUV, das aussieht wie eine Kombination aus Sportwagen, Offroader und Kombi, 5 Meter lang, mehr als 800 PS stark und elektrisch mit einer Reichweite von mehr als 700 Kilometern: Wer würde sich ein solches Fahrzeug wie den Lucid Gravity in der Schweiz kaufen? Gar nicht so wenige, wie ein Blick auf die Verkaufszahlen von amerikanischen Exoten wie dem Dodge Durango oder dem Chevrolet Tahoe zeigt: Immerhin 48 dieser Fahrzeuge wurden 2024 individuell in die Schweiz gebracht und neu zugelassen.

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Der Gravity stammt zwar ebenfalls aus den USA, ist aber ein Elektroauto und dürfte in Europa in erster Linie gegen Konkurrenten wie Mercedes EQE SUV oder Tesla Model X antreten. Mit einem Preis von gut 100 000 Franken – er ist noch nicht festgelegt – dürfte der Wagen in Deutschland und der Schweiz preislich näher am Tesla-Siebensitzer als am rund 30 Prozent teureren Mercedes liegen.

Lucid nennt das Model X von Tesla jedoch nicht als seinen Hauptkonkurrenten, sondern eher den Cadillac Escalade in seiner Elektrovariante IQ. Daraus wird ersichtlich, dass sich die noch junge Marke höher positionieren will als Tesla. Dies dürfte nach dem Geschmack des Hauptgeldgebers Public Investment Fund (PIF) sein. Der saudische Staatsfonds erhält den noch nicht besonders erfolgreichen Hersteller immer wieder mit Finanzspritzen am Leben. Zudem gibt es in Saudiarabien ein Lucid-Werk, das die gesamte Fahrzeugproduktion für Europa bewältigen soll.

Im Vergleich zum Tesla Model X sind die Abmessungen des Lucid Gravity ähnlich, doch ist er 2 Zentimeter weniger hoch und bietet mit 3,04 Metern einen 8 Zentimeter längeren Radstand. Was ihn vor allem im Kofferraum deutlich geräumiger macht als seinen amerikanischen Konkurrenten, ist das vertikal gestaltete Heck.

Laderaum in der Grösse eines Lieferwagens

Der Stauraum ergibt damit ein Ladevolumen von gut 3400 Litern, wenn der Gravity in Siebensitzer-Konfiguration verwendet wird. Als Fünfsitzer gewinnt er weitere 140 Liter, und rechnet man den grosszügigen vorderen Kofferraum mit 230 Litern hinzu, bewegt sich das E-SUV im Bereich von Elektro-Vans wie dem VW ID.Buzz. Der Tesla Model X bietet 15 Prozent weniger, der Mercedes EQS SUV gar 40 Prozent weniger Laderaum als der Lucid.

Auch für die Fahrgäste ist das neue E-SUV von Lucid komfortabel ausgelegt. Auffallend ist zunächst die Frontscheibe, die sich bis weit ins Dach erstreckt und für viel Licht im Interieur sorgt. Für alle Passagiere besteht reichlich Platz für Kopf und Beine, die Sitze sind luxuriös gestaltet. Selbst in der dritten Sitzreihe haben Erwachsene in durchschnittlicher Körpergrösse ausreichend Raum – eine Vertiefung hinter den Rücksitzen bietet Platz für die Füsse der ganz hinten Sitzenden. Ein Fliessheck wie beim Tesla Model X war jedoch für die geplante Innenraumnutzung keine Option.

Das Fehlen eines Fliesshecks tut auch der Aerodynamik des Gravity keinen Abbruch. Er ist mit einem Luftwiderstandsbeiwert cW von 0,24 genauso windschlüpfig wie der Tesla. Der Mercedes-Konkurrent verfügt über ein etwas schrägeres Heck als der Lucid, kommt jedoch mit 0,25 nicht ganz an die beiden Amerikaner heran.

Für die Reisenden sorgt das Infotainment-System mit 34-Zoll-Touchscreen für Unterhaltung, doch das Lucid-Betriebssystem UX3.0 hat dank Kameras, Radar und Lidar auch die Fähigkeit, die Umgebung genau zu beobachten und automatisiertes Fahren auf Stufe 2 zu ermöglichen. Beim nächsten Update über die Datenwolke sollen auch automatisierte Spurwechsel auf Autobahnen möglich werden.

