Samantha Harvey schickt in ihrem Roman «Umlaufbahnen» sechs Menschen in den Weltraum und öffnet den Lesern die Augen für eine gefährdete Schönheit.
Endlich frei sein, endlich nichts mehr mit Katastrophen und Kriegen zu tun haben, endlich die Erde hinter sich lassen, sie allenfalls aus der Ferne betrachten. Wer hätte nicht schon einmal dieses Sehnen empfunden, wissend, dass es sich dabei um eine blosse Tagträumerei handelt? Die englische Autorin Samantha Harvey gibt sich mit solchen kleinen Fluchten nicht zufrieden. Ihr fünfter, vor kurzem mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichneter Roman «Umlaufbahnen» macht aus Wünschen Ernst und gibt sechs Menschen, sechs Astronauten, die Möglichkeit, sich neun Monate lang im wahren Wortsinn über die Erde zu erheben.
Vier Männer und zwei Frauen – die Britin Nell, der Amerikaner Shaun, der Italiener Pietro, die Japanerin Chie und die Russen Anton und Roman – verbringen ihr Leben in einer Raumstation, einer «Sardinenbüchse», die der International Space Station nachempfunden ist. Mit einer Geschwindigkeit von 28 000 Kilometern in der Stunde umkreist die «fliegende Familie» die Erde, sechzehn Mal an einem Tag, was ihr sechzehn Sonnenaufgänge und sechzehn Sonnenuntergänge beschert.
Nur diesen einen Tag schenkt Samantha Harvey ihren Figuren und ihren Lesern – vierundzwanzig Stunden irdischer Zeitrechnung, die angefüllt sind mit Aufgaben, die die Besatzung zu erledigen hat. Man analysiert Mikroben, experimentiert mit Mäusen, führt Protokolle aller Art, unternimmt Weltraumspaziergänge, hütet sich, Flüssigkeiten – auch keine Tränen – abzusondern, treibt ausgiebig Morgensport und versucht mit dem eingeschränkten Nahrungsangebot zurechtzukommen.
«Ohne Ziel» reisen die sechs durch den Orbit und blicken mit dezentem Neid auf eine von einem Milliardär zur gleichen Zeit unternommene Mondexpedition. Wie sie vor ihrer Mission lebten, ist nicht vergessen, spielt aufgrund der stereotypen, detailliert beschriebenen Tagesabläufe allerdings keine grosse Rolle mehr.
Gewiss, die Eheprobleme zu Hause bleiben im Hinterkopf präsent, und als Chie vom Tod ihrer Mutter erfährt, schmerzt sie der Gedanke, die Trauer nicht mit ihren Angehörigen teilen und an der Beerdigung teilnehmen zu können. Doch der Wunsch, ins alte Leben zurückzukehren, vermischt sich nach und nach mit dem nicht minder starken Verlangen, für immer und ewig im Weltraum, in der Enge des Raumschiffs zu verharren.
Die Welt von oben
Samantha Harvey hat einen staunenswerten, brillanten und mutigen Roman geschrieben, der mit spielerischer Leichtigkeit davon Zeugnis ablegt, was die Uraufgabe von Literatur ist: sich fremde Sphären anzueignen und an diesem Akt der Imagination teilhaben zu lassen.
Im Nachspann des Buches dankt Harvey der Nasa und der ESA «für die Fülle der zur Verfügung gestellten Informationen». Ob sich an Bord einer Raumstation wirklich alles so abspielt, wie es der Roman schildert, entzieht sich der Kenntnis der allermeisten Leserinnen und Leser – und ist völlig unerheblich, denn bereits nach wenigen Seiten zeigt es sich: Harveys Suggestionskraft ist so stark, dass jeder Handgriff, jede Gefühlsregung glaubhaft wirkt und alles eine Stimmigkeit erlangt, die uns bei der Lektüre wie selbstverständlich zu Mitreisenden in diesen Umlaufbahnen macht.
