Das Gros der Börsen notiert klar höher als zum Jahresbeginn. Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden brasilianische Valoren, die 2024 schon fast 10% eingebüsst haben. Was steckt hinter der Schwäche – und ist eine Trendwende absehbar?
Die Stimmung unter den Marktteilnehmern bleibt konstruktiv. Obschon die zum Jahresbeginn erhofften Leitzinssenkungen durch die US-Notenbank Fed immer weiter in die Zukunft verschoben werden, zeigen die meisten Aktienindizes seit Jahresbeginn eine ansprechende Kursavance.
Die Verheissungen der künstlichen Intelligenz sorgen für frische Impulse, während die befürchtete Rezession auf sich warten lässt. Prominenter Ausreisser in der allgemeinen Hausse ist Brasiliens Börse mit einem Minus von nahezu 10%.
In Franken oder Dollar gerechnet fällt der Rückschlag sogar noch stärker aus, hat der Real in den vergangenen Monaten doch ebenfalls spürbar ein Terrain eingebüsst. Zum Franken notiert er auf dem niedrigsten Stand seit mehr als zwei Jahren. Was sind die Gründe für das enttäuschende Abschneiden brasilianischer Vermögenswerte?
It’s the politics, stupid!
Vor kurzem hatte alles so gut ausgesehen: Die hohe Nachfrage nach Rohstoffen, die umsichtige Geldpolitik der brasilianischen Notenbank und die soeben verabschiedete Steuerreform, die das notorisch komplexe System vereinfacht hat und für Effizienzgewinne in der Wirtschaft sorgen sollte, lösten unter den Marktteilnehmern Zuversicht aus. 2023 gehörten brasilianische Vermögenswerte denn auch zu den stärksten der Welt.
In den vergangenen Monaten machte sich jedoch zunehmend Ernüchterung breit. Für Verunsicherung sorgte unter anderem die zunehmende Einflussnahme der neuen Regierung bei Grosskonzernen wie Petrobras (Energie) und Vale (Bergbau). Der im Oktober 2022 wieder gewählte Luiz Inácio Lula da Silva ruft unter Investoren Nervosität hervor. Lula war zwischen 2003 und 2010 bereits für zwei Amtszeiten Präsident Brasiliens, wurde dann aber der Korruption beschuldigt. Er verbüsste eine Haftstrafe wegen Bestechung, bevor seine Verurteilung Anfang 2021 vom Obersten Gerichtshof aus formalen Gründen aufgehoben wurde.
Schien der konservative Kongress zu Beginn einen stabilisierenden Gegenpol zu Lula bilden zu können, mehren sich die Signale eines Rückfalls in überwunden geglaubte Zeiten der staatlichen Einflussnahme.
So entliess Luis Inácio Lula da Silva Mitte Mai den CEO des Ölgiganten Petrobras, Jean Paul Prates. Seine Nachfolgerin wurde Magda Chambriard, die frühere Leiterin der brasilianischen Öl- und Gasregulierungsbehörde ANP.
Kein Freund der Marktwirtschaft
Auslöser für den Führungswechsel war offenbar Prates’ Entscheidung, den Petrobras-Aktionären eine ausserordentliche Dividende von insgesamt 4,3 Mrd. $ auszuschütten. Lulas Regierung hätte es bevorzugt, das Geld im Land zu investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen – und um seine Popularität zu erhöhen. Auch beim Bergbaukonzern Vale soll die Regierung Druck ausgeübt haben, den CEO durch eine ihr genehme Person zu ersetzen, was von offizieller Seite jedoch dementiert wurde.
Vor wenigen Tagen, bei der Amtseinführung der neuen Petrobras-Chefin, beklagte Lula zudem erneut die Privatisierung von Eletrobras und Vale und meinte, diese Unternehmen erfüllten «keine sozialen Aufgaben». Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Marktbeobachter befürchten, Lula werde die erfolgreichen Grosskonzerne wie schon in seiner früheren Amtszeit wiederum als Instrument für eine staatliche Industriepolitik verwenden – auf Kosten der Aktionäre.
Vor diesem Hintergrund haben sich die Aktien von Vale und Petrobras in den vergangenen Monaten schleppend entwickelt.
«Big Spender» Lula
Hinzu kommt die wachsende Besorgnis der Investoren über die Entwicklung der Staatsfinanzen. Statt dass die stetig steigenden Ausgaben in Frage gestellt würden, soll der wachsende Finanzbedarf durch zusätzliche Steuereinnahmen gedeckt werden. Doch Finanzminister Fernando Haddad und die Ministerin für Planung und Budget Simone Tebet haben sich zuletzt für Ausgabenkürzungen ausgesprochen.
