Donnerstag, Juli 31

Im Berner Oberland sorgten Wanderer in Wehrmachtsuniformen für Aufruhr. Sie hätten bloss ein Reenactment gemacht, liessen sie später verlauten. Über das Nachstellen der Vergangenheit und die Spielregeln, die dabei gelten.

Vor einigen Tagen wanderte eine Gruppe von 25 als Wehrmachtssoldaten verkleideten Männern durch das Berner Oberland. Reichsadler und Hakenkreuze an ihren Uniformen zogen die Aufmerksamkeit von Dritten auf sich, und bei der Polizei gingen zahlreiche Anrufe ein.

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Als Kritik lautwurde an dieser Zurschaustellung nationalsozialistischer Insignien, veröffentlichte die Gruppe ein Statement: Sie seien keine Nazis, sondern Reenactors. Darsteller der Vergangenheit also. Menschen, denen es Freude macht, historische Ereignisse so realitätsnah wie möglich nachzustellen. Nicht Ideologie, sondern Interesse treibe sie an.

Es ist allerdings belegt, dass keine Einheit deutscher Soldaten jemals in Wehrmachtsuniform durch das Berner Oberland wanderte. Auch um eine Bewilligung oder zumindest eine Behördeninformation, wie das für Reenactments normalerweise gemacht wird, kümmerte die Truppe sich nicht. Mittlerweile ist auch ihre Internetpräsenz offline. Unabhängig davon, was die Männer tatsächlich antrieb: Reenactment ist für viele ein grosses Hobby.

Krieg ist ihr Hobby

Besonders bekannt sind die jährlichen Reenactments des amerikanischen Bürgerkrieges, der von 1861 bis 1865 dauerte. Jahr für Jahr stehen sich Nord- und Südstaatler gegenüber; mit Originaluniformen kämpfen die Darsteller am Originalschauplatz minuziös die überlieferten Schlachten nach. Alles wie einst, bloss mit Platzpatronen.

Was die Faszination der historischen Wiederholung ausmacht, wissen Mike Kaeser und Steven Honauer: Das Nachspielen von Szenen des Zweiten Weltkriegs ist ihre grosse Passion. Kaeser sagt: «Reenactment heisst: Man versucht in jedem Bereich, von der Unterhose bis zum Kochgeschirr, möglichst nah an die nachgestellte Zeit zu kommen.»

Wozu? Beide sind seit Kindertagen fasziniert von historischen Ereignissen, Kaeser interessieren die Recherche, das Jagen nach kleinsten Informationsschnipseln, das Studieren historischer Quellen und das Nachempfinden des vergangenen Alltags. Bei Honauer kommt das Interesse am Militär hinzu. Er hat in der Schweizer Armee gedient und auch weitergemacht, «ein kriegsgeiler Militärfanatiker bin ich darum aber nicht. Auch wenn das der Reenactment-Szene gerne vorgeworfen wird», sagt er.

Gamellen und Elefanten

Dieser Vorwurf hängt auch damit zusammen, dass meist Schlachten nachgestellt werden. Das hat einen einfachen Grund: «Beim klassischen Reenactment geht es darum, Ereignisse mittels Informationen aus verschiedensten Quellen so exakt wie möglich nachzuspielen. Über ein Alltagsereignis finden sich viel weniger Berichte als über eine Schlacht», sagt Christian Koller, Historiker und Leiter des Schweizerischen Sozialarchivs.

Zu Kollers Forschungsgebieten gehören unter anderem der Nationalsozialismus, Militärgeschichte und Erinnerungskulturen. Letztgenanntes beinhaltet auch das Nachspielen der Vergangenheit. Es lässt sich in drei grobe Gruppen aufteilen: Reenactment ist nachgestellte Ereignisgeschichte, Living History ist gespielte Alltagsgeschichte –backen wie zu den Zeiten der Römer, weben wie im Mittelalter oder in Militärzelten und Originalfeldbetten aus dem Zweiten Weltkrieg schlafen. «Viele sagen Reenactment, meinen aber Living History», sagt Koller.

Dazu kommt die Experimentelle Archäologie, eine historische Rekonstruktion zum Testen wissenschaftlicher Thesen. «Sie findet vor allem in Bezug auf prähistorische Epochen Anwendung, wo schriftliche Quellen fehlen und die damalige Realität einzig anhand von Fundstücken rekonstruiert werden kann», erklärt Koller. Es gehe dann darum, zu kontrollieren, ob die Thesen zur Anwendung von Gegenständen, zur Bauweise von Häusern oder zu bestimmten Marschrouten den Realitätstest bestünden.

«Ein grandioses Projekt der experimentellen Archäologie wäre es», Koller grinst, «wenn man Hannibals Alpenüberquerung mit Elefanten nachstellen würde. Vielleicht käme dann heraus: Das geht gar nicht. Da hat sich vor all den Jahrhunderten einer einen Scherz erlaubt.»

