Samstag, November 23

Mit den gesammelten Briefen der Basler Autorin ist erstmals zu erfassen, in welchem Ausmass die düsteren literarischen Szenarien von Adelheid Duvanel eigenen Lebensstoff verhandeln.

In einem Brief an ihre Freundin Maya Beutler schreibt die Basler Autorin Adelheid Duvanel: «Ein Künstler darf die Verbindung zur ‹Unterwelt› nicht verlieren; man darf ihn nicht daraus vertreiben. Er muss im Schrecken wohnen bleiben; dort gibt es auch Lust und Freude.» Die jetzt im Limmat-Verlag erschienenen Briefe Adelheid Duvanels machen erfahrbar, wie sehr diese Autorin dem Schrecken ausgesetzt war und daraus ihre oft finsteren und zugleich surreal komischen Erzählwelten schöpfte.

Der städtische Raum Basels, Drogenszene und Psychiatrie, ein Bekanntenkreis aus versehrten und verstörten Existenzen, Traumwandlerinnen, Drogensüchtigen, Künstlern und Kindern, das ist der Nährboden, aus dem das erzählte Figurenensemble hervorgeht. In einem Interview sagt Duvanel: «Alle meine Geschichten sind ganz wahr. [. . .] Sie sind alle mit meinem Leben verknüpft.»

Die Briefausgabe setzt im Jahr 1978 ein. Da hatte die 1936 geborene Autorin bereits einige schwere Lebenskrisen hinter sich. Schon als Jugendliche machte sie Erfahrungen mit der Psychiatrie, die 1962 geschlossene Ehe mit dem Kunstmaler Joe Duvanel war von Geldnot überschattet und zunehmend belastend, zumal er seit 1967 gleichzeitig mit einer anderen Frau zusammenlebte und mit ihr ebenfalls ein Kind hatte. Auch mit der eigenen, 1964 geborenen Tochter gab es früh Schwierigkeiten.

Doch 1979 fand Duvanel erstmals Anerkennung durch ihre Aufnahme in den deutschen Luchterhand-Verlag, wo von da an ihre sieben Erzählbände erschienen. Zur gleichen Zeit wurde die inzwischen drogenabhängige 14-jährige Tochter vom Ehemann Joe des Hauses verwiesen. Der literarische Aufstieg war mithin gekoppelt mit einem heftigen familiären Absturz. Duvanel brach darob zusammen und verbrachte die drei folgenden Jahre in der Psychiatrie. 1982 wurde die Ehe geschieden, doch bis zu Joe Duvanels Suizid 1986 blieben beide in einer quälerischen Abhängigkeit ineinander verhakt.

Das Martyrium von Mutter und Tochter

Die Briefe an die Schriftstellerin Maya Beutler und der Briefwechsel mit dem Lektor Klaus Siblewski sind Protokolle der ständig eskalierenden schlimmen Ereignisse. Das liegt vor allem an der engsten Beziehung Duvanels in ihren letzten Lebensjahren: der zu ihrer Tochter, die zur eigentlichen Lebensgefährtin wurde. Dass beide den gleichen Namen trugen, erscheint wie ein verhängnisvolles Zeichen. Viele Briefe beginnen – genau wie die Erzählungen – mit einem Eigennamen, doch hier ist es immer derselbe: Adelheid.

Tochter Adelheid bekam im Januar 1985 ein Kind, das später bei Pflegeeltern aufwuchs. Und im selben Jahr wurde bei ihr Aids diagnostiziert. Von da an begann eine Kranken- und Leidensgeschichte, in die Mutter wie Tochter gleichermassen involviert waren. Die Tochter mit einem unbändigen Lebenswillen und einer gebieterischen Dominanz über die Mutter, diese mit unendlicher Nachgiebigkeit, Schuldgefühlen und – wie zuvor schon in der Ehe – einer zuweilen das Schicksal anklagenden Opferhaltung, doch ohne den geringsten Versuch, sich aus der Co-Abhängigkeit zu lösen.

Die Briefe sprechen in einem atemlosen Rhythmus unablässig und ungefiltert alles aus, was die Autorin erlebt, fühlt und erleidet. Tochter Adelheid hat wiederholt Lungenentzündungen, hohes Fieber, «einen Pilz auf der Leber», eine «Gehirnentzündung, ist zeitweise blind», so lauten die fast täglichen Schreckensmeldungen. Die Todkranke rennt dennoch in der Stadt herum, immer auf der Suche nach weissem Pulver, dealt selber, wird bestohlen, von Dealern bedroht und von der Polizei verfolgt. Man glaubt sich zeitweise in einem Thriller.