Denn die Reduktion des erwarteten Haushaltsüberschusses für 2025 und 2026 auf null beziehungsweise +0,25% des Bruttoinlandprodukts von zuvor +0,5 bzw. +1% vor einigen Monaten wurde von den Anlegern ungnädig aufgenommen. Mittlerweile ist fraglich, ob ein ausgeglichener Haushalt erreicht werden kann, zumal die Regierung vor den Kommunalwahlen im Oktober kaum Interesse an Sparmassnahmen haben dürfte. Die verheerenden Überschwemmungen im Gliedstaat Rio Grande do Sul belasten den Staatshaushalt zusätzlich.
Die Kostenreduktion ist indes ein schwieriges Unterfangen. Gemäss dem Analysehaus TS Lombard schreibt etwa die brasilianische Verfassung vor, dass die Regierung 18 bzw. 15% ihrer jährlichen Nettoeinnahmen zwingend für Bildung und Gesundheit ausgeben muss. Höhere Staatseinnahmen führen damit unweigerlich zu höheren Ausgaben. Zudem ist in der Verfassung festgelegt, dass die Rentenzahlungen mindestens mit dem Mindestlohn wachsen müssen. Dieser wurde zuletzt im Januar angehoben.
Finanzminister Fernando Haddad hat vorgeschlagen, den Anstieg für die Gesundheits- und die Bildungsausgaben auf 2,5 Prozentpunkte über der Inflation zu begrenzen, womit die Regierung von 2025 bis 2030 rund 500 Mrd. Real (ca. 83 Mrd. Fr.) sparen würde. Ein weiterer Vorschlag ist, die Renten nicht mehr an den Mindestlohn, sondern an die Inflation anzupassen, was in den nächsten zehn Jahren zu Einsparungen von 400 Mio. Real (rund 67 Mio. Fr.) führen soll. Der Widerstand gegen solche Massnahmen ist indes beträchtlich, Präsident Lula ist vorderhand nicht gewillt, bei den Sozialausgaben Abstriche zu machen. Immerhin scheint aber auch er erkannt zu haben, dass die Staatsausgaben gekürzt werden müssen.
Denn ohne Gegensteuer wird die für ein Schwellenland bereits relativ hohe Staatsverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung nach Angaben des Internationalen Währungsfonds in den kommenden Jahren weiter steigen.
Keine Leitzinssenkungen mehr in diesem Jahr?
Die Staatsausgaben sorgen auch für Inflationsdruck, weshalb die Banco Central do Brasil den Leitzins an ihrer jüngsten Sitzung unverändert belassen hat. Am Markt setzt sich langsam die Erwartung durch, dass es 2024 zu keinen weiteren Lockerungsmassnahmen kommen wird. Noch zum Jahreswechsel waren sich die Ökonomen weitgehend einig, dass die Zinsen deutlich fallen werden. Das Londoner Analysehaus Capital Economics prognostizierte bis Ende 2024 einen Leitzins von 9,5%, die Ökonomen von UBS sahen den Leitzins gar bei 9%.
Zwar senkte die Banco Central do Brasil den Selic-Satz in diesem Jahr tatsächlich von 11,75 auf derzeit 10,5%. Doch der wiederaufflammende Inflationsdruck und die steigenden Inflationserwartungen bereiten ihr offensichtlich Sorgen.
Die Jahresveränderung der Konsumentenpreise kletterte im Mai um 24 Basispunkte auf 3,93%, womit der siebenmonatige Abwärtstrend stoppte. Mit ein Grund waren die Überschwemmungen in Rio Grande do Sul, die vor allem die Lebensmittelpreise steigen liessen. Die Währungshüter haben ihre Inflationsprognosen für Ende Jahr (von 3,8 auf 4%) und für Ende 2025 (von 3,3 auf 3,4%) nach oben korrigiert.
Wie in den USA werden die Zinssenkungen also nach hinten verschoben. Capital Economics rechnet nun per Ende 2025 mit einem Leitzins von 9,5%, Dev Ashish und Bertrand Delgado von Société Générale prognostizieren 9%. Entsprechend ungnädig reagierte die Börse.
Konjunktur: Der Binnenkonsum übernimmt
Ein positiver Treiber des wieder anziehenden Teuerungsdrucks ist der robuste Konsum. Einerseits wirkt die Anhebung des Mindestlohns – und dadurch auch der Renten – stimulierend, zudem wurde der Termin für die Auszahlung des Jahresendbonus für Rentner (des décimo terceiro) auf das zweite Quartal vorgezogen. Nach Schätzungen der Regierung dürfe das der Wirtschaft in der ersten Jahreshälfte neue Konsumausgaben in Höhe von rund 67 Mrd. Real (11 Mrd. Fr.) bescheren.