Da stecken Menschen drin

Reenactments finden meist vor Publikum statt. Für viele Wissenschafter ein zweischneidiges Schwert: Wer sich nicht intensiv mit den dargestellten Themen auseinandersetzt, bekommt den Eindruck, historische Realität vorgespielt zu bekommen. «Das ist viel unterhaltsamer als ein Geschichtsbuch, das nur auf gesicherten Fakten basiert, aber viel weniger akkurat», sagt Koller.

Genau darin allerdings liegt für Honauer und Kaeser der Reiz. «Wir machen Geschichte zum Anfassen. Aus Büchern erfahren die Leute Fakten, aus Filmen bekommen sie Bilder – bei uns können sie einen Militärrucksack aus dem Zweiten Weltkrieg hochheben und selber abschätzen, wie schwer der war», sagt Kaeser. Er mag es, sein Wissen weiterzugeben, und wird darum auch von Schulen eingeladen – mal in US-Army-Uniform, mal in mittelalterlicher Gewandung. Kaeser ist nicht nur Sektionsleiter der Vereinigung American Reenactors Switzerland (ARS) World War II, sondern auch ein Mann des Mittelalters.

Vor einem Jahr organisierte er gemeinsam mit seiner Partnerin die mittelalterlichen Handwerkertage, bei denen gewebt, gebacken oder geschmiedet wurde, wie im Frühmittelalter. «Das ist dann natürlich Living History», sagt er. Am Zweiten Weltkrieg reize ihn die Genauigkeit der Quellenlage, am Mittelalter der Interpretationsspielraum.

Auch Honauer recherchiert und erzählt gern. Zudem liest er Tagebücher und Aufzeichnungen von Soldaten über ihren Kriegsalltag, um nachzuempfinden, was ihnen kurz vor einer Schlacht durch den Kopf ging. Welche Sorgen sie mit ins Feld nahmen und welche Gefühle ein überstandener Kampf in ihnen auslöste. «Für mich ist es auch wichtig, den Leuten zu zeigen, dass in Militäruniformen keine Maschinen stecken, sondern Menschen – damals wie heute», sagt Honauer.

Frauenmangel an der Front

Vom Banker bis zum Bauern sind laut Kaeser und Honauer in der Reenactment-Szene alle vertreten – nur an jungen Leuten und an Frauen mangle es, zumindest bei den Kriegsspielen. Das Mittelalter scheint gerade auf Frauen einladender zu wirken. Man finde, erzählen beide, in ihren Reihen Technik-Freaks, die alte Funkgeräte wieder zum Laufen brächten, Mechaniker, die ein Vermögen für alte Militärfahrzeuge ausgäben und fast jeden Motor wieder zum Schnurren brächten, Hobbyschneider, die genau wüssten, wo man noch heute den korrekt gewebten und gefärbten Stoff zum Ausbessern der alten Uniformen findet, oder Gärtner, die altes Gemüse für eine authentische Küche zögen.

Findet ein Event statt – egal, ob mit Publikum oder etwa zum Testen der neuen Funkanlage –, werden die Behörden informiert und Bewilligungen eingeholt. «Nicht zu melden, dass eine Gruppe in Militäruniformen durchmarschiert, vielleicht sogar alte Militärjeeps gefahren werden – das wäre höchst unprofessionell», sagt Kaeser.

Wenn am Abend nach einem Reenactment die Besucher nach Hause gehen, behalten die Darsteller ihre Uniformen an. Aus dem Reenactment wird damit Living History: «Wir kochen wie damals, sitzen am Lagerfeuer und schlafen später in den originalen Militärzelten auf originalen Feldbetten. Erleben also gemeinsam den alten Alltag», sagt Honauer. Ihr Mobiltelefon nehmen viele Reenactors für Notfälle zwar mit an die inszenierte Front, es bleibe aber in der Tasche. Dadurch fühlen sich die Tage in der Vergangenheit umso erholsamer an. «Wenn ich jeweils zurückkomme, ist das, als hätte ich eine Woche Ferien gehabt», sagt Honauer.

Die Uniform des Colonels

In der Gegenwart ist Kaeser Elektroinstallateur und Honauer Maler. Das verdiente Geld fliesst in neue Uniformen und originale Gegenstände aus dem Zweiten Weltkrieg – Waffen, klar, aber auch Kochgeschirr, Abzeichen, Zelte oder Schlafsäcke. Dafür geben Honauer und Kaeser viele hundert Franken aus. «Es ist definitiv kein günstiges Hobby», sagt Honauer. Er besitzt drei amerikanische Ausgangsuniformen – «alles Originale» – und so viele Felduniformen, dass er den Überblick verloren habe.