Ständig fehlt das Geld, die Preisgelder und Stipendien Duvanels werden alsbald von den immensen Kosten der Drogenbeschaffung verschlungen. Mutter und Tochter geben sich in der Psychiatrie die Klinke in die Hand, doch der beachtliche Reigen an Psychiatern wird oft mit spöttischer Skepsis bedacht: «Mein Psychiater hat mir ein Antidepressivum verschrieben, das ‹Floxyfral› heisst. Tönt das nicht nach Hundeflocken? Es bewirkte bei mir grosse Schläfrigkeit und einen viel zu niederen Blutdruck. Ich fiel ständig in Ohnmacht wie eine eingeschnürte Dame im 19. Jahrhundert.» Gegen die furchtbare Einsamkeit nützen alle Therapien nichts: «Mein Gott, ich muss ja für die Zuwendung bezahlen! Oder besser gesagt, meine Kasse zahlt dafür . . . Psychiater sind geistige Huren.»

Das alles wird fast verwundert über so viel Unglück berichtet, bald stoisch hinnehmend, bald aufbegehrend, oft verzweifelt. Und immer schimmert der Witz der begabten Schriftstellerin durch, ihre Freude an skurrilen Kurzporträts und dramatischen Zuspitzungen. Auch freundliche Szenen kommen vor, die Briefe berichten von Liebschaften, von Freundinnen, von Schriftstellerkollegen und beruflichen Erfolgen.

Im Kampf gegen das Elend

Duvanel wehrte sich tapfer gegen das Elend ihres Lebens: «Gut, ich strample um mein Leben, ich gebe mir Mühe, nicht unterzugehen. Ich will so oft als möglich Freude empfinden – ich will nicht in Verzweiflung fallen wie in ein tiefes, finsteres Wasser, in dem ich ersaufe. Täglich kämpfe ich gegen diese Verzweiflung an.» Doch das Elend überwog. Ihm hielt Duvanel schliesslich nicht mehr stand. Im Juli 1996 starb sie im Wald an Unterkühlung und unter Medikamenteneinfluss. Tochter Adelheid überlebte sie um neun Jahre.

In all diesen Schreckensszenarien setzte Duvanel beharrlich ihr Schreiben fort. Ein durch die verheerenden Lebensumstände hochgefährdetes Schreiben und doch notwendig für das Überleben: «Manchmal denke ich, ich möchte nur noch schweigen. So wie früher. Ich war ein schweigsames Kind, ich war eine schweigsame Jugendliche und ich war eine schweigsame Erwachsene. Aber ich suchte nach Ausdrucksmöglichkeiten, schrieb und zeichnete deshalb. Man kann doch in einer so riesigen Einsamkeit nicht leben!»

Im Briefwechsel mit ihrem Lektor wird eine Autorin sichtbar, die bei aller Bescheidenheit und allem Zweifel genau weiss, was sie will und kann, die «demütig, aber hochmütig» ihre stilistische Sicherheit verteidigt. An Beutler schreibt sie: «In meinen Geschichten ist alles ‹Stil›: die sind ganz genau – aus dem Unbewussten geschöpft, aber bewusst ganz genau gebaut – da erlaube ich mir, in meinen Briefen einfach drauflos zu schwatzen. Ich bin ja ein Mensch mit einem ‹wuchernden› Gedanken- und Gefühlsleben: vielleicht deshalb muss ich meine Geschichten so ‹arrangieren›: Wie eine Blumenbinderin mache ich aus dem Wirrwarr ein ‹Gebinde›.»

Die Briefe bieten das noch ungestaltete Rohmaterial der erzählten Welt. Und an ihnen wird evident, welche ungeheure Transformation die Erzähltexte hinter sich haben: von der fassungslosen Berichterstattung zur lakonischen Verdichtung, von der täglichen Aussichtslosigkeit zu absurden Überraschungen, von der abgrundtiefen Verzweiflung der Briefe zur abgründigen Komik der Erzählungen. Die in den Briefen mitgeteilte Erfahrung des Schreckens verwandelt sich zu einer poetisch kühnen Stimme der Schweizer Literatur.

Adelheid Duvanel: Nah bei Dir. Briefe 1978–1996. Hrsg. von Angelica Baum. Limmat-Verlag, Zürich 2024. 896 S., Fr. 49.90.

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