Samstag, Oktober 5

Vor zehn Jahren stellten Forscher mit Schrecken fest: Wichtige Erkenntnisse aus der Psychologie lassen sich nicht bestätigen. Jetzt hat in dem Fach eine «Revolution der Glaubwürdigkeit» eingesetzt.

Der Schock war gross. Und er sass tief, weil er an einem der zentralen Pfeiler der Wissenschaft rüttelte: am Anspruch, mit geeigneten Versuchen ein verlässliches Bild der Wirklichkeit zeichnen zu können. Ein Bild, das sich bestätigen und erhärten lässt, wenn man die Versuche an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit wiederholt. Doch als sich in den 2010er Jahren Forscherinnen und Forscher anschickten, in grösserem Masse solche Bestätigungen einzuholen, stiessen sie nur bei einer Minderheit der Wiederholungen von bereits veröffentlichten Studien auf dieselben Resultate.

Aus einer Stichprobe von 100 Studien, die alle in renommierten Fachzeitschriften der Psychologie erschienen waren, liessen sich nur bei 39 Untersuchungen die gleichen Effekte nochmals nachweisen. Zudem waren diese im Schnitt nur noch halb so gross wie die ursprünglich veröffentlichten. Als auch aus den Wirtschaftswissenschaften und sogar aus der Krebsforschung Berichte mit ähnlichen Schlussfolgerungen erschienen, verdichtete sich das Unbehagen – und machte unter dem Begriff der Replikationskrise in der Welt der Forschung die Runde.

Nun, ein gutes Jahrzehnt später, stellen Fachleute fest: Diese Krise hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft tatsächlich beeinträchtigt. Gleichzeitig war sie ein Weckruf – und hat auf mehreren Ebenen zu Verbesserungen im Wissenschaftsbetrieb geführt. Weil «die Veränderungen rasch und dramatisch» sind, spricht Simine Vazire sogar von einer «Revolution der Glaubwürdigkeit».

Die Psychologieprofessorin an der University of Melbourne in Australien sagt, dass die Veränderungen viele Personen erfasst hätten, die unterdessen «eine breite Bewegung bilden». Im Unterschied zu früher werde mittlerweile zum Beispiel vorausgesetzt, dass Forscher ihre Daten Interessierten zur Verfügung stellten. Und: «Wer heute starke wissenschaftliche Behauptungen aufstellen möchte, muss qualitativ und quantitativ höherwertige Beweise erbringen», sagt Vazire.

Auch unspektakuläre Daten gehören veröffentlicht

Im Jahrzehnt seit der Replikationskrise hat insbesondere in der Psychologie eine neue Publikationsform an Bedeutung gewonnen: registrierte Studien. Dabei reichen Forscher ihre Vorhaben schon vor Beginn der Arbeiten bei der Fachzeitschrift ihrer Wahl ein, die sie ihren Kolleginnen und Kollegen zur Prüfung schickt. Diese sogenannten Peers begutachten, ob die Fragestellung wissenschaftlich interessant ist. Und wie gut sich die Methoden eignen, um gültige Aussagen zu erlangen. Erfüllt ein Forschungsvorhaben diese Bedingungen, verspricht die Zeitschrift, die Studie unabhängig von den noch zu erzielenden Resultaten zu veröffentlichen.

Dadurch tragen registrierte Studien dazu bei, Verzerrungen in der Berichterstattung zu vermeiden, die sich aus unserer Faszination für spektakuläre Ergebnisse – und unserem Desinteresse für zwar genauso solid erarbeitete, aber weniger überraschende Resultate – ergeben. «Bei registrierten Studien sind die Analysemethoden schon im Vorhinein festgelegt», erklärt Eric-Jan Wagenmakers, Psychologieprofessor an der Universität Amsterdam.

Der Statistikexperte vergleicht die Verlockung, die Resultate nachträglich zurechtzubiegen, mit dem Gesang der Sirenen aus der griechischen Sagenwelt. Und die Studienregistrierung mit den Fesseln, die sich Odysseus anlegen liess, um den Gesang zwar zu hören, ihm aber nicht zu verfallen.

Unter den zahlreichen registrierten Studien, die Wagenmakers und sein Team veröffentlicht haben, ist auch eine, die einen berühmten Versuch aus den 1980er Jahren zur Bedeutung des Lächelns wiederholte und überprüfte. Damals lieferten Fachleute aus Deutschland mit dem Stift-im-Mund-Test Belege für die Gültigkeit der sogenannten Facial-Feedback-Hypothese. Diese besagt, dass nur schon die Aktivität von Muskeln im Gesicht eines Menschen in ihm bestimmte Gefühle weckt.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ursprünglichen Studie bekamen Witzzeichnungen vorgesetzt, die sie auf einer Skala von 0 (überhaupt nicht lustig) bis 9 (sehr lustig) zu beurteilen hatten. Wer den Stift mit den Zähnen hielt und sozusagen zwangsweise, aber unbewusst, lächelte, fand die Zeichnungen im Schnitt deutlich lustiger als jene, die den Stift zwischen die Lippen klemmten und dabei einen Schmollmund zogen. Der 1988 veröffentlichte Unterschied betrug 0,8 Einheiten auf einer 10er Skala.

