Samstag, Februar 22

Die Umwälzungen in Syrien spielen der Türkei in die Hände. Das kam auch für Präsident Erdogan überraschend. Ankaras Zugewinn an geopolitischem Gewicht ist dennoch kein Zufall.

Was für eine Ironie! Seinen grössten aussenpolitischen Erfolg hat der türkische Präsident errungen, als er selbst nicht mehr daran glaubte. Recep Tayyip Erdogan hatte die Unterstützung der syrischen Rebellen zwar nie eingestellt. Doch waren die Weichen schon lange auf eine Wiederannäherung an Präsident Bashar al-Asad gestellt.

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Die Normalisierung der Beziehungen mit dem Nachbarn im Süden wäre der letzte Meilenstein auf dem langen Weg einer Kurskorrektur gewesen. Erdogan hatte vor mehr als einem Jahrzehnt im sogenannten Arabischen Frühling aus ideologischen Gründen auf die Kräfte des politischen Islam gesetzt.

Als diese scheiterten, stand die Türkei in der Nachbarschaft weitgehend isoliert da. Der Ausweg führte über die Aussöhnung mit einstigen Erzfeinden. Als Letztes gelang das im vergangenen Herbst mit dem ägyptischen Machthaber Abdelfatah al-Sisi. Es fehlte nur noch der Diktator in Damaskus. Die Zustimmung zur Offensive der Rebellen gab Erdogan, um Asad an den Verhandlungstisch zu drängen – nicht, um ihn zu stürzen.

«Emotionale Geografie» und «neoosmanische Politik»

Doch dann kam alles anders. Mit dem Durchmarsch der Truppen des Rebellenführers Abu Muhammad al-Julani aka Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa Anfang Dezember ist in Syrien eingetreten, was sich Erdogan einst für die ganze Region erhofft hatte: die Machtübernahme durch islamistische Kräfte, hinter denen als natürliche Verbündete und Fürsprecherin die Türkei steht.

Das entspricht Erdogans langfristiger Vision für sein Land: Dank historischen Verbindungen, kultureller Nähe und realpolitischer Stärke soll die Türkei zu einem Machtpol werden, der weit in die Nachbarschaft ausstrahlt – wie einst zu osmanischer Zeit.

Diese Idee steckt hinter dem oft bemühten, aber meist missverstandenen Begriff der neoosmanischen Politik. Und das war auch gemeint, als Erdogan kürzlich sagte, die Türkei sei grösser als die Türkei. Sein Kommunikationschef hat für diese Einflusszone bereits vor einiger Zeit den eigentümlichen Begriff der «emotionalen Geografie» geschaffen.

Noch ist Syrien nicht gewonnen

Zu Recht weisen Beobachter darauf hin, dass in Syrien noch viele Fallstricke lauern, gerade auch für die Türkei. Jedes Wiederaufflackern der Gewalt würde neue Flüchtlingsströme an die türkische Grenze schicken, ein Horrorszenario für die Regierung in Ankara.

Auch ist offen, ob sich die Türkei mit ihren Forderungen zur Zukunft der syrischen Kurden wird durchsetzen können. Ankara strebt die Zerschlagung des Autonomiegebiets im Nordosten und die Auflösung der militärischen Verbände an, die es als Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans betrachtet. In Damaskus scheint man sich auch andere Lösungen vorstellen zu können, von den USA ganz zu schweigen.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie privilegiert die türkischen Beziehungen zu den neuen Machthabern in Damaskus auf lange Sicht bleiben. In ihrer Enklave in Idlib waren die isolierten Rebellen auf Ankara als Fenster zur Welt angewiesen. Als Herrscher über ganz Syrien haben sie viele Optionen.

Migration, Energie, Rüstung

Trotzdem ist Ankaras Einfluss im neuen Syrien unbestritten. Als der Geheimdienstchef Ibrahim Kalin nur wenige Tage nach Asads Sturz nach Damaskus kam, fuhr ihn Sharaa persönlich vom Flughafen ins Stadtzentrum. Das ist mehr als Symbolik.

Beim Wiederaufbau des kriegsversehrten Landes werden sich türkische Baufirmen einen grossen Teil vom Kuchen sichern. Auch schickt sich Ankara an, zu Syriens sicherheitspolitischem Partner der Wahl zu werden. Bereits gibt es Abkommen über die Etablierung weiterer türkischer Militärbasen oder die Ausbildung der syrischen Armee. All das stärkt das geopolitische Gewicht der Türkei.

Erdogan verspürt aber nicht nur wegen Syrien Rückenwind. In der Migrationsdebatte, die noch immer die innenpolitische Agenda vieler westlicher Staaten bestimmt, bleibt die Türkei ein Schlüsselstaat.

