Brasiliens Richter und Staatsanwälte gönnen sich grosse Privilegien und bleiben dennoch anfällig für Korruption. Das schwächt das Ansehen der Justiz und das Vertrauen in die Demokratie.
Man stelle sich folgendes Szenario in der Schweiz vor: Ein Richter des Bundesgerichts lädt einmal im Jahr zu einem grossen Juristentreffen in ein Luxusresort in der Karibik ein. Eingeladen sind nicht nur das halbe Gericht sowie mehrere Dutzend bedeutende Anwälte, sondern auch Politiker, Regierungsräte und hohe Beamte. Gesponsert wird die mehrtägige Veranstaltung von Unternehmen, die Mandanten der Anwälte sind oder deren Fälle gerade vor Gericht verhandelt werden.
Genau das geschieht in Brasilien jedes Jahr, wenn Gilmar Mendes vom Supremo Tribunal Federal (STF), dem Obersten Gerichtshof Brasiliens, zu einer Veranstaltung nach Portugal einlädt. Mendes ist der Dekan des Gerichts, also der amtsälteste Richter. Der 69-Jährige hat in Münster promoviert. Er ist die graue Eminenz der brasilianischen Justiz. Beim mittlerweile 12. Rechtsforum im Juni traten 300 Referenten auf. 2000 Teilnehmer wurden erwartet. Mitveranstalter ist die Universität Instituto Brasileiro de Ensino, Desenvolvimento e Pesquisa, die Mendes und seiner Familie gehört.
Die Richter werden von ihren Angeklagten eingeladen
Was sich die Sponsoren die Apéros und exklusiven Dinner kosten lassen, lässt sich nicht ermitteln. Aber Abgeordnete, Senatoren und hohe Beamte bekommen Reisekosten und Spesen vom Staat erstattet. Einige der hohen Juristen reisen zudem mit Bodyguards an – auf Staatskosten, versteht sich.
Als «grosses Lobbytreffen» kritisiert Conrado Hübner, Professor für öffentliches Recht an der Universität São Paulo, die Veranstaltung. Der Oberste Gerichtshof verteidigt sich in einer knappen Stellungnahme damit, dass dem Gericht durch die Veranstaltung keine Kosten entstünden. Mit anderen Worten: Die Staatsanwälte und Richter werden offiziell von jenen eingeladen, die sie gerade anklagen oder verurteilen.
Bedenken wegen Vorteilsnahme gibt es bei den obersten Richtern nicht. Man spreche mit allen Teilen der Gesellschaft, verteidigte der Richter Luís Roberto Barroso die Veranstaltung. In Lissabon seien eben die Unternehmer an der Reihe.
60 Tage Ferien wegen aussergewöhnlichen Stresses
Bruno Carazza, selbst Jurist und Ökonom, hat lange im Staatsdienst gearbeitet. Jetzt hat er ein Buch veröffentlicht: «Das Land der Privilegien» heisst der erste Band, zwei weitere sollen folgen. Er sagt, dass die Selbstbedienungsmentalität nicht nur dem Ansehen der Justiz schade – sondern der Demokratie insgesamt.
Denn der Oberste Gerichtshof hat sich in jüngerer Zeit als Garant der Demokratie erwiesen. Sowohl bei den Versuchen des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, die Wahlen 2022 für illegal zu erklären, als auch beim Sturm seiner Anhänger auf das Regierungsviertel nach der verlorenen Wahl spielte das STF eine wichtige Rolle. Doch Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme machen das Gericht angreifbar.
Carazza beschreibt minuziös, wie Richter und Staatsanwälte in den 36 Jahren der brasilianischen Demokratie zu einer Beamtenelite aufgestiegen sind, die sich Spitzengehälter und Privilegien leistet wie einst am portugiesischen Hof.
So haben Juristen im Staatsdienst 60 Tage Ferien im Jahr, doppelt so viel wie die brasilianischen Arbeitnehmer. Die Magistraten, wie die Juristen im Staatsdienst genannt werden, rechtfertigen dies mit der aussergewöhnlichen Belastung. Doch der Stress hält die meisten der 30 000 Richter und Staatsanwälte nicht davon ab, einen grossen Teil ihrer Ferien zu «verkaufen». Statt Ferien zu nehmen, arbeiten sie weiter, bekommen also ihr Feriengeld plus das normale Gehalt und zusätzlich noch ein Drittel des Gehalts als Ferienzuschlag. Und das alles steuerfrei.
Wegen der vielen Ferienzeiten müssen sich die Kolleginnen und Kollegen oft gegenseitig vertreten. Dann haben sie Anspruch auf eine Gehaltserhöhung von einem Drittel. Richter erhalten Zulagen für Wohnung, Verpflegung, Transport, Kleidung, Beerdigung, Zahnbehandlung. Die in Brasilien teure private Gesundheitsvorsorge für die ganze Familie ist selbstverständlich eingeschlossen. Den Töchtern und Söhnen werden der Kindergarten, die Schule und die Universität bis zum Alter von 24 Jahren bezahlt.
10 000 Franken für Schmuck und Schuhe sind zu wenig
Vor drei Jahren verdonnerte der Rechnungshof die Justiz dazu, alle existierenden Beihilfen aufzulisten. Das Resultat war eine Aufstellung von 68 Subventionen, Unterstützungsgeldern und Entschädigungen.