Auf ersten Testfahrten mit der derzeit einzig verfügbaren Modellvariante Grand Touring zeigt der Gravity, dass sowohl Antrieb als auch Fahrwerk den physikalischen Anforderungen an ein sportliches Auto mit 2,7 Tonnen Leergewicht gewachsen sind. Der Gravity gibt sich überraschend flink und geschmeidig.

Für die gute Handlichkeit auf kurvigen Strassen und im Stadtverkehr verfügt der Gravity als erstes Lucid-Modell über eine Allradlenkung von Bosch, wie sie auch im Mercedes EQS SUV verbaut ist. Der Allradantrieb wird durch zwei kräftige Elektromotoren aus Lucid-Eigenentwicklung ermöglicht, die insgesamt 617 kW (839 PS) liefern. Der Sprintwert aus dem Stand auf 100 km/h von 3,6 Sekunden – da kommen auch italienische Sportwagen nur mit Mühe heran – liess sich zumindest ansatzweise in der Realität nachvollziehen. Die maximale Anhängelast von 2,7 Tonnen dürfte den Gravity auch als Zugfahrzeug für Pferdeanhänger attraktiv machen. Denn den Wert übertrifft nur ein anderes Elektroauto: der Ford-Pick-up F-150 Lightning.

Fahrwerktechnik von deutschen Zulieferern unterstützt

Auch das Fahrwerk zeigt sich den hohen Ansprüchen an Gewicht und Leistung gewachsen. Eine Luftfederung ist serienmässig an Bord, sie lässt sich in drei Fahrprogrammen genauso voreinstellen wie das Ansprechverhalten der Pedale und der Lenkung. Wank- und Nickbewegungen werden durch adaptive Dämpfer von Bilstein und Elektronik von ZF weitgehend eliminiert, so dass sogar ambitionierte Kurvengeschwindigkeiten bei hoher Spurtreue möglich sind.

Doch nicht nur auf Asphalt, auch im leichten Gelände kann sich der Gravity behaupten. Die Bodenfreiheit lässt sich per Tastendruck stark variieren, bis zu 18 Zentimeter sind für Offroad-Partien möglich. Ein Geländewagen ist der Lucid damit zwar nicht, aber er kommt damit weiter als sein Tesla-Konkurrent.

Bei der Batteriereichweite und der Ladegeschwindigkeit zeigt sich der elektrische Lucid Gravity von seiner souveränen Seite. Noch gibt es keine homologierten Werte nach dem in Europa üblichen WLTP-Messzyklus, doch rechnet man beim Hersteller mit einem deutlich über 700 Kilometer liegenden Wert.

Aufladen lässt sich die Batterie mit einer Nettokapazität von 112 kWh schneller als die meisten Konkurrenten im Segment der elektrischen SUV. Eine maximale Ladeleistung von 400 kW ermöglicht nach dem amerikanischen Messzyklus EPA ein Nachladen von 320 Kilometern Reichweite in knapp 11 Minuten. Und dies ist in Nordamerika auch an Superchargern von Tesla möglich, in Europa noch nicht.

Das könnte sich noch ändern, denn auf die europäischen Märkte – das sind derzeit Norwegen, die Niederlande, Deutschland und die Schweiz – kommt der Lucid Gravity erst Ende 2025, zu den Kunden Anfang 2026. Bis dahin dürfte sich die Konkurrenzsituation im Segment der grossen elektrischen SUV verschärfen, denn auch Hersteller aus China drängen mit grossen Fahrzeugen nach Europa. Und dies dürfte Lucid vor allem bei den Fahrzeugpreisen schmerzen. «Wir werden unsere Preise nicht senken, um mit China-Marken mithalten zu können», sagt Marc Winterhoff, derzeitiger Interim-CEO von Lucid. «Wir konzentrieren uns auf die Qualität unserer Produkte.»

Neue Perspektiven soll die dritte von Lucid geplante Baureihe schaffen, in der ab 2027 Fahrzeuge mit kompakteren Abmessungen unterhalb von 4,70 Metern entstehen sollen. «Wenn wir uns etablieren wollen, müssen wir eine Schwelle der Jahresproduktion von 500 000 Stück der neuen Midsize-Baureihe überschreiten», sagt der Lucid-Chefingenieur Eric Bach. «Das Ziel sind eine Million Fahrzeuge pro Jahr.»

Solche Aussagen sind riskant, denn im ersten Schritt müssen die grösseren Modelle Air und Gravity ihre Käufer finden. Vielleicht müsste Lucid als Newcomer ohne lange Historie doch einmal die Preisstruktur überarbeiten.

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