Sonntag, September 8

Zum erst zweiten Mal in der Geschichte wird ein Super Bowl in der Verlängerung entschieden. Wieder rächt es sich für den Gegner, dem Superstar Patrick Mahomes zu viele Chancen zur Bewährung gewährt zu haben.

Der 11. Februar wird länger in den Köpfen der favorisierten San Francisco 49ers herumspuken als ein Roman von Stephen King: Den 49ers bot sich in Las Vegas jede Chance, den Titelhalter Kansas City Chiefs zu entthronen. Doch das Team um den unerfahrenen Quarterback Brock Purdy verpasste es mehrfach in aussichtsreicher Position, die Entscheidung herbeizuführen.

Und wie nach Drehbuch bestrafte der Superstar Patrick Mahomes diese Nachlässigkeit erneut. Mahomes, 28, ist ein kühlerer Rächer als Batman; er sühnt es eigentlich immer, wenn man ihm zu viele Gelegenheiten gibt. Zum dritten Mal gelang es ihm, in einem Super Bowl die Wende herbeizuführen, nachdem die Seinen im vierten Viertel in Rückstand gelegen hatten. Einen begnadeteren Entfesselungskünstler haben die USA seit Harry Houdini nie mehr gesehen.

Es dauerte, bis die Partie Fahrt aufnahm. Die Erkenntnis der ersten Halbzeit bestand eigentlich darin, dass man froh sein konnte, nicht 9300 Dollar für diese lausige Darbietung bezahlt zu haben; das war der durchschnittlich bezahlte Eintrittspreis. Am lautesten wurde es im Stadion, als die Pop-Ikone Taylor Swift ein Bier auf Ex vernichtete. Beide Teams leisteten sich erstaunliche Fehler und Konzentrationsmängel, die Offensivabteilungen fanden kaum zur Entfaltung. San Francisco lag 10:3 vorne, hätte aber schon zu diesem Zeitpunkt komfortabler in Führung liegen müssen. Besonders schmerzhaft war ein geblockter Extrapunkt nach einem Touchdown im dritten Viertel. In der Regular Season hatte der Kicker Jake Moody 60 von 61 Extrapunktversuchen verwandelt.

Das Malheur erlaubte es den Chiefs, sechs Sekunden vor Schluss zum 19:19 auszugleichen. Die Konsequenz war die erste Verlängerung seit dem legendären Comeback der New England Patriots gegen die Atlanta Falcons von 2017, als der langjährige Liga-Dominator Patriots einen 3:28-Rückstand noch in einen Sieg verwandelte.

Zum bereits dritten Mal wird Mahomes als wertvollster Spieler des Super Bowl ausgezeichnet

Die Patriots um den siebenfachen Champion Tom Brady waren die imposanteste Dynastie in der modernen NFL. Und man dachte: vermutlich zumindest auf Sicht auch die letzte. Die Liga ist auf Parität getrimmt, und das alte Klischee, dass «an jedem verdammten Sonntag» alles geschehen kann – von Oliver Stone und Al Pacino 1999 in einem Blockbuster verewigt –, trifft zu.

Doch auf die sportlich in der Post-Brady-Ära inzwischen ganz unten angelangten Patriots sind mit den Chiefs neue Regenten gefolgt. Der Vergleich mit den 49ers bedeutete die vierte Super-Bowl-Teilnahme innert fünf Jahren. Und der Drei-Yard-Pass von Mahomes auf Mecole Hardman kurz vor Ende der Verlängerung sicherte den dritten Titel seit 2020, Kansas City siegte 25:22. Mahomes wurde als wertvollster Spieler der Partie ausgezeichnet, es war die Belohnung dafür, dass er seine Magie einmal mehr dann fand, wenn es wirklich zählte.

Die Dominanz der Chiefs hat jüngst die irrwitzigsten Theorien befeuert. Eine beliebte Behauptung lautet, die Liga sei zugunsten von Kansas City manipuliert. Teile der konservativen Rechten in den USA haben sich daran abgearbeitet, der krachend gescheiterte Präsidentschaftskandidat Vivek Ramaswamy etwa fabulierte, der Sieg der Chiefs sei Teil eines Geheimplans der Elite. Es gehe darum, dass Taylor Swift dem Präsidenten Joe Biden zur Wiederwahl verhelfen könne. Swift ist die Freundin des Chiefs-Profis Travis Kelce, sie wurde am Sonntag von den TV-Kameras gefühlt gleich oft gezeigt wie das Spielfeld. Kelce sang bei der Siegerehrung «Viva Las Vegas», den alten Elvis-Hit, und erreichte damit ungeahnte Sphären punkto Fremdscham.

Natürlich hat Ramaswamy seine Vermutungen nicht belegen können, die Theorie ergibt ja nicht einmal ansatzweise Sinn. Aber er musste am Sonntag erleben, wie er auf Twitter von Joe Biden so hart getrollt wurde, wie man das von einem regierenden Präsidenten, der nicht Donald Trump heisst, kaum für möglich gehalten hätte. «Genau so, wie wir es geplant haben», schrieb Biden auf X, es war eine legendäre Replik.

Vorerst ist kein Ende dieser erstaunlichen Chiefs-Dynastie abzusehen

Der Tag wird kommen, an dem die Phalanx der Chiefs, ihr Dasein an der Spitze der Nahrungskette endet, so ist der Sport. Das Team dürfte im Sommer erneut einige Schlüsselspieler verlieren, das ist der Preis des Erfolgs in einer Liga mit Gehaltsobergrenze. Und doch ist ein Ende dieser Dynastie vorerst kaum abzusehen. Mahomes ist erst 28, für einen Quarterback ist das ziemlich jung, sein Vertrag bei den Chiefs ist noch bis 2031 gültig. Mahomes ist ein so begnadeter Individualist, dass mit seinem Team jedes Jahr zu rechnen ist. Für die NFL ist das ein Segen – die Lichtgestalt Mahomes ist ein Quotengarant, der die Werbemillionen sprudeln lässt.

Von fundamentaler Bedeutung für die Hausse der Chiefs ist auch der Trainer Andy Reid, der vor seinem Amtsantritt von 2013 als notorischer Play-off-Versager galt. Und inzwischen zum erfolgreichsten aktiven Coach aufgestiegen ist. Um Reid, 65, kursierten jüngst Rücktrittsgerüchte. «Man weiss, wann es Zeit ist», hatte der Coach gesagt. Realistischer ist aber ein neuer, besser dotierter Vertrag. An Argumenten für eine kräftige Lohnerhöhung mangelt es dem rührigen Trainer nicht.

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