Je höher der Rang des ehemaligen Uniformträgers war, umso einfacher sei es, mehr über ihn zu erfahren. Das liebt Honauer: herauszufinden, in wessen Jackett er nun selber steckt. Seine neuste Ausgangsuniform war in dieser Hinsicht ein Volltreffer: Er hat sie einem Sammler abgekauft, der bis zum US-Verteidigungsministerium ging, um Informationen über den ehemaligen Besitzer herauszufinden. Honauer kennt nun den Namen und die Karriere des Mannes: Ein Colonel war er, und seinen letzten Kampf focht er in Vietnam.

Kaeser war kürzlich für ein Reenactment im Elsass. Alle paar Jahre reist er zum D-Day in die Normandie, wo Reenactors aus der ganzen Welt gemeinsam den Anfang vom Ende Nazi-Deutschlands nachstellen. Man belagert und besiegt einander. Dass auch echte Veteranen zuschauen, bewege ihn jedes Mal.

Re-enactment held on Normandy beach on 80th anniversary of D-Day

Die Distanzierungsvereinbarung

Im Zweiten Weltkrieg kämpften aber bekanntlich nicht nur England und die USA. «Will man den Zweiten Weltkrieg historisch akkurat nachstellen, gehört die Wehrmacht dazu», sagt Honauer. Grundsätzlich verpönt sei es in der Szene darum nicht, so aufzutreten. Dennoch sagt Kaeser über sich und seine ARS-Sektion: «Uniformen mit dem Pleitegeier mögen wir eigentlich nicht.»

2007 unterschrieben verschiedene internationale Reenactment-Gruppen, darunter auch Kaesers ARS, eine Distanzierungsvereinbarung: Um zu verhindern, dass NS-Gedankengut verbreitet werde, beschränke man die Darstellung des deutschen Militärs im Zweiten Weltkrieg «auf die Wehrmachtstruppenteile, die nicht Teil des Parteigefüges der NSDAP waren, namentlich Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine. Eine Darstellung NS-parteibezogener Organisationen wird von unseren Gruppen weder betrieben noch unterstützt oder ermutigt.»

Weiter steht in der Erklärung, dass man an Veranstaltungen, die diese Regeln nicht befolgten, gar nicht erst teilnehme. Honauer recherchiert darum bei jedem Anlass die Veranstalter, gerade wenn es Deutsche seien. Er habe keine Lust, mitten in einer rechtsextremen Gruppe zu landen. Obwohl das Risiko eher klein sei.

Auch wegen der Vereinbarung, die manche Reenactors unterschrieben haben und andere stillschweigend befolgen, finden Honauer und Kaeser es umso problematischer, dass die Wehrmacht-Wanderer aus dem Berner Oberland sich «Project Edelweiss» nennen, angelehnt an Hitlers Alpentruppe, die sich vieler Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat.

Eine «saudumme Idee»

Insgesamt, sagt Honauer, sei der ganze Auftritt auf der Iffigenalp «eine saudumme Idee» gewesen. «Gerade wenn die zur Schau gestellte Symbolik problematisch ist, muss man doch umsichtig sein.» Und Kaeser sagt, egal, was die Erklärung sei: «Man sieht den Leuten halt nicht in die Köpfe.»

Wenn Honauer bei Reenactments auf Wehrmachtssoldaten trifft, fragt er gerne direkt nach. «Ein Deutscher sagte mir, er wolle mit seinem Auftritt ein Tabu brechen: Man spreche in seiner Heimat bis heute nicht gerne über diese Zeit; aber nur, wer sich erinnere, könne Lehren aus der Geschichte ziehen.» Andere erhoffen sich durch den Uniformstoff am Körper ein Nachempfinden der Erlebnisse von Grossvätern und Urgrossvätern.

Auch Honauers deutscher Urgrossvater war im Krieg, er starb vor Stalingrad. Es käme dem Urenkel allerdings nicht in den Sinn, freiwillig dieselbe Uniform anzuziehen, die dem Urgrossvater einst aufgezwungen wurde. Aber die Faszination für den Zweiten Weltkrieg komme vielleicht schon auch von dem Bewusstsein, dass er die eigene Familiengeschichte massgeblich geformt habe.

Die Erfahrungen von Honauer und Kaeser decken sich: Viele, die Wehrmachtssoldaten darstellen, distanzieren sich explizit von nationalsozialistischem Gedankengut. Die meisten würden sich besonders tief mit der Schuld der Nationalsozialisten auseinandersetzen. Aber, sagt Honauer, er habe auch schon erlebt, dass einer am Abend nach einem Reenactment aus dem Bierzelt gelaufen sei und den Hitlergruss gemacht habe. «Vielleicht als Provokation, vielleicht aus Überzeugung.» Honauer zuckt die Schultern: «Idioten gibt es überall.»

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