Der Wildwuchs ist darauf zurückzuführen, dass die Obergrenze des Gehalts für einen Staatsangestellten per Gesetz auf der Höhe des Gehalts am Obersten Gerichtshofs gedeckelt ist. Niemand darf mehr verdienen als ein Richter am Obersten Gericht. Das sind umgerechnet etwa 7000 Franken pro Monat – bei einem Durchschnittseinkommen in Brasilien von rund 300 Franken.
Aber für die meisten ist das nicht genug. Kürzlich beklagte sich eine Staatsanwältin, dass sie von ihrem Gehalt gerade einmal Schmuck und Schuhe kaufen könne. Sie sei auf das Einkommen ihres Mannes angewiesen, um ihren Lebensstandard halten zu können.
Richter und Staatsanwälte erfinden immer neue steuerfreie Sonderzulagen, die wie Gehaltserhöhungen wirken. Die Folge: 93 Prozent der Richter und Staatsanwälte verdienten 2023 mehr als offiziell ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs.
Die Selbstbedienungsmentalität der juristischen Elite führt dazu, dass Brasiliens Justiz im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt mehr als fünfmal so viel kostet wie in der Schweiz. In Brasilien betragen die Kosten laut dem Statistikamt 1,6 Prozent des BIP, in der Schweiz laut der European Commission for the Efficiency of Justice des Europarates nur 0,28 Prozent.
Seit Lava-Jato herrscht in der Justiz Goldgräberstimmung
«Um ihre Interessen zu verteidigen, agieren die Juristen wie ein Kartell», sagt Carazza. Das bekommt Bruno Brandão von der Nichtregierungsorganisation Transparency International (TI) in Brasilien hautnah mit. Immer wieder versuchen Gerichte, der Organisation Knüppel zwischen die Beine zu werfen. «Unsere Anwaltskosten machen einen wachsenden Teil unseres Budgets aus», meint Brandão, der auch Vorstandsmitglied von TI ist. Die Organisation ist in 110 Ländern vertreten. Es sei nicht ungewöhnlich, dass sich Autoritäten gegen die Anti-Korruptions-Arbeit von TI wehrten. «Aber es kommt selten vor, dass dies durch hochrangige Justizbehörden geschieht, und wenn, dann nur in autoritären Ländern.»
Richter und Staatsanwälte wehren sich hartnäckig, wenn ihnen jemand auf die Finger schauen will. Brandão schlägt ein Treffen mit uns in einem kleinen Café in São Paulo vor, wo schnell auffiele, wenn ihm jemand folgt. Misstrauisch beäugt er jeden, der sich in die Nähe setzt.
Der Korruptionsskandal Lava-Jato habe die Justiz in Brasilien verändert, sagt er. «In der Justiz herrscht Goldgräberstimmung.» In den Skandal waren grosse Baukonzerne, der staatliche Ölkonzern Petrobras und zahlreiche Politiker verwickelt. Ab 2014 profitierten die Anwälte von der Prozesslawine gegen ihre Mandanten, die wegen Korruption angeklagt waren. Viele von diesen zeigten sich geständig und sagten als Kronzeugen aus.
Zunächst unterstützten die Richter in Brasilia die Korruptionsermittlungen der Behörden im Fall Lava Jato. Doch dann begannen in den ersten Vergleichsverhandlungen auch Richter des Obersten Gerichtshofs auf den Listen korrupter Unternehmer als Begünstigte aufzutauchen. Als sie plötzlich selbst zur Zielscheibe von Ermittlungen wurden, blockierten sie diese. Und dann hob der Oberste Gerichtshof die Urteile auf – mit fadenscheinigen Argumenten und trotz soliden Beweisen und Geständnissen aller Beteiligten.
Die Richter sind zu einer unantastbaren Kaste geworden
Seitdem ist das Geschäft für Anwälte besonders lukrativ geworden. Bei den aufgehobenen Milliardenstrafen werden Erfolgsbeteiligungen bezahlt. Da kämen für die beteiligten Kanzleien schnell Honorare in dreistelliger Millionenhöhe zusammen, sagt Brandão.
Davon profitieren auch einige Richter und Staatsanwälte. Die Elite der brasilianischen Justiz, die an denselben Universitäten studiert hat und denselben sozialen Gruppen angehört, kennt sich untereinander. Sie alle wissen, welche Ehepartner, Kinder oder Verwandten von Richtern des Obersten Gerichtshofs als Anwälte in Kanzleien arbeiten, deren Fälle vor den höheren Gerichten verhandelt werden. Es ist also kaum möglich, zu beweisen, dass der Richter korrupt ist, aber seine Familie von den Urteilen profitiert.
Diese Vetternwirtschaft sei inzwischen alltäglich geworden, beobachtet ein einflussreicher Wirtschaftsanwalt in São Paulo, der namentlich nicht genannt werden möchte. «Das Selbstverständnis der Justiz als einer unantastbaren Kaste nimmt rapide zu.»
So fand es etwa der oberste Richter Ricardo Lewandowski völlig normal, dass er wenige Tage nach seiner Pensionierung von der Holding J&F als juristischer Berater angeheuert wurde. Diese hat den Obersten Gerichtshof über Jahre immer wieder wegen Korruptionsfällen beschäftigt. Ein Jahr später ist Lewandowski wieder zurück im Staatsdienst. Seit Februar ist er Justizminister der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Der ehemalige Arbeiterführer hat inzwischen auch seinen persönlichen Anwalt Cristiano Zanin Martins zum obersten Richter ernannt.
Das Problem sei, dass niemand die Richter kontrolliere, sagt Brandão. Die eigens zur Kontrolle geschaffenen Richterräte hätten sich zu Interessenverbänden der Justizelite entwickelt.