Erdogans Ambition, aus seinem Land einen Knotenpunkt für die europäische Energieversorgung zu machen, ist ebenfalls nicht aus der Luft gegriffen. Seit dem Ende des Transits russischen Erdgases durch die Ukraine verlaufen die wichtigsten Transportrouten quer durch Kleinasien, sowohl für Gas aus Russland als auch für die Alternativen aus Aserbaidschan und Zentralasien. Kürzlich hat Ankara erstmals einen Liefervertrag mit Turkmenistan abgeschlossen.

Und nicht zuletzt ist die boomende Rüstungsindustrie ein Ass im Ärmel der Türken. Um die eigene Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen, wird Europa auf diese Kapazitäten nicht verzichten können. An der Dringlichkeit besteht nach den jüngsten Ankündigungen aus Washington kein Zweifel.

Bereits heute setzen ost- und südeuropäische Nato-Staaten bei Rüstungsvorhaben auch auf türkische Technik. In Italien hat der türkische Drohnenhersteller Baykar unlängst sogar das Traditionsunternehmen Piaggio übernommen. Griechenland hat dagegen zwar Protest eingelegt. Umstimmen wird man damit in Rom aber niemanden.

Machtverschiebung gegenüber Russland

Der Erfolg in Syrien hat Erdogan selbst überrascht. Ein Zufall ist der türkische Zugewinn an geopolitischem Gewicht aber nicht. Bei allen Selbstüberschätzungen und opportunistischen Kehrtwenden in seiner langen Regierungszeit hat der türkische Präsident das Fernziel seiner Aussenpolitik nie aus den Augen verloren: die Türkei zu einem eigenständigen Machtpol zu machen, der auf die Interessen Dritter möglichst wenig Rücksicht zu nehmen braucht.

Am deutlichsten verschoben hat sich das Kräfteverhältnis gegenüber Moskau. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland sind durch die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konflikten geprägt. Mittlerweile hält Ankara die meisten Trümpfe in der Hand. Die Türkei verweigert russischen Kriegsschiffen seit drei Jahren die Durchfahrt ins Schwarze Meer. Im Kaukasus sitzt Ankara als Verbündete des vor Kraft strotzenden Aserbaidschan am längeren Hebel.

Nun ist Russland auch für den Fortbestand seiner Militärbasen in Syrien und somit seine Grossmachtambitionen im Mittelmeerraum auf türkisches Wohlwollen angewiesen. Es liegt in der Natur des Verhältnisses zwischen Ankara und Moskau, dass sich dies auf alle Schauplätze auswirkt, wo die beiden Staaten als Konkurrenten auftreten. Dazu gehört neben Libyen auch der Sahel, aus dem sich Frankreich als Ordnungsmacht verabschiedet. Und natürlich die Ukraine. Im geopolitischen Ringen mit Moskau ist der Nato-Staat Türkei ein Trumpf des Westens.

An anderen Schauplätzen gilt das nicht. Im israelisch-palästinensischen Konflikt tritt Erdogan als Fürsprecher der muslimischen Empörung auf und schreckt auch vor plumper antiwestlicher Rhetorik nicht zurück. Auch in der syrischen Kurdenfrage oder im Dauerstreit mit Athen ist Erdogan eher Gegenspieler als Verbündeter des Westens.

Die «emotionale Geografie» der Türkei, die beanspruchte Einflusszone, schliesst auch Teile Griechenlands und natürlich Zypern ein. Die Gleichzeitigkeit von Partnerschaft und Konflikten gibt es auch im türkisch-europäischen Verhältnis.

Partner und Konkurrent

Für Europa bedeutet das zweierlei. Die Türkei ist ein selbstbewusster geopolitischer Akteur, der bei der Verfolgung seiner Ziele wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner Verbündeten nimmt. Sie ist aber auch ein unerlässlicher Partner – wenn man die Spielregeln und Grenzen der Zusammenarbeit versteht.

Erdogan ist ein Dealmaker, der in seinem transaktionalen Politikverständnis Donald Trump nicht unähnlich ist. Wo er sich Vorteile erhofft, ist der türkische Präsident zur Kooperation bereit. Das gilt etwa in der Wirtschaftspolitik oder bei Rüstungsvorhaben.

Andernfalls fordert Erdogan unverblümt Gegenleistungen ein. Besonders offensichtlich war das beim Erpressungsmanöver um den schwedischen Nato-Beitritt. Erst als Washington Entgegenkommen beim türkischen Beschaffungsprojekt für neue Kampfflugzeuge signalisierte, gab Erdogan sein Veto auf.

Allein aus Solidarität oder einem wie auch immer gearteten Zugehörigkeitsgefühl zum Westen handelt der türkische Präsident nicht, Nato-Mitgliedschaft hin, EU-Kandidatenstatus her. Von der Wertegemeinschaft ist sowieso nicht viel übrig. Obwohl – oder gerade weil – es aussenpolitisch gut läuft für Erdogan, hat er die Schraube gegenüber seinen politischen Gegnern in den vergangenen Wochen deutlich angezogen.

Erdogan wird für Europa ein ebenso wichtiger wie unbequemer Partner bleiben. Wenn er geopolitischen Rückenwind verspürt, gilt das erst recht.

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