Eine spektakuläre Polizeiaktion gegen die sizilianische Mafia wirft beunruhigende Fragen auf.
«Die Cosa Nostra lebt und ist präsent», sagte Maurizio de Lucia, der zuständige Chefermittler, am Dienstagvormittag bei einer Medienkonferenz in Palermo. In der Nacht zuvor hatten seine Beamten zugeschlagen und nach zwei Jahren Ermittlungsarbeit über 180 mutmassliche Mafia-Angehörige festgenommen. Der «Maxi-Blitz», wie man solche Aktionen in Italien nennt, erinnert an die grossen Polizeioperationen der 1980er Jahre, auf welche die blutigen Racheanschläge der Cosa Nostra folgten, denen 1992 unter anderen die beiden berühmten Mafia-Jäger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zum Opfer fielen.
Den jetzt Festgenommenen werden Zugehörigkeit zur Mafia, versuchter Mord, Schutzgelderpressung, Drogenhandel, illegales Glücksspiel, Waffendelikte sowie weitere Straftaten vorgeworfen. Über 1200 Carabinieri waren an der Aktion beteiligt.
Laut Medienberichten bestand das Ziel der Operation darin, die Reorganisation der Cosa Nostra und insbesondere den Wiederaufbau der sogenannten Cupola zu stoppen. Die Cupola ist das sagenumwobene Führungsgremium der sizilianischen Mafia. Wie die Ermittler aufzeigten, griffen die Mafiosi bei ihren Versuchen, die alte Ordnung wiederherzustellen, zu modernsten technischen Mitteln. Unter anderem verwendeten sie abhörsichere Krypto-Handys, um miteinander zu kommunizieren. Selbst in Hochsicherheitsgefängnissen inhaftierten Mafia-Bossen gelang es damit und mittels eingeschleuster Mikro-SIM-Karten, mit der Aussenwelt zu kommunizieren und Anweisungen zu geben.
«Die Hochsicherheitsgefängnisse sind in der Hand der Kriminalität», sagte der oberste Mafia-Jäger Italiens, Giovanni Melillo, bei der Medienkonferenz in Palermo. Wer nicht dem sogenannten «41bis» unterworfen sei, einem nach einem entsprechenden Gesetzesartikel benannten, besonders strengen und in Europa einzigartigen Haftregime, finde Mittel und Wege, um mit seinen Komplizen in Kontakt zu treten. Einer der inhaftierten Mafia-Bosse konnte mittels Videokonferenz sogar aus der Zelle mitverfolgen, wie eine von ihm bezeichnete Zielperson verprügelt wurde.
Chamäleon statt Blutsauger
Allerdings unterlaufen auch der derart hochgerüsteten Mafia Fehler –Ungeschicklichkeiten, die zum Steilpass für die Ermittler werden. Als wegen einer technischen Störung eines der Krypto-Handys ausfiel und ein verschlüsselter Chat neu aufgesetzt werden musste, nannten die Mafiosi die Namen der daran Beteiligten laut und vernehmlich, so dass eine von den Ermittlern installierte Wanze die Gespräche aufzeichnen konnte. Auf diese Weise gelang es offenbar, die Identität von mehreren nun verhafteten Personen zu rekonstruieren.
Jenseits solcher kriminologischer Details wirft die Aktion aber einige beunruhigende Fragen auf. Ist die sizilianische Mafia stärker, als man gemeinhin vermutet hat? Kehrt die Cosa Nostra, wie man sie von früher kannte, zurück? «Der Maxi-Blitz von Palermo erzählt von einer Cosa Nostra, die zurück will ins Jahr 1981, als die Corleonesi zur dominierenden Kraft wurden», schreibt Roberto Saviano im «Corriere della Sera». Saviano wurde mit seinem Buch «Gomorrha», in dem er die Machenschaften der neapolitanischen Mafia aufzeigte, weltberühmt. Er kennt auch die Cosa Nostra gut.
Nach der spektakulären Verhaftung von Matteo Messina Denaro vor ziemlich genau zwei Jahren glaubten viele, damit sei der Todesstoss der Cosa Nostra alten Zuschnitts erfolgt. Messina Denaro galt als der «letzte der Bosse». Er war der Ziehsohn von Totò Riina, dem gefürchteten Oberhaupt der Corleonesi und obersten Gebieter über die sizilianische Mafia.
Mafia-Kenner warnten allerdings schon damals vor voreiligen Schlüssen. «Üblicherweise verwendet man das Bild eines Blutsaugers, um die Mafia zu beschreiben», sagt Carlo Caselli, früherer Chef der Palermitaner Staatsanwaltschaft in der «Repubblica», «aber eigentlich ist sie ein Chamäleon. Die Cosa Nostra passt sich laufend an die Umstände an und ist stets bereit, die Möglichkeiten zu nutzen, die ihr der Markt gerade bietet.»
Das Bild, das sich nun nach dem Maxi-Blitz von Palermo zeigt, scheint Caselli zu bestätigen. Die Cosa Nostra operiert zwar weniger blutig und gewalttätig als zu den Zeiten Riinas. Sie steht zudem im Schatten der mittlerweile bedeutenderen kalabrischen ‘Ndrangheta. Aber sie ist äusserst wendig und findet immer wieder lukrative Geschäftsfelder, illegale Online-Glücksspiele etwa. Gleichzeitig bleibt sie auch in den angestammten Bereichen aktiv: im Drogenhandel oder in der Schutzgelderpressung.
«Lust auf die Mafia»
Und sie profitiert von ihrem eigenen Mythos. «La voglia di mafia», nennt Anna Sergi dieses Phänomen, zu Deutsch: Lust auf die Mafia. Sergi stammt aus Kalabrien und lehrt in Grossbritannien Kriminologie. Sie ist spezialisiert auf organisiertes Verbrechen und die Mafia.
Die Cosa Nostra übe noch immer eine grosse Anziehungskraft auf die Bevölkerung aus, sagt sie. «Voglia di mafia» bedeute das Verlangen nach Sicherheit, ein Verlangen nach Schutz in einer zunehmend unsicheren Welt. Es sei dieser gleichsam subkulturelle Antrieb, der die Mafia am Leben erhalte, und dies sei auch der Grund, weshalb nun eine neue Generation von Mafiosi die alte Ordnung wieder herstellen wolle.
Es ist ein Konservativismus der besonderen Art. Für Roberto Saviano zeigt er sich in der Sehnsucht nach den überlieferten Codes, im Glauben an die Möglichkeit, nicht nur Drogenhändler zu sein, sondern ein Leben eines Ehrenmannes zu führen, die Wirtschaft zu seinen Gunsten zu nutzen und den Lauf der Dinge zu bestimmen.