Der Arbeitsmarkt ist ebenfalls in guter Verfassung. Im April lag die Arbeitslosenquote bei 7,5%, was einem Rückgang um 0,4 Prozentpunkte gegenüber dem März entspricht. Nur ein Mal in den vergangenen neun Jahren – im Dezember 2023 – war die Arbeitslosigkeit niedriger als heute.
Die Ökonomen von TS Lombard erwarten für das laufende Jahr ein reales BIP-Wachstum von 2%. Auch die Weltbank prognostiziert in ihrem jüngsten «Global Economic Prospects»-Report eine Expansion von 2%. «Die Projektion für 2024 spiegelt sowohl eine Verschiebung der Konjunkturabschwächung in die zweite Jahreshälfte 2023 als auch eine schwächere landwirtschaftliche Ernte in diesem Jahr», so die Experten der Weltbank. 2025 sollte sich das Wachstum, unterstützt durch weitere Zinssenkungen, auf 2,2% beschleunigen.
Gedrückte Aktienbewertung
Immerhin: Aufgrund der schwachen Performance in den vergangenen Monaten bestechen brasilianische Aktien durch eine unüblich attraktive Bewertung. So erreicht die erwartete Dividendenrendite auf die im MSCI Brazil enthaltenen Unternehmen rund 7,5%, das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis beläuft sich auf niedrige 7,1.
Dieser positive Eindruck wird in der regelmässig von The Market ermittelten Bewertungsübersicht bestätigt. So erfuhr Brasilien im jüngsten Vergleich vom April die grösste Bewertungskontraktion – und seither sind die Valoren nochmals günstiger geworden.
Erreichte der MSCI Brazil vor zwei Monaten das bereits attraktive 24. Perzentil, notiert es jetzt auf dem 18. Perzentil. Zur Erinnerung: Das von The Market konstruierte Bewertungsmass umfasst fünf Bewertungskennzahlen und kann Werte von 0 (extrem günstig) bis 100 (so teuer wie nie) annehmen. Derzeit gehören brasilianische Titel im Vergleich zur eigenen Historie zu den günstigsten überhaupt und preisen einiges an negativen Nachrichten ein.
Auf lange Frist versprechen brasilianische Valoren demnach eine durchaus ansprechende Rendite. Zumal das Land von seinen diversifizierten Rohstoffexporten profitiert; es führt unter anderem Eisenerz, Sojabohnen, Rinder sowie Öl aus und gehört zu den grössten Nahrungsmittelexporteuren der Welt. Geografisch ist es zudem weit weg von den derzeitigen grossen Krisenherden.
Vorderhand belasten allerdings die Politik und die hartnäckigere Inflation, die weitere Zinssenkungen verzögert. Und solange die Euphorie um künstliche Intelligenz und um Wachstumsaktien anhält, dürften brasilianische Titel ebenfalls einen schweren Stand haben.
Im MSCI Brazil kommt der IT-Sektor derzeit auf ein Gewicht von aufgerundet gerade einmal 1%. Finanz, Energie und Grundstoffe stellen zusammen rund zwei Drittel des Index. Brasilien dürfte dann Rückenwind erfahren, wenn es zu einer Rotation in Value-Aktien kommt.
Mit welchen ETF investieren
Wer in brasilianische Aktien investieren möchte, kann dies z. B. mit den folgenden, an der SIX kotierten Instrumenten tun. Sie alle replizieren den zugrundeliegenden Index vollständig (physische Replikation):
- Franklin FTSE Brazil, Ticker: FLXB SE, ISIN: IE00BHZRQY00, Währung: US-Dollar, TER: 0,19%, ausschüttend,
- iShares MSCI Brazil, Ticker: 4BRZ SE, ISIN: DE000A0Q4R85, Währung: US-Dollar, TER: 0,28%, thesaurierend,
- iShares MSCI Brazil, Ticker: IBZL SE, ISIN: IE00B0M63516, Währung: US-Dollar, 0,74%, ausschüttend.
Die folgenden ETF setzen auf eine synthetische Replikation:
- Lyxor MSCI Brazil, Ticker: LYRIO SE, ISIN: LU1900066207, Währung: Euro, TER: 0,65%, thesaurierend,
- Xtrackers MSCI Brazil, Ticker: XMBR SE, ISIN: LU0292109344, Währung: US-Dollar, TER: 0,7%, ausschüttend,
- Amundi MSCI Brazil, Ticker: BRZ SE, ISIN: LU1437024992, Währung: US-Dollar, TER: 0,55%, ausschüttend.