Ob die neue EU-Kommission im Dezember starten kann, ist weiterhin offen. Im Hintergrund wird verhandelt und geblufft. Nun mischt sich sogar noch die spanische Flutkatastrophe in die Diskussion.
Man könnte ja meinen, dass die EU angesichts der geopolitischen Herausforderungen und der sich verändernden Machtverhältnisse in den USA baldmöglichst eine neue Kommission haben sollte. Ursprünglich war der 1. November geplant, das neue Ziel ist der 1. Dezember. Doch selbst dieses Datum ist nicht mehr sicher – und eine Blockade im Parlament könnte sich für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gar zum Super-GAU entwickeln. Ihr gesamtes Gremium, dieses gemäss Parteizugehörigkeit, Kompetenz, Geschlecht und geografischer Herkunft fein austarierte Gebilde, könnte auseinanderfallen.
Die «Regierungsbildung» in der EU – die Kommission hat sowohl eine exekutive wie legislative Rolle – ist eine komplexe Sache. Vom Parlament ist Präsidentin von der Leyen bereits im Juli für fünf weitere Jahre gewählt worden. Die Deutsche hat in der Folge jedem der von den 26 weiteren Mitgliedsstaaten vorgeschlagenen Kommissionskandidaten ein Portfolio zugeteilt. Doch bevor diese ihr Amt aufnehmen können, müssen auch sie vom EU-Parlament bestätigt werden. Für die Abgeordneten, die sich ohne Vorschlagsrecht für Gesetze stets benachteiligt sehen, ist es eine Sternstunde. Endlich können sie einmal die Muskeln spielen lassen.
Diese Anhörungen, im EU-Jargon auch «grillen» genannt, fanden vergangene und diese Woche statt. Lange Zeit lief alles glatt – um nicht zu sagen langweilig – ab: Die Kandidaten schlugen sich in den jeweils mindestens dreistündigen Hearings mal mehr, mal weniger wacker. Aber mit einer Ausnahme – dem Ungarn Oliver Varhelyi, der wegen der notorischen Opposition seines Landes gegenüber der EU-Spitze aneckt – haben sie von den entsprechenden Ausschüssen allesamt grünes Licht erhalten.
Spannung dank Popcorn
Der Auswahlprozess ging am Anfang derart reibungslos über die Bühne, dass Lobbyorganisationen tief in die Trickkiste greifen mussten, um etwas Spannung zu erzeugen: «Popcorn&Politics» hiess beispielsweise eine Veranstaltung, bei der man sich zu Fastfood und Dosenbier die Anhörung des griechischen Kommissars in spe gemeinsam anschaute.
Von dieser Happy Hour bleibt nun, da es um die wirklich wichtigen Posten geht, nicht mehr viel übrig: Am Dienstag, in Anlehnung an die amerikanischen Vorwahlen auch als «Super Tuesday» bezeichnet, sind die sechs designierten Vizepräsidenten angehört worden. Doch ihnen verweigern die Abgeordneten bis auf weiteres die Bestätigung – in globo.
Im Kern geht es weniger um ihre Auftritte, sondern um parteipolitische Taktierereien. Ein Name ist dabei zentral: Raffaele Fitto, der Kandidat, den die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni von der Rechtsaussenpartei Fratelli d’Italia nach Brüssel schicken möchte.
Die Linke wittert Verrat
Im Vergleich zu Parteikollegen ist Fitto verhältnismässig europhil. Er amtete jahrelang selbst als EU-Parlamentarier und ist im Meloni-Kabinett Minister für europäische Angelegenheit. Entsprechend biederte er sich bei seiner Anhörung den Ex-Kollegen an: «Ich bin nicht hier, um eine politische Partei zu vertreten. Ich bin nicht hier, um einen Mitgliedstaat zu vertreten. Ich bin heute hier, um mein Engagement für Europa zu bekräftigen», sagte er gleich zu Beginn.
Doch die Ratslinke nimmt ihm dies nicht ab. Mehrere Vertreter befragten ihn zur postfaschistischen Vergangenheit seiner Partei und gaben sich mit seinen Antworten nicht zufrieden, obwohl er sich höflich – und ironisch – für die «respektvollen Fragen» bedankte. Dass Fitto Kommissar wird, könnten die Sozialdemokraten und Grünen noch akzeptieren. Dass aber von der Leyen ausgerechnet ihn zu einem der sechs einflussreichen Vize-Präsidenten machen will, geht für sie weit. Sie drohen nun, den Italiener nicht zu unterstützen, womit die erforderliche Zweidrittels-Mehrheit nicht erreicht würde. Dem Ungarn Varhelyi soll zudem ein anderes Portfolio zugeteilt werden.
Die bedeutendste Partei im Parlament, die Europäische Volkspartei (EVP), der auch von der Leyen angehört, will Fitto ihre Stimme jedoch geben. Tenor: Er habe seine pro-europäische Gesinnung verschiedentlich unter Beweis gestellt, zudem habe Italien als eines der grössten Mitgliedsländer Anrecht auf einen Top-Posten. Für die Linke kommt diese Position einem Verrat an der «pro-europäischen, demokratischen Allianz» gleich, die im Juli von der Leyen gewählt hatte – anders als Fittos Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Die EVP hat seit dem Sommer allerdings schon verschiedentlich bewiesen, dass sie die von der Linken gerngesehene «Brandmauer» gegen die EKR und weiter rechtsstehende Fraktionen je nach Thema zu durchbrechen bereit ist.
Rücktritt bei Strafuntersuchung?
Jedenfalls droht die Volkspartei nun, eine sozialdemokratische Kandidatin «abzuschiessen», wenn deren Partei die Blockadehaltung nicht aufgibt. Es geht um die Spanierin Teresa Ribera, die nicht nur das wichtige Dossier für Wettbewerb und grünen Wandel erhalten hat, sondern auch einen der Vizepräsidiums-Posten. Aktuell gehört sie als Ministerin für ökologischen Wandel der spanischen Regierung an.
In ihrem Hearing kam Ribera verschiedentlich ins Schleudern – was auch damit zusammenhing, dass ihr Abgeordnete des spanischen Partido Popular mitverantwortlich für die Flutkatastrophe von Valencia machten. Die EVP stellt von Ribera zwei Bedingungen, bevor man ihre die Unterstützung gebe: Dass sie sich gegenüber dem heimischen Parlament erklärt und dass sie im Falle einer strafrechtlichen Untersuchung zurücktreten würde. Gerade das zweite Versprechen dürfte Ribera schwer abzuringen sein.
Bei den parteitaktischen Spielchen ist immer auch eine gehörige Portion Bluff dabei. Jede Fraktion versucht, das für sie vorteilhafteste Ergebnis zu erzielen und hausiert mit Maximalforderungen. Aus heutiger Sicht ist das wahrscheinlichste Szenario noch immer, dass sich die Fraktionen auf einen Kompromiss einigen und die 26 offenen Kommissionsposten zugeordnet werden können. Ein Datum für die Parlamentsabstimmung über das gesamte Gremium steht bereits fest: Der 27. November.
Dennoch ist ein Eklat alles andere als ausgeschlossen. Mindestens bis kommende Woche wird im Hintergrund weiter gefeilscht. Falls einzelne Kandidaten von den Mitgliedsstaaten tatsächlich ausgetauscht werden müssten, könnte das neue Team nicht wie geplant am 1. Dezember loslegen. Und wenn sich die Parteien dann noch immer nicht zusammenraufen, könnte gar von der Leyens fein austariertes Kartenhaus in sich zusammenfallen.