Das letzte Wort ist noch offen

Für die 2016 veröffentlichte Wiederholung des Versuchs spannte Wagenmakers mit 16 anderen Forschungsgruppen zusammen – aus den Niederlanden, Belgien, Italien, Spanien, den USA, Kanada und der Türkei. Alle befolgten strikt das gleiche Studienprotokoll.

Neun der insgesamt 17 Forschungsgruppen fanden ebenfalls, dass ein Stift zwischen den Zähnen Menschen humorvoller stimme. Die anderen 8 Gruppen hingegen stiessen auf das gegenteilige Resultat: Bei ihnen bewiesen die Probandinnen und Probanden mit dem Stift zwischen den Lippen mehr Humor. Über alle Forschungsteams hinweg betrug der Unterschied zwischen den beiden Vergleichsgruppen nun lediglich 0,03 Einheiten auf der 10er Skala. «Gegenüber den ursprünglichen Resultaten ist aus meiner Sicht Skepsis angebracht», sagt Wagenmakers.

Um die Macht des Lächelns ist damit allerdings noch nicht das letzte Wort gesprochen. Im Jahr 2019 erschien eine Meta-Analyse, die 137 Studien zu verschiedenen Aspekten der Facial-Feedback-Hypothese berücksichtigte. Darunter zum Beispiel auch, ob Spritzen mit Botulinum-Toxin bei Depressionen Abhilfe verschaffen, indem sie verhindern, dass sich die Augenbrauen eines Menschen zu einem finsteren Blick verziehen können.

Die kurze Antwort: «Es ist verfrüht, in Botox als Mittel zur Behandlung von Depressionen zu vertrauen», sagt Nicholas Coles, Emotionsforscher an der Stanford University in den USA und Erstautor der Meta-Analyse. Zwar gibt es einige Studien, die eine antidepressive Wirkung des Nervengifts belegen, «doch die allermeisten dieser Studien wurden weder verblindet noch frei von Interessenkonflikten durchgeführt».

Bei den in der Meta-Analyse berücksichtigten Studien über das Lächeln hingegen waren die Resultate konsistenter. Deshalb hat sich Coles mit Kolleginnen und Kollegen aus 19 verschiedenen Ländern zur «Many Smiles Collaboration» zusammengeschlossen. «Wir sind eine Gruppe von Forschern – einige Befürworter der Facial-Feedback-Hypothese, einige Kritiker und einige ohne feste Überzeugungen», sagt Coles. «Gemeinsam haben wir definiert, welches die geeignetsten Methoden sind, um allfällige Facial-Feedback-Effekte zu messen.»

Neugeborene mögen Babysprache

Die Resultate des Experiments mit rund 3900 Teilnehmern und Teilnehmerinnen zeichnen ein differenziertes Bild. Obwohl sich beim Stift-im-Mund-Test kein Effekt zeigte, wiesen die Fachleute bei vier anderen Tests einen Unterschied zwischen den Vergleichsgruppen nach. Zum Beispiel, wenn sie die Probanden instruierten, entweder einen neutralen Gesichtsausdruck anzunehmen oder die Gesichter auf Fotos von lächelnden Schauspielerinnen und Schauspielern nachzumachen. Wer ein glückliches Gesicht nachahmte, war eher geneigt, über einen gezeichneten Witz zu lachen.

Auf freiwilliger Zusammenarbeit basierende Netzwerke wie die «Many Smiles Collaboration» gibt es auch in anderen Bereichen. So haben kürzlich 69 Forschungsgruppen des «Many Babies»-Konsortiums nachgewiesen, dass Neugeborene es weltweit besonders mögen, wenn sich Erwachsene in der Babysprache an sie wenden.

Solchen weitgehend hierarchielosen Netzwerken gelinge es zwar, Wissen zu generieren, das nur schwer zu erlangen sei, meint Coles. Doch ein Netzwerk über längere Zeit aufrechtzuerhalten, sei eine grosse Herausforderung, weil in der Wissenschaft immer noch zu oft nur die Einzelleistungen zählten, anstatt dass die Forscher auch dafür belohnt würden, dass sie grosse Beiträge zur Teamarbeit leisteten.

Max Korbmacher, der Erstautor der eingangs erwähnten Übersichtsstudie über die vielfältigen Verbesserungen im Wissenschaftsbetrieb, ist jedoch zuversichtlich. «Viele Sachen, mit denen wir jetzt noch kämpfen, werden irgendwann selbstverständlich sein.» Beispielsweise sei es schon heute für junge Forscher und Forscherinnen normal, die eigenen Daten und den Quellcode in der Programmiersprache für die Analysen offenzulegen.

«Oft ist es auch eine Generationenfrage», sagt Korbmacher. Für ihn ist jedenfalls klar: «Wissenschaftliche Praktiken sind Verhaltensweisen – und können geändert werden.»

Ein Artikel aus der «»

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