Mittwoch, Oktober 2

Spionage, Sabotage und noch vieles mehr: Mit der ganzen Klaviatur des Geheimdienstwesens geht das Regime in Moskau gegen den Westen vor. Die Bundesrepublik befindet sich besonders im Fokus.

Ein mutmassliches Mordkomplott gegen den Chef von Rheinmetall, vereitelt angeblich von deutschen und amerikanischen Sicherheitsdiensten. Zwei Russlanddeutsche in Bayern, festgenommen im Frühjahr wegen Sabotageverdachts. Auffallend schnelle Drohnen unbekannter Herkunft, die über Offshore-Anlagen und Chemiefabriken auftauchen und von der Polizei nicht gestellt werden können. Mysteriöse Brände in Unternehmen, die millionenschwere Schäden anrichten. Es sind beunruhigende Nachrichten aus Deutschland, nur vier von vielen allein in diesem Jahr.

Jede von ihnen steht für sich. Doch es gibt etwas, das sie verbindet: Es ist unklar, wer genau dahintersteckt. Wer will Waffentransporte in die Ukraine behindern? Wer steuert Drohnen über deutschen Windparks und dänischen sowie norwegischen Erdgasfeldern im Meer? Wer hat es auf den Rheinmetall-Chef abgesehen?

Bedrohliches ist im Gange

Um diese Fragen beantworten zu können, hilft ein Blick zurück in das Jahr 2013. Damals präsentierte der Generalstabschef Waleri Gerasimow der Staats- und Militärführung in Moskau seine Vorstellungen von «moderner Kriegsführung». Im 21. Jahrhundert, sagte er, gebe es eine Tendenz, die Unterscheidung zwischen Kriegs- und Friedenszustand zu vermischen. Kriege würden nicht mehr erklärt, einmal begonnen, folgten sie nicht mehr altbekannten Mustern. Die Worte haben den Mann auch im Westen bekannt gemacht. Er leitet bis heute den russischen Generalstab.

Die Art des Krieges, von der Gerasimow damals sprach, bezeichnen westliche Nachrichtendienste und Militärs als «hybrid warfare», als hybriden Krieg. «Hybrid» umfasst eine Mischung von offenen und verdeckten Aktionen. Hier wird alles zur Waffe: soziale Netzwerke, korrupte Politiker, Flüchtlinge, Hunger, Atomkraftwerke, nukleare Erpressung oder Offshore-Windparks.

Die hybride Kriegsführung hat viele Gesichter. Russland spioniert, sabotiert und infiltriert im Westen, vor allem aber manipuliert es seit Jahren die Gesellschaften mit Lügen und Falschinformationen. Wie es dabei vorgeht, hat kürzlich das amerikanische Justizministerium offengelegt. Es deckte sein Vorgehen gegen eine grossangelegte russische Geheimdienstoperation auf.

Bei dieser «Doppelgänger-Kampagne» sollen mehrere kremlnahe Unternehmen wie die Social Design Agency und Structura National Technologies über zwei Jahre lang die Websites bekannter Medien imitiert und mit gefälschten Nachrichten bestückt haben. Texte, Fotos und Videos seien vor allem gegen die Ukraine, deutsche Waffenhilfe, die USA und die Nato gerichtet gewesen. Dazu hätten die russischen Fälscher die Websites unter sehr ähnlich wirkenden Adressen (URL) nachgebaut und ihre Inhalte über halbautomatisierte, inzwischen auch von künstlicher Intelligenz unterstützte Social-Media-Profile verbreitet. Nutzer sollten den Eindruck bekommen, sie hätten es mit seriösen Nachrichten zu tun.

Verbindungen zu Putin

Die amerikanischen Behörden haben dazu Anfang September eine Pressemitteilung veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass sie zahlreiche dieser Fake-Sites abgeschaltet und nach eigenen Angaben Beweise gefunden haben, die die russische Führungsspitze mit der Operation in Verbindung bringen sollen. Die Aktionen, heisst es, hätten auf Anweisung der russischen Präsidialverwaltung unter der Leitung von Sergei Kirijenko, einem engen Vertrauten Putins, stattgefunden.

Dass sie durch das Vorgehen der USA vollständig abgestellt wurden, ist nicht anzunehmen. Selbst wenn die Behörden alle bekannten Fake-Websites beseitigt haben, dürfte die Organisation hinter der Kampagne weitermachen. So gab es bereits früher Aktionen etwa der französischen Behörden gegen die «Doppelgänger-Kampagne», ohne dass sie dadurch gestoppt wurde. Wenn Websites einmal abgeschaltet wurden, benötigen die Urheber allerdings einige Zeit, um die nötige Infrastruktur wiederaufzubauen.

Die Hauptziele der Kampagne, so lässt sich der Mitteilung entnehmen, hätten darin bestanden, soziale Spannungen und Verwerfungen in westlichen Ländern zu schüren, sie zu diskreditieren und prorussische Narrative zu verbreiten. Bei alldem sei es darum gegangen, Russlands Position im Ukraine-Krieg zu stärken. Neben den USA habe vor allem Deutschland im Fokus der Kampagne gestanden.

Neben der Pressemitteilung haben die amerikanischen Behörden auch Dokumente ins Netz gestellt, die Russlands Rolle hinter der «Doppelgänger-Kampagne» belegen sollen. Laut ihnen hat die Kampagne in Deutschland das Ziel gehabt, die Bevölkerung etwa von der Ineffizienz der Sanktionen gegen Russland zu überzeugen und davon, dass die USA hinter dem Krieg in der Ukraine steckten.