Eine andere Perspektive auf die Erde einnehmen zu können, das hat die Menschen seit je fasziniert, sei es beim Aufstieg in einer Montgolfiere, sei es bei Atlantiküberquerungen im Flugzeug. Harveys Astronauten – die beiden Russen nennen sich natürlich Kosmonauten – geniessen dieses Privileg Minute für Minute. In schnellem Wechsel überfliegen sie die Kontinente und Meere, identifizieren Bergrücken und Wüsten, lassen grenzenlose Weiten auf sich einwirken und begreifen, dass die Erde bewohnt ist, erst, wenn abends die Lichter der Städte aufleuchten.
Harveys Roman, der gar nichts von herkömmlicher Science-Fiction an sich hat, braucht keinen Plot, um in Bann zu ziehen. Allenfalls ein schwerer Taifun, der sich über den Philippinen zusammenbraut, reisst die Weltraum-Reisenden aus ihrem staunenden, ziellosen Schauen heraus. Pietro hat dort seine Flitterwochen verbracht und sorgt sich um die Fischer, die er damals kennenlernte. Werden sie dem Wirbelsturm entkommen? Eine Möglichkeit des Eingreifens ist ihm und seinen Mitstreitern verwehrt. Distanz führt jedoch nicht zur Empathielosigkeit.
Verletzbarkeit des Planeten
Die Routinen der wissenschaftlichen Aufgaben werden von dem Glück begleitet, dass die Forscher sich dem Zauber der Erde und ihrer entrückten Schönheit hingeben können. Samantha Harvey findet dafür grossartige Bilder, die heftige Emotionen spiegeln, dabei erliegt die Autorin an keiner Stelle der Gefahr, in Nature-Writing-Kitsch zu verfallen. Denn der entzückte Blick auf diesen einzigartigen blauen Planeten legt zugleich dessen Verletzbarkeit offen, er ist bestimmt von der Einsicht, dass der Mensch nie von seinem Bestreben, zu prägen und zu gestalten, ablassen wird.
Ein gefährdetes Glück schenkt der Blick aus der Raumstation und weckt das «Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen», diesen «grenzenlosen Ort», dieses «schwebende Juwel». Es ist die Ausnahmesituation der um die Erde, das «auf bizarre Weise hübsche Ding», kreisenden Astronauten, die solche Sätze möglich macht. Keinem anderen Roman würde man eine solche Versessenheit auf Schönheit, einen solchen unzweideutigen Appell an diejenigen abnehmen, die sich anschicken, die Erde «zu tyrannisieren und zu zerstören».
Dass Samantha Harvey diese literarische Quadratur des Kreises gelingt, hat mit der Intelligenz und dem Anspielungsreichtum ihres Romans zu tun. Dessen Protagonisten erinnern sich an die Momente, als unsere Wahrnehmung der Erde erstmals revolutioniert wurde, etwa an Bill Anders’ während der Apollo-8-Mission 1968 entstandenes Foto «Earthrise». Sie rufen sich die Aufnahme ins Gedächtnis, die Michael Collins nach der Mondlandung 1969 von seinen Kollegen Aldrin und Armstrong in der Landefähre und der «aufgehenden» Erde im Hintergrund machte. Man sagte von dem Foto, es schliesse alle Erdenbewohner ein, mit Ausnahme des Fotografen Collins. Ebenso präsent in den Köpfen der Astronauten sind indes auch die Gefahren ihres Tuns. Die Explosion der Raumfähre Challenger im Jahr 1986, als deren ganze Besatzung ums Leben kam, ist Harveys Figuren unvergesslich.
So ist dieser Roman voller dichter sinnlicher Eindrücke, die neue Sichtweisen eröffnen. Er reflektiert in einem Atemzug den Glauben an eine göttliche Schöpfung und die Abläufe des Urknalls, und er spielt mit Motiven der Kunst. Naheliegend ist es, an Virginia Woolfs «Die Wellen» zu denken, an einen Roman mit sechs Akteuren und einer erzählten Zeit von einem Tag.
Gleich zu Anfang erinnert Samantha Harvey an das Gemälde «Die Hoffräulein» des Spaniers Diego Velázquez. Welche Perspektiven dieses einnehme, was es zeige und nicht zeige, wurde in der Kunstgeschichte unzählige Male erörtert. Der Reiz solcher nie an ein Ende kommenden Betrachtungen liegt in Velázquez’ Bild und auf ganz andere Weise in Samantha Harveys beglückend grossartigem Roman.
Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. DTV, München 2024. 224 S., Fr. 33.90.