Samstag, April 19

Ein Szenario und seine Geschichte.

Dieser Spitzenplatz kam unverhofft für Luzern, selbst im Regierungsrat war man überrascht. Kein anderer Kanton werde in den nächsten dreissig Jahren so stark wachsen, die Bevölkerung von Luzern vergrössere sich um über ein Drittel, um zusätzliche 150 000 Personen bis ins Jahr 2055 und also um mehr als einen ganzen Kanton Zug. So lautet das aktuelle Szenario des Bundesamts für Statistik.

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Luzern – das abgesehen von seiner Hauptstadt immer vor allem malerisches heartland der Schweiz darstellte: der mystische Vierwaldstättersee, die ausschweifenden Hügelzüge im Mittelland, beackert von mächtigen Bauern, das eigenwillig gebuckelte Entlebuch mit seinem stockkonservativen und doch allzeit zur Rebellion geneigten Volksschlag, wie es der Schriftsteller Fritz René Allemann einst formulierte. In diesem Kanton musste sich die liberale Stadt regelmässig den Dominanzansprüchen der konservativen Landstriche unterwerfen.

Ausgerechnet hier soll die Schweiz in den nächsten Jahrzehnten also besonders wachsen, verdichten, urbanisieren?

Schon Realität

Das Wachstum ist bereits Realität. Die Bevölkerung des Kantons Luzern hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Der Luzerner Regierungspräsident Reto Wyss (Mitte) erklärt es mit Geografie und Bedingungen: «Wir liegen in der Mitte des Landes, von hier aus ist die ganze Schweiz gut erreichbar. Wer sich das vergegenwärtigen will, muss nur einmal am frühen Morgen zum Luzerner Bahnhof kommen.» Es wurde viel gebaut, die Steuern wurden gesenkt – auch wenn Wyss nicht glaubt, dass die breite Bevölkerung deshalb in den Kanton ziehe.

Die Gemeinden bauen ihre Infrastruktur aus, wo sie können, aber leicht wäre dieses Wachstum nicht zu verkraften, sagt Sibylle Boos-Braun. Sie ist FDP-Gemeindepräsidentin von Malters und Präsidentin des Verbands der Luzerner Gemeinden. Ihre Gemeinde ist ein gutes Beispiel für das luzernische Wachstumsparadox: Nach Malters, nahe der Stadt Luzern, ziehen viele Familien mit Kindern, weil sie die dörfliche Idylle suchen – was dazu führt, dass zusätzliche Infrastruktur wie etwa Schulhäuser gebaut und zusätzliche Arbeitskräfte benötigt werden, so dass das Dorf weiterwächst. In den vergangenen Jahren wurde deshalb verdichtet gebaut, es gibt jetzt ein erstes achtstöckiges Wohnhaus in Malters. Es wird Hochhaus genannt.

Ein langsames Wachstum findet Sibylle Boos-Braun wichtig, aber sie spüre in der Bevölkerung die Skepsis. Noch einmal soll der Kanton um 150 000 Personen wachsen?

Verlusterfahrungen

Ob sich dieses Szenario für Luzern bewahrheitet, kann niemand wissen. Der Bund arbeitet mit Hypothesen, die von den Kantonen selbst vorgeschlagen und dann gemeinsam diskutiert werden, wie Johanna Probst vom Bundesamt für Statistik sagt. Luzern schätze die Geburtenrate und den Wanderungssaldo höher als andere Kantone. Könnte das ausserordentliche Luzerner Szenario also auch schlicht methodische Gründe haben? Das Wachstum der vergangenen Jahre, sagt Probst, liege jedenfalls nahe an dem Szenario, das letztes Mal für Luzern erstellt worden sei. «Das spricht für die gewählten Hypothesen.»

Regierungspräsident Reto Wyss hält es sowieso für erforderlich, dass sich Luzern auf ein überdurchschnittliches Wachstum einstellt. Er sieht die Politik in einem Dilemma: Die Bevölkerung erwarte einerseits, dass Wohlstand und Wirtschaftskraft möglichst zunähmen – und andererseits die Identität des Kantons möglichst nicht berührt werde. Die Unternehmen und selbst der Staat (in den Spitälern, in den Schulen) seien auf Fachleute aus dem Ausland angewiesen, sagt er, umso mehr müsse es gelingen, die Einwanderer zu integrieren. «Aber wir müssen ehrlich sein: Auch der Kanton Luzern hat sich aufgrund der Globalisierung bereits verändert. Wir sind viel internationaler aufgestellt als noch vor einigen Jahren.»

Der Schriftsteller Pirmin Meier kam selbst einst als Einwanderer in den Kanton Luzern – aus dem Aargau. Er war lange Kantonsschullehrer in Beromünster im Seeland und ist immer noch ein begeisterter Volkskundler. In Luzern habe man sich immer gekannt, er habe in 35 Jahren nie einen Gemeinde-, Gross-, National- oder Ständerat gewählt, mit dem er noch nie geredet habe. «Man übertreibt es mit dem Duzis sogar!» Dieses Luzern löse sich aber langsam auf. Meier sagt: «Der Auflösungsprozess ist mit Verlusten verbunden.» Aber er wirkt nicht übermässig melancholisch. Als Historiker muss er sich nicht mit Szenarien beschäftigen: Wie das neue Luzern dereinst aussehen wird? Das alte Luzern reicht ihm völlig aus.

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