Dazu entwarfen die Kreml-Propagandisten offenbar auch verschiedene Szenarien, die ihnen für eine Beeinflussung der deutschen Öffentlichkeit besonders geeignet zu sein scheinen. So heisst es, man könnte Kritik ukrainischer Flüchtlinge an ihrer Unterbringung in Deutschland schüren, um anschliessend durch gezielte Fake-Kommentare in sozialen Netzwerken einen Konflikt mit den Deutschen anzuheizen. Flüchtlinge als Waffe – auch das gehört zum Instrumentarium hybrider Angriffe.

Es gibt viele Beispiele dafür, etwa ein Tiktok-Video aus dem März 2022. Darin berichtet eine Frau auf Russisch, ein 16-jähriger russischsprachiger Flüchtlingshelfer sei in Euskirchen bei Köln von ukrainischen Flüchtlingen verprügelt worden und später seinen Verletzungen erlegen. Die zuständige Polizeibehörde in Bonn sah sich daraufhin zu einer Richtigstellung genötigt: Es handle sich um ein Fake-Video, das Hass schüren solle.

Das Bild von Märtyrern schaffen

In einem anderen Szenario taucht auch die AfD auf. Die Rede ist von einem «inszenierten Putsch», in dessen Folge «die Bundesregierung» mit Repressionen gegen die in Teilen rechtsradikale Partei agiere. «Mit allen Mitteln unterstützen wir die Partei, indem wir das Bild von Märtyrern schaffen, die für die Demokratie und Deutschlands nationale Interessen leiden», heisst es. Die AfD also eine Marionette Moskaus? Die NZZ bat die Partei um eine Stellungnahme zu der sie betreffenden Passage in den Dokumenten. Doch die Pressestelle reagierte nicht.

In einem gemeinsamen Artikel in der «Financial Times» Anfang September attestierten die Chefs des britischen und des amerikanischen Auslandgeheimdienstes Russland einen «zynischen Einsatz von Technologie, um Lügen und Desinformation zu verbreiten, die darauf abzielen, uns gegeneinander auszuspielen». Die Nato nennt die russischen hybriden Aktivitäten «eine Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten». In einer Mitteilung Anfang Mai führte sie auf, worin das russische Vorgehen bestehe. Neben Desinformationskampagnen seien das vor allem Sabotage, Gewaltakte, Cyberangriffe und elektronische Störungen sowie andere Operationen, kurzum die gesamte Klaviatur des Geheimdienstwesens.

Der Westen als Feindbild

Die hybride Strategie Russlands gegen den Westen dürfte ihre Wurzeln im Jahr 2007 haben. Damals erklärte Putin an der Sicherheitskonferenz in München, dass «für die moderne Welt ein unipolares Modell, das von westlichen Ländern dominiert wird, nicht nur inakzeptabel, sondern sogar unmöglich ist». Sieben Jahre später unterzeichnete er die neue russische Militärdoktrin, ausgerichtet an den Vorstellungen, die General Gerasimow ein Jahr zuvor präsentiert hatte.

Gegen wen sie sich primär wendet, das gibt Putin seitdem immer wieder zu verstehen. Letztmals sprach er am 20. August dieses Jahres darüber, als er anlässlich des 20. Jahrestages der Geiselnahme an einer Schule nach Beslan gekommen war. Damals hatten tschetschenische Terroristen Hunderte Kinder und Lehrer in ihre Gewalt gebracht. Bei der Stürmung der Schule durch russische Sicherheitskräfte starben nicht nur die Kidnapper, sondern auch mehr als 300 Geiseln.

«Die Feinde von damals versuchen auch heute, unser Land ins Wanken zu bringen», sagte Putin nun am Ort der Katastrophe. Er implizierte damit, dass hinter der Geiselnahme von damals der Westen und die USA standen. Sie sind es, mit denen sich das Regime in Moskau heute im Konflikt sieht.

Diese Art von Geschichtsumdeutung verfängt in Putins Russland. Der Westen wird als Feindbild aufgebaut und die Ukraine als sein Vasall. Damit wird der Krieg im Nachbarland zur legitimen Abwehr einer äusseren Bedrohung und die einstweilen noch verdeckte Bekämpfung ihrer Unterstützer zum «Grossen Vaterländischen Krieg» stilisiert. Es sei ein «Überlebenskampf» des russischen Volkes.

Das Feld für eine grosse Auseinandersetzung

Es gibt etliche Stimmen im Westen, die davor warnen, dass Russland eine grosse Auseinandersetzung vorbereite. Dazu gehören Politiker wie Roderich Kiesewetter von der CDU, Wissenschafter wie die Russland-Expertin Franziska Davies und der Militärhistoriker Markus Reisner von der österreichischen Militärakademie. Sie alle zeigen sich besorgt über den Aufwuchs der russischen Armee und die Produktion von Waffen, die weit über den Bedarf in der Ukraine hinausgehe. Zudem, so warnt Kiesewetter, wandle Russland besetzte Gebiete in Militärbasen um und rücke auf diese Weise immer näher an Nato-Gebiet heran.

Hybride Kriege werden nicht erklärt. Sie finden in Medien, in sozialen Netzwerken, gesellschaftlichen Bewegungen, politischen Parteien und in den Köpfen der Menschen statt. Sie haben keinen Anfang und kein Ende. Gemäss der russischen Militärdoktrin beginnt der Krieg nicht mit einer Invasion von Truppen, sondern mit Aktionen aus dem Hintergrund.

Der Westen, sagt der Militärhistoriker und Ukraine-Fachmann Reisner im Gespräch, müsse sich diese Realität endlich klarmachen. «Was wir gerade sehen, ist das Bemühen Russlands, mit Massnahmen knapp unterhalb der Schwelle zu konkreter militärischer Gewalt den Boden für den nächsten Krieg zu bereiten.»

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